Vier

Montag, 4. Juli

Unterwegs zum Westminster-Palast

Es war nur ein kurzer Weg über die Themse von ihrer neuen Unterkunft in Lambeth zur Baustelle in Westminster. Bei all ihrer Nervosität am ersten Tag ihres Einsatzes zwang sich Mary, sich die Umgebung genau anzusehen. Um sie herum schlurften Männer, Frauen und Kinder langsam zur Arbeit oder vielleicht auch nach einer Nachtschicht nach Hause. Die Pubs machten gute Geschäfte mit den Arbeitern, die ihr Frühstücksbier tranken. Ab und zu wehte ein Duft – nach frischem Brot aus einer Bäckerei, nach einer Ladung Lilien auf dem Weg zum Blumenladen – durch den beißenden Gestank der Stadt. Mary wich einem Wagen aus, der hoch mit Rinderhälften beladen war, und musste grinsen beim Anblick eines Hunderudels, das dem Wagen hoffnungsvoll folgte.

Ihr Ziel, der St. Stephen’s Turm, ragte über all dem empor. Er sollte glorreich und prächtig erscheinen, aber die Wirkung wurde dadurch getrübt, dass auf zwei der Ziffernblätter die Zeiger fehlten. Beim Überqueren der Westminster-Brücke fiel Mary auf, dass sie ganz flach atmete. Wie töricht zu glauben, dass der Gestank des Flusses dadurch erträglicher würde! Dennoch verlangsamte sie ihren Schritt und sah sich den Westminster-Palast lange an. Jedes Kind wusste, dass er der Sitz des Parlaments war, mit den Sitzungssälen für Ober- und Unterhaus. Sie hatte den Gebäudekomplex nie weiter beachtet, obwohl er so ausladend und imposant war. Mit dem Wiederaufbau war schon lange vor ihrer Geburt begonnen worden und auch nach fünfundzwanzig Jahren war das Gebäude immer noch nicht fertig.

Im Hof des Palastes rührte sich nichts. Es war noch zu früh für die Gesetzgeber und zu spät für die nächtlichen Wachleute. Der Eingang zur Baustelle lag etwas abseits; nur kein gefährliches Vermischen von Adel und Arbeitern.

Sie musste innehalten und sich ins Gedächtnis rufen, dass sie nicht sie selbst war. Auch wenn sie wie ein zwölfjähriger Junge aussah, fühlte sie sich nicht wirklich so. Die Trainingsstunde mit Felicity am gestrigen Abend – bei einem Glas Bier und einer kalten Fleischpastete auf die Hand in einem Pub – war ziemlich nützlich gewesen. Aber sie hatte ihr auch eindringlich vor Augen geführt, wie vollkommen anders die Welt der Männer war. Die Jahre in einem reinen Mädcheninternat hatten sie verändert. Hinter dem Bauzaun würden Horden von Männern und Jungen sein, die brüllten und fluchten und all das taten, was Bauarbeiter so taten, und sie würden sie prüfend beobachten und sofort merken, wenn irgendetwas nicht stimmte. Natürlich war es viel zu spät, um kehrtzumachen. Mary holte tief Luft, wischte sich die feuchten Handflächen an ihrer Hose ab und marschierte durch den schmalen Eingang auf die eigentliche Baustelle.

Sie hatte sich auf einen Schwall von Lärm vorbereitet, aber die Baustelle war eher ruhiger als die Straße. Kleine Gruppen von Männern plauderten, während sie ihr Werkzeug auspackten, oder vertilgten den letzten Bissen ihres Frühstücks.

Es schien hier nicht sonderlich geregelt zuzugehen – zumindest nicht für einen Außenstehenden. Ein kleiner Schuppen zu ihrer Rechten diente anscheinend als Büro; er enthielt zumindest einen Schreibtisch, der zentimeterhoch mit Papieren bedeckt war. Es war jedoch niemand zu sehen. Keiner schien sich um ihre Anwesenheit zu kümmern, daher ging sie gemächlich über das Gelände und sah sich einfach um.

Eine Baustelle hatte sie sich eher wie eine Mischung aus Fabrik und Ameisenhaufen vorgestellt: viele Leute, die herumwuselten und dennoch nichts taten, bis eine riesige Glocke sie zur Arbeit rief und sie ihre Plätze einnahmen. Was sie sah, wirkte dagegen eher ruhig und selbstbestimmt. Ein paar Maurer hatten bereits damit angefangen, Mörtel anzumischen, andere Bauarbeiter begaben sich langsam an ihre Arbeitsplätze. Niemand nahm von ihr Notiz, und sie hatte den Verdacht, dass das nicht an ihrer außergewöhnlich guten Verkleidung lag.

