Sechs

Bisschen rutschig hier draußen«, sagte der Kutscher, als er die Trittstufen der Kutsche herunterklappte. Er hielt den Arm hoch, wie er es bei einer Dame getan hätte.

Die Stiefel, die aus dem Inneren auftauchten, waren eindeutig die eines Mannes, genauso wie die Hand, die ihn wegscheuchte. »Ich bin bestens in der Lage, drei Stufen ohne Hilfe zu überwinden, Barker.« Wie zum Beweis stieg er rasch hinunter und schlug die Tür der Kutsche selbst zu. Er war keineswegs alt – sein Haar war dunkel, ohne graue Fäden, und seine Gesichtshaut glatt. Dennoch bewegte er sich nicht wie ein junger Mann. Sein Gang hatte etwas Steifes.

Barker ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sehr wohl, Sir.«

Der Herr ließ den Blick über die Baustelle gleiten. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. »Du kannst fahren; ich nehme eine Droschke, wenn ich fertig bin.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, dann warte ich. Könnte schwierig sein, in dieser Gegend eine Droschke zu finden.«

Schwierig, vor dem verdammten Parlamentsgebäude eine Droschke zu finden? Unwillig fuhr sein Kopf zu dem Kutscher herum. »Hat George dir aufgetragen zu warten?«

Barker hatte nicht mal den Anstand, verlegen zu gucken. »Ja, Sir.«

Er seufzte. Es hatte keinen Sinn, hier eine Szene zu machen. Aber sobald er seinen verdammten, herrschsüchtigen Bruder, der sich wie seine Gouvernante aufspielte, zu fassen bekäme, wollte er ihm so den Marsch blasen, dass kein Zweifel mehr daran bestehen würde, dass er vollkommen wiederhergestellt war. »Ich brauche nicht länger als eine halbe Stunde.«

»In Ordnung, Sir.«

Der junge Mann, der so alt wirkte, stand auf dem Gehweg und nahm in sich auf, was er sah. Es war seltsam, wieder auf einer englischen Baustelle zu sein. Die Arbeiter wirkten in dem dunstigen Londoner Tageslicht blass und verhärmt. Es war ein kalkiges Licht, ein Licht, das alles, was es berührte, mit Grau übergoss. Trotz der Vorfälle in Indien merkte er, wie er sich plötzlich nach dem intensiven tropischen Sonnenschein sehnte, der die Dinge funkeln und alle Farben aufleuchten ließ. Das Wort »strahlend« hatte er erst so richtig verstanden, als er in den Fernen Osten gekommen war.

Er zitterte unwillkürlich, dann warf er einen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob Barker es gemerkt hatte. London war nicht nur grau und rußig, es war auch feucht. Obwohl er das George gegenüber nie zugeben würde, fror er mittlerweile ständig, selbst in seinen Winterkleidern. Aber egal. Er richtete sich auf, betrat mit festen und gleichmäßigen Schritten die Baustellen und klopfte zweimal an den Türrahmen des klapprigen Schuppens mit dem Büro.

»James Easton! Mein lieber Junge!« Philip Harkness sprang vom Stuhl auf und schüttelte ihm begeistert die Hand. »Wie ungeheuer erfreulich, Sie wieder mal zu sehen. Wie lange ist es jetzt her?« Er sprach sehr laut, wie es Leute bisweilen mit älteren Menschen taten.

James wusste, dass er sich ziemlich verändert hatte, seit er Harkness zuletzt gesehen hatte, aber der mitleidige Blick des Mannes war doch ziemlich niederschmetternd. »Hallo, Harkness. Tja, ein bisschen mehr als zwei Jahre.«

»Richtig, richtig – wenn ich mich recht erinnere, waren Sie doch bis vor Kurzem mit einem Projekt in Fernost beschäftigt!«

So ein heuchlerisches Gerede! Der Mann wusste nur zu gut, weswegen er nach Indien gefahren und warum er nach England zurückgekehrt war. Das war wahrscheinlich der Grund, warum ihn Harkness aufgefordert hatte, mal vorbeizukommen; alle wollten seine Geschichte aus erster Hand hören. »Ich war ein knappes Jahr dort.«

