Elf

Im Cut gab es eine Bäckerei, die nicht weit entfernt von Miss Phlox’ Haus lag. Wie mit Anne Treleaven verabredet, ging Mary dort jeden Abend vorbei, um »ein einfaches Brötchen, so dunkel wie möglich« zu kaufen. Sobald sie draußen war, biss sie gierig in das Brot. Sie war zurzeit ständig hungrig. Aber heute fand sie in dem weichen Inneren des Brötchens ein Papierkügelchen, so groß wie eine Erbse. Darauf stand eine Adresse in Bermondsey, zusammen mit einer knappen Wegbeschreibung. Es war oft schwierig, sich im Gelände der Docks zurechtzufinden, denn dort gab es keine Straßenschilder. Mary brauchte nur einen Augenblick, um sich die Strecke zu merken. Dann warf sie den Zettel in eine besonders große Pfütze, wo er auch prompt von den Rädern eines Leiterwagens zermalmt wurde.

In London ging es abends zu wie auf einem Bahnhof. Tausende von Menschen hatten ihr Tagewerk erledigt und strömten jetzt vom Herzen der Stadt in die Vororte: Büroschreiber in schäbigen Anzügen, die über die Brücken schlurften, erschöpft aussehende Markthändler, die den Rest ihrer Ware hinter sich herzogen, Handwerker mit Werkzeugtaschen auf dem Rücken. Und doch gab es auch einige, die gegen den Strom unterwegs waren. Schon erschienen neue Verkäufer, um an Straßenständen Kaffee anzubieten, um späte Markttische aufzubauen, wo die Fleisch- und Gemüsereste des Tages – und des Vortages oder aus der letzten Woche – zu niedrigen Preisen angeboten wurden; Straßenkehrer, die den Staub und die Abfälle eines langen Tages auffegten.

Für Mary war es nicht schwierig, den schäbigen Lebensmittelresten zu widerstehen. Doch um sie herum feilschten arme Menschen um welkes Gemüse, wurmstichiges Obst und bereits riechendes Fleisch, weil sie sich nichts anderes leisten konnten. Sie dachte daran, wie Jenkins am Vortag in der Teepause den Rest saurer Milch ausgetrunken hatte, und an seinen Hunger, der heute noch schlimmer sein musste, weil er nichts verdient hatte. Bei dem Gedanken schritt sie schneller aus.

Als sie an der Tower Bridge vorbeikam, schlug ihr der Gestank der Gerbereien wie eine Ohrfeige entgegen. Vergammelndes Fleisch, Ätzkalk, Tierkot – das waren die ständigen Ausdünstungen von Bermondsey. Dagegen roch sogar die Themse noch passabel. Jenkins’ Adresse entpuppte sich als verrußtes kleines Reihenhaus, das keine hundert Meter weit weg von einer der größeren Gerbereien stand. Vor den niedrigen Häusern hatte sich nahe der Gosse eine große Schar Kinder zusammengefunden. Einige stritten miteinander, aber ansonsten wirkten sie zu teilnahmslos, um mehr zu tun, als auf der Straße zu sitzen und Mary mit glasigen, müden Augen zu beobachten.

Sie klopfte an die Haustür und wartete. Nichts. Als sie wieder klopfte, keifte eine Stimme von innen: »Was gibt’s denn, verdammt?«

»Ich möchte bitte Peter Jenkins besuchen.«

Es folgte langes Schweigen. Gerade, als Mary ihre Bitte wiederholen wollte, wurde die Tür wenige Zentimeter geöffnet, und ein Paar blutunterlaufene Augen starrte sie misstrauisch an. »Jenkins?«

»Ja, Ma’am.« Das war aufs Geratewohl; sie konnte durch den engen Spalt nicht viel sehen, aber die Stimme war eher hoch.

Die Tür wurde weiter geöffnet und Mary sah einen wilden Schopf grauer Haare und ein formloses Kleid über einem Buckel. »Jenkins is da drin«, sagte sie kurz angebunden und deutete mit dem Kinn ins Innere.

