Neun

Leider konnte Mary nicht lange schlafen. Der Morgen brach früh herein und sie schlug die Augen auf. Verkrampft und stockstill lag sie da und überlegte, wo zum Teufel sie eigentlich war und wer da neben ihr lag. Als ihre Erinnerung zurückkehrte, ließ ihre Anspannung etwas nach. Die schäbige, vergilbte Wand, die kratzige, durchhängende Matratze, das Rattern von Karren auf der Straße unten – all das war Teil ihres neuen Lebens in Lambeth. Oder genauer gesagt des Lebens von Mark Quinn.

Neben ihr lag Rogers und schnarchte dröhnend. Er hatte sich ganz in die speckige Decke eingewickelt, die sie eigentlich teilen sollten. Mary war das nur zu recht. Sie lag still da und beobachtete, wie das schwache Licht – man konnte kaum von »Sonnenlicht« sprechen, so grau war es – heller wurde. Tief im Bauch spürte sie einen schneidenden Schmerz. Nicht Hunger, sondern das dringende Bedürfnis, Wasser zu lassen. Aber das konnte sie kaum erledigen, solange Rogers im Zimmer war. Zur Ablenkung zwang sie sich, die gestrigen Ereignisse durchzugehen.

Als Erstes dachte sie an das Schicksal von Peter Jenkins. Nach der Tracht Prügel würde er tagelang nicht richtig gehen können, und es bestand außerdem eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, dass sich seine blutigen Striemen gefährlich entzünden könnten. Doch Harkness hatte ihm seinen Tageslohn gegeben und ihn mit den dürren Worten davongeschickt, dass er schon einen Platz auf der Baustelle für ihn finden würde, sobald er sich erholt habe. Aber selbst wenn Jenkins’ Wunden richtig verheilten und er zu seiner Arbeit zurückkehrte, blieb doch die Frage, wie er bis dahin über die Runden kommen sollte. Ohne Lohn, ohne Arznei. Es war skandalös. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, zu versuchen, ihm zu helfen, wenn der abstinenzwütige, Klischees verbreitende, fromme Harkness sonst nichts tat. Sie würde heute mit der Agentur in Verbindung treten und Jenkins’ Adresse herausfinden.

Harkness’ Pflichten gegenüber Jenkins führten zu der Frage nach seiner Beziehung zu den anderen Arbeitern. Obwohl Harkness theoretisch versuchte, eine alkoholfreie Baustelle zu leiten, konnte er einfach nicht verhindern, dass die Männer Bier oder Schnaps tranken. Während der Pausen hatten sie die Möglichkeit, zum Pub zu flitzen, oder sie konnten sich ihren eigenen Flachmann mitbringen. Das bedeutete, dass Harkness entweder sehr naiv war oder einfach nur schlau die Kosten drückte. Auf den meisten Baustellen wurde den Männern Bier als Erfrischung angeboten, bisweilen auch Schnaps, um sie bei feuchtem Wetter aufzuwärmen. Doch wenn Harkness nur Tee zur Verfügung stellte – billigen Tee und davon auch nicht mal genug –, konnte er etwas Geld sparen. Eine geniale Idee: Harkness machte einen kleinen Gewinn bei den Getränkeausgaben, und Jenkins machte einen noch kleineren Gewinn, indem er die Männer versorgte. Die Einzigen, die einen Verlust machten, waren die Arbeiter selbst.

War Harkness der Typ für so etwas? Schwer zu sagen. Abgesehen von seinem unglückseligen Muskelzucken sah er wie jeder andere englische Gentleman mittleren Alters aus mit seinem säuberlich gestutzten Bart und der beginnenden Glatze. Sein Gesicht war weder gütig noch streng und seine wohlgenährten Wangen standen im Gegensatz zu seinen besorgten Stirnfalten und dem Zucken unter dem linken Auge. Also war es gleichermaßen wahrscheinlich und unwahrscheinlich. Abgesehen davon war es im eigentlichen Sinne nicht ungesetzlich, Tee statt Bier anzubieten. Der Kostenplan der Baustelle ließ solche Freiheiten wohl zu.

Ihre Gedanken wanderten zu den Maurern zurück: zu Keenans Gewalttätigkeit, die Fragen bezüglich Reids Prellungen aufwarf. War Reid ein gewohnheitsmäßiger Schlägertyp? Von der Sorte, die betrunken und aggressiv wurde und Gewalt als Ventil brauchte? Oder hatte es mit seinen Prellungen mehr auf sich? Er hatte doch ganz freundlich gewirkt, verglichen mit Keenan. Reids blaues Auge bedeutete vielleicht nichts, aber sie wollte es dennoch nicht außer Acht lassen.