»Dann haben Sie wohl genug gehabt, was?«

Darauf ging er nicht ein. »Ich habe meine Aufgabe dort erledigt.«

»Habe von dem Malaria-Fieber gehört. So ein Pech, alter Knabe – diese gemeine sumpfige Luft dort, war es das?«

»Ich weiß nicht so genau. Aber es geht mir wieder ganz gut – genauer gesagt, ich bin wieder voll hergestellt.« Er schwieg kurz. »Sie sehen ganz so aus, äh, wie das blühende Leben.« Seit James ihn zuletzt gesehen hatte, war Harkness kahl geworden und richtig dick. Nicht wie ein rosiger, gut genährter Landedelmann, sondern eher teigig aufgedunsen. Seine Wangen waren aufgeblasen und ein Doppelkinn hing über seinem gestärkten Kragen. Sein Teint war so grau wie der Himmel über London. Stress, vermutete James, von dieser verfluchten Arbeit. Das gelegentliche Zucken unter dem Auge mochte die gleiche Ursache haben.

Harkness lachte übertrieben herzlich und schob ihm den einzigen Stuhl hin. »Setzen Sie sich doch, mein Guter. Sie sehen ein bisschen blass aus, falls ich das anmerken darf.«

Er durfte nicht. »Mir geht’s gut, danke. Ich lehne mich an den Schreibtisch.« Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, den alten Freund seines Vaters aufzusuchen. In früheren Jahren war Philip Harkness regelmäßig im Haus der Eastons zu Besuch gewesen. Aber seit dem Tod ihres Vaters hatten James und George den Kontakt zu ihm etwas verloren. Heute kam ihm Harkness vor, als ob er sich unbehaglich fühlte; er war ganz anders als der freundliche, kompetente Mann, an den sich James aus seiner Kindheit erinnerte.

»Und wie geht es Ihrem lieben Bruder?«

Tastend steuerten sie durch die fehlenden Jahre: James’ Ausbildung und Lehre, vergangene Bauprojekte, Georges Interessen, das Privatleben der Brüder. James wollte Harkness gerne zu der Baustelle befragen. Wieso hatte er die Aufgabe übernommen? Was für Herausforderungen brachte sie mit sich? Und ganz besonders spannend: Warum zum Teufel war man fünfundzwanzig Jahre im Rückstand? Sobald er die Unterhaltung diesen Fragen zuwandte, schien sich die Anspannung von Harkness zu verdoppeln. Er stotterte, wich Antworten aus und fummelte an seinem eleganten, neumodischen Füllfederhalter herum, bis seine Finger voller Tinte waren. Je mehr James nachbohrte, desto mehr wich Harkness aus, bis James ihn schließlich aus Mitleid in Ruhe ließ. Offensichtlich hing Harkness’ nervöser Zustand direkt mit dem Unglück auf der Baustelle in Zusammenhang.

James sah auf seine Uhr. Er war nicht mehr als eine Viertelstunde bei Harkness gewesen, aber es kam ihm viel länger vor. »Dann will ich Sie lieber nicht länger von der Arbeit abhalten«, murmelte er und machte einen Schritt auf die Tür zu.

Harkness sprang eifrig auf und streckte die Hand abwehrend aus. »So eilig? Ach, ich hatte gehofft, Sie zum Lunch auszuführen. In meinen Club, wissen Sie. Die bereiten dort einen ganz anständigen Braten zu und der Weinkeller ist auch nicht schlecht.«

James’ Züge erstarrten. So freundlich die Einladung auch war, er konnte sich nichts vorstellen, worauf er weniger Lust hatte. »Äh – tja, Sie haben doch sicher unglaublich viel zu tun. Eine Baustelle wie diese …«

Wieder so ein gezwungenes Lachen. »Genau darüber möchte ich ja mit Ihnen reden, mein lieber junger Mann. Über eine Baustelle wie diese!«

Wenn die Baustelle so viel Arbeit bedeutete, wie konnte der Mann daran denken, zwei Stunden Mittagspause zu machen? So eine Nachlässigkeit war untypisch für Harkness – oder zumindest für den Mann, den sein Vater so geschätzt hatte. Dieser Besuch war eindeutig ein Fehler gewesen. »Vielleicht ein anderes Mal«, erwiderte er. »Oder kommen Sie doch mal zu uns zum Abendessen. George würde sich so freuen, Sie zu sehen.«

Harkness eilte zum Eingang und versperrte ihm den Weg. »Um ehrlich zu sein …«

An seinem Abgang gehindert, starrte James ihn verständnislos an.