Mary musste an sich halten, um bei dem Gestank im Haus – ungewaschene Haare, Schimmel, Schweiß und Verwesung – nicht zurückzuweichen. Sie achtete darauf, wohin sie trat, und doch zermalmte sie etwas mit ihrem rechten Fuß, das quiekte. Auf der Straße war es ja schon dämmrig gewesen, aber das Haus selbst war fast ganz dunkel. Ihre Augen brauchten ein paar Minuten, um sich daran zu gewöhnen. Schließlich entdeckte sie eine rechteckige Falltür aus Holz im hinteren Teil des Raumes. Sie quietschte widerstrebend beim Öffnen. Darunter war eine klapprige Leiter, die in eine Art Keller zu führen schien.

Sie hielt inne und sah sich um. Dorthin?, wollte sie fragen, aber die Frau kümmerte sich schon nicht mehr um sie. »Hallo?«, rief sie fragend hinunter. In Schauerromanen würde die unerschrockene Heldin jetzt einen Schlag auf den Kopf bekommen und erst Stunden später, gefesselt an Händen und Füßen, im Versteck des Schurken erwachen. Mary wandte sich brüsk um, aber natürlich war keiner hinter ihr.

Von unten kam jedoch auch keine Reaktion, nur ein schwaches Rascheln. Sie hatte ein Binsenlicht in der Tasche, aber das würde ihr hier nicht viel nützen. Innerlich aufseufzend machte sie sich daran, hinabzusteigen. Nachdem sie bis hierher gekommen war, war es unsinnig, umzukehren.

Sie war schlank und leicht, aber dennoch prüfte sie erst mal jede Sprosse, ehe sie ihr volles Gewicht daraufsetzte. Nach sechs Sprossen trat sie auf Erde, nicht mehr auf Holz. Sie hielt wieder an, um sich an diese noch dunklere Umgebung zu gewöhnen. Ein kleiner, vergitterter Schacht zur Straße knapp unter der Decke war die einzige Licht- und Luftquelle hier unten.

»Hallo? Jenkins?«

Wenn sie sich nicht mucksmäuschenstill verhalten hätte, wäre ihr das leise Rascheln aus einer Ecke wohl entgangen. Aber sie hörte es und spähte hinüber, konnte jedoch so gut wie nichts erkennen. »Jenkins? Ich bin’s, Quinn.«

Schweigen.

Da das Rascheln aufgehört hatte, handelte es sich wohl nicht um Ratten. »Ich weiß, dass du mich hören kannst.«

Schließlich kam aus derselben Ecke wie eben ein gereiztes Seufzen – und eine Stimme. »Hau ab!«

Mary grinste. Eindeutig Jenkins. Mehr dem Gefühl als der Sicht nach ging sie auf die Ecke zu. Da war er. Er lag bäuchlings auf einem Strohlager und hatte einen gehetzten, wenngleich auch trotzigen Ausdruck auf dem Gesicht.

»Ich hab gesagt, hau ab! Was kreuzt du hier auf, wo dich niemand gebeten hat?«

Sie überging die Bemerkung. »Ich hab dir was mitgebracht.«

»Will ich nicht«, war die automatische Antwort.

»Warte doch, bis du es siehst.« Sie kramte in einer Tasche und zog eine kleine Handvoll Pennys hervor: das gesamte Bargeld, das Mark Quinn besaß. »Na, willst du es immer noch nicht?«, fragte sie und grinste über seinen abweisenden Blick. Er sagte nichts.

Sie legte die Münzen ordentlich aufgestapelt neben Jenkins’ Ellbogen und holte aus einer anderen Tasche ein Papiertütchen.

»Was ist das?« Sein Ton war mürrisch, aber sein Blick neugierig.

»Weidenrindenpulver.« Als er sie verständnislos ansah, erklärte sie: »Gegen Schmerzen.«

»Hm.« Jetzt folgten seine Blicke ihren Bewegungen, als sei sie eine Taschenspielerin.

