Sie ging in westliche Richtung. Achtlos und blindlings, ohne auf den Weg zu achten und ohne die Geschehnisse und Gerüche um sich herum wahrzunehmen. Ab und zu, wenn der Tränenschleier ihr ganz die Sicht zu nehmen drohte, wischte sie sich mit den Handschuhen die Augen. Sie brauchte ein Taschentuch. Nie hatte sie ein Taschentuch, wenn sie eines brauchte.
Irgendwann bemerkte sie, dass jemand neben ihr lief. Ein blonder Mann – tabakfarbener Anzug, ziemlich vernachlässigt – war zu ihrer Rechten und hielt ihr ein großes weißes Stück Leinen hin. Sie blieb stehen und schluckte. »Octavius Jones.«
Er machte eine übertriebene Verbeugung. »Miss Quinn. Kann ich irgendwie zu Diensten sein? Es bereitet mir Kummer, eine Dame derart betrübt zu sehen.«
»Ach ja? Sie sehen davon doch sicher eine ganze Menge, da, wo Sie arbeiten.«
»Da arbeiten Sie doch auch – oder?«, fragte er und seine wachen Augen straften seinen beiläufigen Ton Lügen.
»Vielleicht bin ich nicht geeignet dafür.«
»Aber Sie weinen sich doch wohl nicht die Augen aus, weil Sie ihre Stelle als Mark Quinn verloren haben?«
»Nein«, räumte sie ein und ging weiter. »Sicher nicht.«
»Wollen Sie darüber reden?«
»Auf keinen Fall. Ich stelle fest, dass Sie Ihr Wort gründlich gebrochen haben, was die Veröffentlichung angeht.« Die Geschichte von Harkness’ ruhmlosem Ende war am Montag bereits der Aufmacher im Eye – acht Seiten »Exklusivbericht«.
»Das kann man nun wirklich nicht sagen«, wehrte er sich. »Die Umstände waren ja ganz andere. Sie hatten nicht angedeutet, dass Harkness an dem Abend zu Tode kommen würde.«
»Nein.« Mary verlangsamte ihren Schritt und dachte wieder an James. Sie hatte gar nicht gefragt, wie er mit Harkness’ grausigem Tod zurechtgekommen war.
»Kopf hoch«, sagte Jones und hob ihr Kinn mit einem frechen Lächeln an. »Wer immer er ist, er ist es nicht wert.«
»Rühren Sie mich nicht an«, fuhr Mary ihn an. »Sie haben ja keinen Schimmer, warum ich so niedergeschlagen bin.«
»Ach, es ist doch fast immer das Gleiche: Herzensangelegenheit, schreckliches Missverständnis, das alles auf immer verändert«, sagte er schlagfertig. »Was Sie tun müssen, ist, nach vorne zu schauen. Denken Sie an das, was vor Ihnen liegt!«
Sie putzte sich die Nase. In Gegenwart eines so dreisten Spinners konnte man sich nicht mal in Ruhe unglücklich fühlen.
»Recht so. Sie sind doch eine kluge, energische junge Frau. Es gibt viel zu sehen und zu tun. So, hier muss ich abbiegen.« Er deutete in eine Straße. »Bis dann erst mal, Miss Quinn. Wir sehen uns sicher bald wieder.«
»Das bezweifle ich.«
Er drehte sich noch einmal um und schenkte ihr sein charmantestes schiefes Grinsen. »Ach, ich nicht. Nicht eine Minute.«
Dann verschwand er in der Menge. Es war ein Trick, und sie fragte sich, ob er tatsächlich nur der Schmierenjournalist war, wie er behauptete. Er war doch eigentlich viel zu gewitzt und verständig. Das wollte sie unbedingt herausfinden, falls sie sich noch mal begegneten. Was bestimmt nicht der Fall sein würde, trotz seiner selbstgefälligen Sicherheit. Sie konnte solche Klugscheißer mit wachem Blick, die nur redeten und nie zuhörten, nicht leiden und Jones war da keine Ausnahme.
Die Verärgerung hatte ihr einen Schub versetzt und sie nahm ihren üblichen raschen Schritt auf. Als sie in die Nähe des Regent’s Park kam, fiel ihr ein Tropfen auf die Schulter. Ein weiterer landete auf ihrer Hutkrempe. Und dann setzte ein leichter Regen ein. Die Fußgänger suchten das Weite und die Straßenverkäufer packten ihre Ware ein. Sie hatte keinen Schirm dabei. Es war ihr egal. Sie ging weiter und nahm den kürzesten Weg nach St. John’s Wood. Es war zwar nicht das Gewitter, auf das jeder gehofft hatte, aber das würde auch noch kommen.
Alles zu seiner Zeit.