Am Südende des Baugeländes trieb sich eine Gruppe von ungefähr sechs Männern und Jungen im Schatten des Palastes herum. Als sie näher kam, stellte Mary fest, dass sie sich alle um einen Mann scharten. Er war um die Ende vierzig, hatte den üblichen Bart und Schnauzer und einen wohlgenährten Bauch. Er war außerdem der Einzige auf der Baustelle, der Kragen und Krawatte trug. Die Chance, dass es sich um den leitenden Bauingenieur, Mr Harkness, handelte, stand also gut. Die Tatsache, dass er müde und gehetzt wirkte, untermauerte ihre Vermutung.

»Ich verstehe ja«, sagte er gerade, »dass ihr im Moment knapp an Personal seid. Ich will versuchen, einen Mann zu finden, der euch diese Woche zur Hand geht, aber es liegt in deiner Verantwortung, jemand Neuen für eure Kolonne einzustellen.«

Der Mann, den er ansprach – ein großer, kräftig gebauter Kerl Mitte dreißig –, sah finster und verärgert aus. »Als ob ich das nicht weiß! Aber das braucht doch Zeit. Uns fehlt ein erfahrener Maurer, kein nichtsnutziger Lehrbursche.«

Unter Harkness’ linkem Auge zuckte ein Muskel. »Ich weiß«, sagte er beschwichtigend. »Wie ich schon sagte, ich tue mein Bestes.«

Ein Arbeiter drängte sich mit finsterem Gesicht aus der Gruppe. »›Ich tue mein Bestes‹«, äffte er Harkness nach. »Verdammter, nichtsnutziger Drecksk–« Sein Blick fiel auf Mary und funkelte zornig auf. »Was zum Teufel glotzt du so, Junge?«

Rasch wandte sie den Blick ab und gesellte sich zu den anderen. Der Mann war also ein ehemaliger Arbeitskollege von Wick. Ob sie wohl Freunde gewesen waren?

Es dauerte lange, bis Harkness jedem Bauarbeiter seine Anweisungen gegeben hatte. Als sich Mary schließlich bei ihm meldete, starrte er sie aus seinen rotgeränderten Augen an. »Wer?«

Hatte sie nicht deutlich genug gesprochen? »Mark Quinn, Sir. Ich soll heute als Lehrjunge beginnen, wenn ich bitten darf.«

Das Zucken wiederholte sich und er drückte die Hand erschöpft auf die Stelle am Auge. »Als unspezifischer Laufjunge?«

Mary versuchte, zuversichtlich zu wirken. »Ja, Sir.« Was konnte da schiefgelaufen sein? Hatte jemand vergessen, die Stelle zu organisieren? Oder sah sie – und bei der Vorstellung sackte ihr das Herz in die Hose – nicht passend aus? Ein paar Männer in der Nähe waren stehen geblieben und hatten neugierig hergesehen, sobald sie Harkness angesprochen hatte. Vielleicht ahnten sie ja etwas 

Harkness rieb sich heftig mit der Hand übers Gesicht. »Und wie alt bist du – wie war doch gleich dein Name?«

»Quinn, Sir. Ich bin zwölf.«

»Quinn. Zwölf. Und du willst Arbeit als Lehrjunge.«

»Ja, Sir.« Allmählich hielt Mary Harkness für ziemlich begriffsstutzig.

»Hm.« Er beäugte sie abschätzend. »Nett aufgesagt …«

Verdammt. Sie hatte sich so bemüht, möglichst tief und mit dem üblichen Dialekt zu sprechen, aber sie hatte die Rolle wohl von Anfang an vermasselt, indem sie das falsche Vokabular benutzt hatte. Welcher Junge sagte schon »beginnen« statt »anfangen« oder »wenn ich bitten darf« statt einfach nur »bitte«? Keine fünf Sekunden und sie hatte sich schon den ersten Patzer geleistet.

Harkness zog einen Packen ramponierter Schriftstücke aus der Innentasche seiner Jacke. »Lies vor.«

Rot vor Verlegenheit nahm Mary das Bündel und las tonlos, automatisch von oben ab. »Das Gießen der neuen Glocke –« Das Bündel wurde ihr entrissen.