Dann zog sie einen zweipfündigen Laib Brot hervor – weiß, mit goldener Kruste –, das Erlesenste, was sie hatte bekommen können.

Seine Augen wurden groß und er schnupperte beglückt.

Schließlich zog sie noch ein Fläschchen aus der Tasche und schüttelte es verführerisch. »Na, soll ich immer noch abhauen?«

»Ach, scheiß drauf.« Jenkins’ Ton war eindeutig erfreut. Das erste Mal, dass sie ihn so hörte, stellte sie überrascht fest. Nicht mal auf der Baustelle, bei der Arbeit, hatte er jemals so fröhlich geklungen. Oder so jungenhaft.

Sie öffnete das Tütchen und sah zu, wie er das bittere Pulver ohne das Gesicht zu verziehen hinunterschluckte. Dann nahm er einen Schluck Rum und ließ ein zufriedenes »Huu-aaah« vernehmen.

Stumm schnitt sie mit ihrem Taschenmesser ein paar dicke Scheiben von dem Brotlaib ab. Als er kaute und alle paar Bissen einen Schluck Rum dazu nahm, stieß sie den Stapel Pennys mit der Schuhspitze an. »Brauchst du sonst noch was? Ich kann es für dich besorgen.«

Das wirkte zwar verführerisch auf ihn, aber dann schüttelte er bestimmt den Kopf. »Nee. Ich kann dein Geld nicht nehmen.«

»Das ist dein Anteil an der Teerunde.«

»So viel hab ich auf einer Teerunde nie gekriegt.« Aber sein Blick blieb wie hypnotisiert an den Pennys hängen.

»Heute schon.« Eine freche Lüge, aber es war die beste Ausrede, die sie hatte. Hoffentlich brauchte Jenkins das Geld dringend genug, um ihr zu glauben. »Bin mit Reid gegangen – er hat für Wicks Witwe gesammelt –, und die Männer haben was springen lassen, für ihn und für mich.«

»Hmm.«

»So ganz recht war es den Männern aber nicht, dass Reid gesammelt hat.«

»Für Wick, meinst du. Nein – der war ein echter Scheißkerl, der Typ. Ich wette, die Glaser haben nichts gegeben.«

»Genau – woher weißt du?«

Jenkins verzog das Gesicht. »Weiß ich halt. Wick und Keenan – denen will keiner was geben, weil, die lassen sich immer gerne schmieren.«

Interessant. »Wie meinst du das?«

Jenkins warf ihr nur einen scharfen Blick zu. »Musst halt hinschauen, dann siehst du es.« Mehr wollte er zu dem Thema nicht sagen.

Marys Augen hatten sich inzwischen an den fast stockfinsteren Keller gewöhnt und sie konnte einige Umrisse erkennen. Es war ein kleiner Raum mit niedriger Decke und gestampftem Erdboden. Es gab weder Möbel noch eine Feuerstelle, keinen Platz zum Essen und natürlich auch keinen zum Waschen. Nur ein paar Gegenstände deuteten an, dass hier jemand zu wohnen versuchte: zwei kleine Stapel Strohmatten und Lumpen, die wohl Bettdecken waren; ein zerbeulter Eimer ohne Griff; ein Kerzenstummel.

Sie versuchte, das Mitleid in ihrem Blick zu verbergen. Jenkins’ Hintern war offensichtlich schlimm aufgeplatzt und musste eigentlich behandelt werden, und er trug immer noch dieselben Klamotten, in denen sie ihn zuletzt gesehen hatte. Wahrscheinlich die einzigen Sachen, die er besaß. Bei dem Dreck und der Armut, in der er lebte, war es fast ein Wunder, dass er noch keine fiebrige Wundinfektion bekommen hatte.

»Wer wohnt hier sonst noch?«, fragte sie.