»Ich würde gerne vorschlagen – nein, so ins Detail sollte ich nicht gehen –, ich möchte Ihnen ein Angebot machen.«

»Ein Angebot.«

Wieder so ein erzwungenes Glucksen. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich, mein Lieber, Sie müssen nicht so misstrauisch gucken.«

Sehr widerwillig ließ James sich nieder. »Was um Himmels willen meinen Sie?«

Harkness setzte ein paarmal an, doch schließlich brachte er es heraus: »Nun gut. Sie wissen von dem schrecklichen Unfall, der letzte Woche passiert ist …«

James nickte. Er war in der Times mit einem Satz erwähnt worden. »Ein Maurer ist vom Turm gestürzt. Nach Arbeitsschluss. Keine Zeugen.«

Harkness zuckte zusammen. »Äh – ja. Tragischer Unfall. Der Mann war noch jung und hatte Familie … es war grauenhaft.« Er wischte sich mit einem großen, zerknüllten Taschentuch über die Stirn. »Absolut grauenhaft.«

James wartete einige Augenblicke, doch Harkness fuhr nicht fort. »Soll es eine Art von Überprüfung oder Ermittlung geben?«, fragte er aufs Geratewohl.

Harkness verzog das Gesicht. »Sie sind schon immer ein kluger junger Kerl gewesen. Der leitende Beauftragte des Arbeitsausschusses verlangt das Gutachten eines unabhängigen Ingenieurs, was die Sicherheitsvorkehrungen auf der Baustelle angeht. Er gab mir zu verstehen, dass man mich nicht dafür verantwortlich macht«, fügte er eilig hinzu, »aber der Arbeitsausschuss möchte, dass die Angelegenheit eindeutig geklärt wird. Wenn der Mann nach Arbeitsschluss dort war und unsere Ausrüstung den Sicherheitsvorschriften entspricht … Sie verstehen, was ich meine«, endete er.

James verstand nur zu gut. Wenn sich beweisen ließ, dass der Mann durch seine eigene Leichtsinnigkeit umkam, würden Harkness und der Ausschuss von der Verantwortung dafür entlastet. Das war der Punkt, den sogar ein Kind hätte verstehen sollen. Aber James konnte auch verstehen, warum Harkness so um das Thema herumschlich. Als Verantwortlicher auf der Baustelle konnte Harkness schlecht selbst seine Unschuld beweisen. Das einzig nützliche Gutachten war das eines neutralen und qualifizierten Prüfers.

»Wen haben Sie dafür eingesetzt?«

Harkness kicherte nervös. »Mein lieber Junge, sie haben es mir überlassen, jemanden einzusetzen!«

»Aber da gibt es ja einen Interessenkonflikt! Wie könnte man ein solches Gutachten unparteiisch nennen?« James merkte, dass er aufgesprungen war und in dem winzigen Büro auf und ab lief. Sofort geriet er etwas außer Atem, was ihn sehr ärgerte.

Harkness machte ein gequältes Gesicht, und der kleine Muskel unter seinem Auge fing so heftig zu zucken an, dass er gezwungen war, die Hand daraufzudrücken. »In Ihrem Alter war ich auch noch ein Idealist.«

Und jetzt, was bist du jetzt? James unterdrückte ein spöttisches Lächeln, das wäre zu billig und zu naheliegend gewesen. Harkness sah sich wohl eindeutig als Realisten – wenn man ihn jedoch betrachtete, verriet sein Aussehen eher eine ungesunde Belastung seines Gewissens.