»Du lieber Himmel, du kannst ja lesen.«

Natürlich konnte sie das – aber ihr wurde übel bei der Feststellung. Mary Quinn konnte fließend lesen, aber »Mark« Quinn hätte weder lesen noch schreiben können sollen; mit etwas Glück würde er seinen Namen schreiben können. Und gerade sie hätte das wissen müssen. Aber sie war noch so damit beschäftigt gewesen, sich über ihren ersten Fehler zu ärgern, dass sie gleich einen zweiten hinzugefügt hatte – womöglich einen noch größeren. Ihr Puls raste und ihre Wangen brannten. Sie war wütend auf sich selbst und hatte Panik, gleich noch einen dritten und noch schlimmeren Fehler zu machen. Was war nur mit ihr los? Kein Wunder, dass die Bauarbeiter im Umkreis herüberstarrten.

Harkness sah sie misstrauisch. »Ich frage dich nochmals: Warum meldest du dich hier als Lehrjunge?«

Es blieb keine andere Möglichkeit, als sich dumm zu stellen. »Sir?«

»Dein Versuch, mich an der Nase herumzuführen, funktioniert nicht besonders gut, Quinn.«

Er hatte recht. Aber sie wollte es trotzdem versuchen. Sie schob die Hände in die Hosentaschen und starrte zu Boden. »Ich kann sonst nichts machen, Sir. Kein Geld für ’ne Schule oder um mich in ’ne Lehrstelle einzukaufen.«

Harkness verschränkte die Arme und sah zum ersten Mal interessiert aus. »Für einen klugen Jungen wie dich?«

»Nein, Sir.«

»Keine christliche Wohltätigkeitseinrichtung, die bereit ist, dir eine Ausbildung zu zahlen?«

»Nein, Sir.«

»Hm.«

Es folgte eine lange Pause und Mary konzentrierte sich auf ihre neuen alten Stiefelspitzen. Diese Fragerei nach persönlichen Dingen würde sie nicht lange durchstehen. Das Letzte, was sie wollte, war ein gutherziger Arbeitgeber, der ihre Geschichte erfahren wollte. Schließlich blickte sie auf.

»Du musst dich niemals dafür schämen, in Not zu sein, wenn du nichts dafür kannst«, sagte er ruhig.

Mary nickte leicht. »Ja, Sir.« Wohin führte dieses Gespräch?

»Was Besseres habe ich im Moment nicht für dich, Quinn.«

Mary runzelte die Stirn. »Nichts Besseres …?«

»Nichts als den Posten eines Laufbursche für dies und das. Zurzeit nicht.«

»Mehr will ich ja gar nicht, Sir«, stammelte sie in dem Versuch, ihre Rolle zu retten. »Ich brauch nur …«

Aber Harkness schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wann sich was ergibt, was deinen Fähigkeiten mehr entspricht. Tu einfach dein Bestes und bewähre dich, dann sehen wir weiter. Er wird dich ernähren.«

»Welcher Er, Mr Harkness?«

»Der Herr, Kind.«

»Ach so, klar. Der Herr.« Darauf hätte sie kommen müssen.

»Du arbeitest bei den Maurern und hilfst ihnen bei allem, was sie dir auftragen. Ihr Vorarbeiter heißt Keenan. Und du bist für den Tee zum zweiten Frühstück verantwortlich. Einer der anderen Jungen, Jenkins, zeigt dir den Ablauf. Meine Baustelle ist abstinent, Quinn, kein Alkohol. Wenn dich die Männer also losschicken, um Schnaps zu holen, lehnst du ab. Heißer Tee ist alles, was sie brauchen, um die Seele zu laben, nicht die Versuchungen aus der Kneipe.«

Mary nickte. Das mit der Seele kam ihr seltsam vor, aber sie konnte sich jetzt recht gut vorstellen, wie beliebt Harkness unter seinen Männern war.

»Und – äh – da du gebildeter bist als der übliche Laufbursche, Quinn, musst du vielleicht feststellen, dass die anderen – tja, nicht so schnell mit dir warm werden. In solch einem Augenblick denke an den Rat, Kind, die andere Wange hinzuhalten, und dass von denjenigen, welchen viel gegeben ist …« Harkness hielt erwartungsvoll inne.

»Viel erwartet wird«, murmelte Mary. Die Genugtuung in Harkness’ Blick kam ihr bekannt vor. »Darf ich gehen, Sir?«

Das Zucken wieder. »Ja, ja, lauf schon los.«

Sie war nur zu erleichtert zu entkommen. Drei Minuten und zwei riesige Patzer. Wenn das so weiterging, würde sie keine Stunde durchhalten. Und das, obwohl ihr die Rolle eines armen Arbeiterkindes ja nicht fremd war.

Diese Erkenntnis war ein tiefer und unerwünschter Schock.