Eine Pause. Dann: »Mein Dad und die Kleinen.«

Keine Mutter, was nicht ungewöhnlich war. »Kleine Brüder?«

»Schwestern. So klein auch nicht mehr. Nächstes Jahr ist Jenny vielleicht alt genug zum Arbeiten.«

Alt genug zum Arbeiten war ein dehnbarer Begriff. Die Armut, die bei Jenkins herrschte, bedeutete, dass Jenny fünf oder höchstens sechs war. »Was macht dein Vater?«

»Was geht dich das an?«

»Nichts. Ich wollte nur – du hast doch gesagt, dass er Bauarbeiter ist, nicht? Dass du so die Stelle gekriegt hast.«

»Geht dich nichts an.«

»Na gut«, sagte sie freundlich. Es klang, als wolle er sie loswerden. »Ich komm in ein paar Tagen wieder und schau nach dir, wenn du willst.«

Jenkins konnte seinen Blick nicht von den Pennys lösen und er zuckte schroff mit den Schultern. »Wie du willst.«

Sie stand auf und schlug sich prompt den Kopf an der Decke an. Wenn sie, eine ziemlich kleine Frau, zu groß war für den Keller, wie zum Teufel sollte ein Mann wie der alte Jenkins hier leben können? Und warum wollte sein Sohn nicht über ihn sprechen? »Na gut. Bis dann.«

Jenkins grunzte nur. Aber als sie die wackelige Leiter erklomm, hörte sie ihn etwas sagen. »Quinn.«

Sie blieb mit der Hand auf der obersten Sprosse stehen. Sie wollte so schnell wie möglich aus diesem muffigen Loch. »Ja?«

Er stupste den kleinen Stapel Münzen an, als müsse er sich vergewissern, dass sie wirklich da waren. Er schien es nicht leicht zu finden, Mary direkt anzusehen. »Danke.«

Sie nickte kurz und versuchte zu lächeln, aber auf einmal war ihr alles zu viel: der Keller, der Gestank; das schlimme Elend um sie herum. Sie kletterte hinauf und lief schnell aus dem Haus, wobei sie die bucklige Frau, die sie hereingelassen hatte, fast umrannte. Sie lief an den Kindern vorbei, die sie mit eulenhaften, verschwiemelten Augen ansahen – betäubt von einer Mischung aus Hunger und Mohn wahrscheinlich. Sie rannte, bis sie wieder in Lambeth war.

In der Nähe der Coral Street torkelte sie in eine kleine Seitengasse und übergab sich. Brot, Bier, das zusätzliche Brötchen – ihr ganzes Mahl kam wieder hoch. Aber auch als ihr Magen entleert war, musste sie weiter würgen, in krampfhaften Stößen, die sie schüttelten und nach Atem ringen ließen. Sie schmeckte etwas Salziges auf den Lippen und merkte, dass sie weinte. Weswegen? Nicht nur um Peter Jenkins. Oder um die anderen, die sie in seiner Straße gesehen hatte. Es war absurd. Kindisch, schwächlich. Aber sie konnte eine ganze Weile nicht aufhören.

Als sie sich schließlich beruhigte, war sie wie ausgepumpt: ohne Tränen und mit hohlem Magen. Ihr war kalt. Sie zitterte vor Erschöpfung. Und sie war immer noch in der Gasse in Lambeth, in den Kleidern von Mark Quinn. Sie schluckte den bitteren Geschmack in ihrem Mund hinunter und fragte sich, was das bedeutete. Dann machte sie sich zur Coral Street auf und wappnete sich für das, was dort auf sie wartete. Rogers, das klumpige Bett, der unterbrochene Nachtschlaf. Sie dachte an ihr Leben als Mary Quinn – ihr eigenes Zimmer, ihr Zuhause in der Akademie. Das gab es schließlich auch noch. Es gab Mary Quinn noch. Sie konnte sofort in die Agentur zurückkehren, oder auch morgen, oder aber erst nach Abschluss dieses Falles. Und diese Gewissheit reichte ihr schon irgendwie – für diesen Abend zumindest.