Von der Kirche schlug es sieben und Rogers schnarchte immer noch. Wollte der denn überhaupt nicht aufwachen? Mary blieb still liegen und lauschte den erwachenden Haushaltsgeräuschen. Knarrende Böden. Heftiges Husten. Fußtritte auf den Treppenstufen, die keine Läufer hatten. Draußen betätigte jemand einen Brunnenschwengel und füllte einen Eimer mit Wasser. Bei dem Geplätscher meldete sich ihre Blase heftig. Sollte sie es riskieren? Sie würde zu spät zur Arbeit kommen, wenn sie noch länger wartete. Vielleicht war sie sowieso schon zu spät dran. Aber was, wenn Rogers aufwachte, während sie auf dem Nachttopf saß? Eine quälende halbe Minute lang starrte sie an die Decke. Nein. Sie musste es wagen.

Gerade, als sie vorsichtig die Beine über die Bettkante schwang, ging sein lautes Schnarchen in Niesen über. Sofort legte sie sich wieder zurück, schloss die Augen und stellte sich schlafend. Rogers gähnte, nieste und gähnte wieder. Endlich spürte sie, wie er sich bewegte und aufsetzte. Er grunzte und nieste erneut. Dann zog er mit einem Stöhnen den schweren Eimer unter dem Bett hervor. Es folgte ein langes, spritzendes und zischendes Abschlagen des Wassers, bei dem ihre eigene Blase fast platzte. Mary biss die Zähne zusammen. Sie hörte, wie er seine Stiefel zuschnürte und ein paar Minuten herumstampfte, dann endlich knallte die Tür hinter ihm zu. Sie wartete noch zehn Sekunden – mehr schaffte sie nicht –, dann stürzte sie aus dem Bett und setzte sich auf den fast vollen Eimer.

Blitzartiges Waschen. Ein Schüsselchen Haferbrei. Gestreckter Galopp zum Hof des Parlamentsgebäudes. Als Mary außer Atem und schwitzend ankam, stellte sie fest, dass sie zu den Ersten auf der Baustelle gehörte. Es war seltsam, keiner sprach über den Einbruch letzte Nacht. War er noch nicht bemerkt worden? Harkness’ Büro sah ja immer so aus, als ob es durchwühlt worden sei, es war also nicht wahrscheinlich, dass ein kleineres Durcheinander bemerkt wurde. Und der Mann schien gewusst zu haben, wonach er suchte. Er hatte nur ein paar Sekunden gebraucht, bis er den Gegenstand gefunden hatte. Mary hoffte, dass das die Erklärung dafür war. Die andere – beunruhigendere – Möglichkeit war, dass die Männer nicht darüber reden wollten, solange sie in der Nähe war.

Als sie an den Schreinern vorbeikam, winkte sie einer mit gekrümmtem Zeigefinger herbei.

»Sir?«

»Schon mal Nägel grade geschlagen, Kleiner?«

»Nein, Sir.«

»Na gut. Also, du musst dir dabei Zeit lassen und nicht zu schnell machen. Sonst schlägst du dir auf den Finger und verbiegst den Nagel endgültig, und dann müsste ich dich auch schlagen.« Er kicherte über seinen kleinen Scherz, während er ihr die Technik zeigte. »Siehst du, so. Jetzt versuch du es mal.«

Mary hob den Hammer, den er ihr gegeben hatte, und versuchte seine geschickten Bewegungen nachzumachen. Das Ergebnis war zwar nicht ganz schlimm – sie hatte den Nagel nicht weiter verbogen –, aber gerade war er bei Weitem nicht. Sie zog die Brauen zusammen. »Ich werd gleich besser.«

Der Schreiner schnaubte. »Nicht, wenn du den Hammer so hältst, Junge. Was meinst du, was das ist – ’ne Bratpfanne?« Er zeigte ihr, wie man ihn richtig hielt. »Versuch’s noch mal.«

Nächster Versuch. Schon etwas besser.

»Man merkt, dass du noch nichts Ordentliches gearbeitet hast«, sagte er einigermaßen freundlich. »Hast ja Hände wie ein kleiner Prinz, echt. Versuch’s noch mal.«

Mary wurde rot. Ihre Fingernägel waren zwar schon ziemlich schmutzig, aber sie konnte nicht verbergen, dass sie keine Schwielen hatte. Diesmal ließ sie den Hammer fest heruntersausen und wie durch ein Wunder war der Nagel gerade.

»Genau. So, die da sind für dich«, sagte der Schreiner und ließ einen Lederbeutel klimpern. Etwas daran schien ihn jedoch zu stören und er schaute hinein. »Aber da fehlt ja mehr als die Hälfte! Cam! Wo sind die restlichen Nägel?«

»In dem Beutel«, rief ein untersetzter Mann.