Nach einer Minute fing Harkness wieder an, wobei er jedes Wort sorgfältig wählte. »Der Bevollmächtigte hat klar zu verstehen gegeben, dass mich aus seiner Sicht und der des Arbeitsausschusses keine Schuld an dem Tod dieses unglücklichen Mannes trifft. Aber der Beauftragte wünscht eine Bestätigung, dass der Tod tatsächlich ein Unfall war. Ein höchst tragischer Unfall, aber eben nur ein Unfall.« Mit jedem Wort nahm Harkness’ Stimme an Überzeugung zu. »Er steht außerdem unter immensem Druck, dass sofort mit der Untersuchung begonnen wird. Es bleibt einfach nicht genug Zeit, um einen Ingenieur durch den Ausschuss einsetzen zu lassen – zu viele Sitzungen, zu viele Diskussionen, Sie verstehen. Und die Zeit drängt.«

»Der Beauftragte hat die Dinge also zugunsten der schnelleren Erledigung in Ihre Hände gelegt?« Und zugunsten eines vorhersagbaren Ergebnisses.

»Ich will nicht so tun, als ob es keine zutiefst unangenehme Aufgabe wäre. Es ist nicht ganz die richtige Vorgehensweise.«

James nickte. Dem konnte er zumindest zustimmen.

»Sie sind zu intelligent, um nicht zu begreifen, was ich will, ja, deshalb will ich geradeheraus sein: Sind Sie bereit, dieses Gutachten zu erstellen?«

Sein unmittelbarer Instinkt war, abzulehnen. Es war ein seltsames Ansinnen und eine unappetitliche Aufgabe noch dazu. Selbst wenn man die Frage der Unbefangenheit außer Acht ließ – falls er Mängel entdecken würde, würde sein Befund irgendjemandem schaden. Er holte Luft, um das zu sagen. Das kratzende Gefühl in seiner Lunge ließ ihn innehalten und dieser einzelne Atemzug erinnerte ihn sowohl an seine Malaria als auch an sein berufliches Versagen. Er war in Kalkutta ernsthaft krank geworden; war fast gestorben. Eine ähnlich brutale Lektion hatte er in Sachen Lokalpolitik gelernt; seine Arbeit wurde behindert und sein Projekt untergraben, weil ihm wichtige Geldgeber gefehlt hatten.

Er war jemand, der schnell begriff. Selbst in England – vielleicht sogar besonders in England – würde es dem Bauunternehmen Easton guttun, den leitenden Beauftragten des Arbeitsausschusses zu beeindrucken. Der Mann hatte enormen Einfluss, sowohl in seiner beruflichen Funktion als auch privat. Wenn James in Kalkutta eines gelernt hatte, dann, dass Beziehungen von größter Bedeutung waren. Vielleicht wurde er ja auch zum Realisten.

Und dennoch. Und dennoch. Er konnte Harkness’ Angebot unmöglich annehmen.

Oder doch?

Harkness lächelte erneut, das erste natürliche Lächeln, seit diese eigentliche Unterhaltung begonnen hatte. »Sie grübeln zu viel, James. Das ist ein Traumjob; einer, den Sie und Ihr Bruder gebrauchen könnten. Bedenken Sie nur: wenig Arbeit, ein kurzes Gutachten und die tiefe Dankbarkeit des Beauftragten.«

Das musste ihm der andere nicht sagen. James sah sich in dem Büro um und betrachtete die Stapel von Akten, die sich im Schrank, auf dem Schreibtisch und auf dem Boden türmten, die schmutzigen Wände und die klapprige Einrichtung. Wollte er diesen alten Freund der Familie wirklich unter die Lupe nehmen? Wie konnte er gegen ihn aussagen? Oder für ihn, gegen sein besseres Wissen?

Andrerseits, was für ein feiger Grund, die Arbeit abzulehnen. Wenn er die Aufgabe übernahm, dann nicht als Harkness’ Schoßhund. Er würde genau das sein, was der Beauftragte verlangte: ein unabhängiger Ingenieur. Sein eigener Berufsstolz gebot ihm, unparteiisch zu sein. Aber wer würde ihm glauben, wenn die lange Familienbekanntschaft mit Harkness herauskam? Aus diesem Grund musste er den Auftrag ablehnen, so verlockend er auch war. Er würde einen anderen Weg finden, um wichtige Beziehungen zu knüpfen.