»Den Beutel hab ich!«

»Mehr gibt’s nicht!«

Der Mann zog die Brauen zusammen. »Ist ja komisch. Ich hätt schwören können, dass da mindestens ’ne Menge für zwei Wochen drin is.« Er starrte erneut in den Lederbeutel und runzelte die Stirn. Dann reichte er Mary den Beutel mit einem Achselzucken. »Gib Laut, wenn du fertig bist – vielleicht sind die anderen Nägel bis dahin ja aufgetaucht.«

»Ja, Sir.«

Es war ein faszinierender Einblick in sogenannte »Hilfsarbeit«. Ihre Zeit war praktisch nichts wert – auf jeden Fall weniger als die Kosten für neue Nägel –, aber sie musste noch viel lernen, selbst für diese untergeordneten Tätigkeiten. Die Schreiner ließen sie ziemlich in Ruhe. Es war eine angenehme Abwechslung gegenüber gestern, und Mary wurde mal wieder daran erinnert, wie sehr Arbeitserfahrung von dem jeweiligen Arbeitgeber abhing. Wie musste es sein, sich die ganze Zeit so machtlos zu fühlen?

Die Schreiner arbeiteten nicht weit weg von ihr. Gelegentlich schnappte Mary Fetzen ihrer Unterhaltung auf. In der Hauptsache wollten sie Nachschub von Material voneinander und rissen Witze, während sie ihrem Tagewerk nachgingen. Irgendwann hörte sie, wie einer, der Lemmon hieß, bemerkte: »Harky ist heute Morgen ganz schön daneben.«

Sein Freund grinste. »Ist ja kein Geheimnis, warum.«

»Pscht.« Ein dritter Zimmermann deutete mit dem Kinn in Marys Richtung.

Lemmon warf ihr einen Blick zu. Sie sah sich mit besonderer Konzentration einen verbogenen Nagel an. »Glaubst du …?«

Er zuckte die Schultern. »Wer weiß.«

Die drei Männer sahen eine Weile verstohlen zu ihr hinüber, dann schüttelte Lemmon bestimmt den Kopf. »Ach was. Doch nur ein Kind.« Aber er sprach jetzt ziemlich leise.

»Vor zwei Tagen hier aufgekreuzt? Harkys Schoßhündchen? Kann seinen Arsch nicht von seinem Ellbogen unterscheiden?« Der dritte Mann sprach bewusst lauter, beugte sich vor und präsentierte den unbestreitbaren Beweis: »Und vergesst nicht – Harky hat ihn vor Keenan bewahrt, obwohl der kleine Jenkins so viel abgekriegt hat.«

»Komm schon, kein Kind sollte man so verprügeln.«

»Eben – auch Jenkins nicht, obwohl er ein neugieriger kleiner Hurensohn ist.«

Lemmon schnaubte. »Schon gut. Wofür soll Harky denn ein Schoßhündchen wollen?«

Der misstrauische Zimmermann seufzte entnervt. »Fällt euch Dösköppen denn gar nichts auf? Harky hat die Baustelle doch nicht mehr im Griff. Erst dieser Quatsch mit dem Geist. Dann Wick. Und gestern hat einer von den Glasern gesagt, dass so ein Offizieller kommt, um Harkys Arbeit zu überprüfen. Die wär nicht sauber.«

Lemmon dachte eine Weile nach. »Aber was hat das denn damit zu tun? Was kann denn so ein Lümmel für Harky tun?«

»Lauschen. Geschichten weitererzählen. Dafür sorgen, dass man gefeuert wird …« Er ließ seine Aussage provozierend in der Luft hängen.

Die drei Männer starrten Mary erneut an. Sie versuchte, so zu tun, als merke sie nichts und sei völlig in ihre Arbeit versunken. Als die Schreiner mit ihrer Tuschelei angefangen hatten, hatte sie befürchtet, dass es um ihr Geschlecht ging. Vermuteten sie womöglich, dass »Mark Quinn« doch kein zwölfjähriger Junge war? Aber als sie andeuteten, sie spioniere vielleicht für Harkness, war sie auch nicht gerade erleichtert. Sie waren einfach zu dicht an der Wahrheit.

Die Zimmerleute waren nicht die Einzigen, die ihr argwöhnisch begegneten. Das wurde klar, als der Morgen fortschritt und Mary die Runde machte und Geld für die Rum-Aktion einsammelte. Die Männer zahlten natürlich, aber sie machten nicht mehr so unbeschwerte Scherze wie gestern. Während der Teepause ließen sich die Männer von ihr bedienen, zogen sich zum Reden dann aber in kleine Gruppen zurück. Und bildete sie sich das nur ein oder waren ihre Stimmen gedämpfter als gestern? Es war nicht nur das Fehlen von Peter Jenkins, das sie verstummen ließ. Das Gefühl hatte sie in zunehmendem Maße.