»Sie sind ein erstklassiger Bauingenieur, Easton – beide, Ihr Bruder und Sie –, und ich dachte, dass es für Ihre Zukunft von Nutzen sein könnte, den leitenden Beauftragten des Arbeitsausschusses kennenzulernen.«

Warum versuchte Harkness, ihm den Job so schmackhaft zu machen? Wie viele Kandidaten hatten bereits abgelehnt und aus welchem Grund? James wusste, dass er nicht der überragende Ingenieur seiner Generation war – noch nicht zumindest. Das Bauunternehmen Easton war eine kleine Firma, die sich noch nicht durchgesetzt hatte. Für niemanden wäre er die erste Wahl.

»Warum ich?«, fragte er langsam.

Harkness sah ihn überrascht an. »Nun, ich habe doch soeben gesagt, dass Sie ein tadelloser Ingenieur sind, erstklassig … und natürlich machen mich unsere lange Freundschaft und mein liebevolles Angedenken an Ihren Vater froh, Ihnen einen Gefallen zu tun. Sie zweifeln Ihre Fähigkeit doch nicht an, eine einfache Beurteilung der Sicherheitsvorkehrungen auf der Baustelle vorzunehmen, oder?«

»Nein«, sagte James. Er dachte fieberhaft nach. Zu fieberhaft vielleicht. Normalerweise war er nicht der zögerliche Typ, aber heute war er gleichermaßen angezogen und abgestoßen. Und dann kam ihm die Lösung. »Ich würde die Arbeit gerne annehmen, wenn ich ganz unabhängig vom Beauftragten persönlich eingesetzt würde.«

»Aber mein lieber junger Mann, das kommt doch aufs selbe heraus: Wie ich schon erwähnt habe, hat der Beauftragte die Sache ganz in meine Hände gelegt. Meine Wahl ist auch seine Wahl.« Harkness’ nachsichtiger Ton deutete an, dass er James für begriffsstutzig hielt.

»Bei allem Respekt, Sir, das ist keineswegs dasselbe.«

»Sie waren schon immer störrisch.« Harkness lächelte ihn an, wenn auch etwas gezwungen. »Aber Sie sind kein Narr. Sind Sie gewillt, die Vorteile, die der Auftrag Ihnen und Ihrem Bruder bringen wird, für eine bloße Formalität zu riskieren?«

James zog scharf die Luft ein. »Ja, Sir, das bin ich.« Der Kompromiss war zwar nicht perfekt, sagte sein nörgelndes Gewissen, aber er schmerzte weniger, als den verlockenden Auftrag rundweg abzulehnen.

Harkness sah verärgert aus. »Nun gut. Ich werde dem Beauftragten Ihre – Vorbehalte – melden. Um Ihretwillen hoffe ich, dass er sich erweichen lässt, Ihren Flausen entgegenzukommen.«

Auf dem Rückweg zur Kutsche blieb James zögernd am Tor stehen und beobachtete die Handwerker bei der Arbeit. Es war schwierig, genau zu sagen, was auf der Baustelle nicht stimmte, aber er hatte den starken Eindruck, dass im Hof des Palastes etwas nicht in Ordnung war. Viele machten sich über Instinkt und Ahnungen lustig, aber er hatte vor Jahren gelernt, sich auf seinen Instinkt zu verlassen. Dieser Auftrag – wenn er ihn denn bekäme – würde nicht einfach werden.

Er erschauerte, dann warf er kurz einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob Barker das bemerkt hatte. Genau in dem Moment rannte ein dunkelhaariger Bengel quer über den Hof. James’ Augen folgten ihm erst automatisch – dann ganz bewusst. Er runzelte die Stirn. Der Bursche kam ihm irgendwie bekannt vor. War etwas Besonders an der Art, wie er sich bewegte? Nein. Vielleicht das Profil – hatte er den Jungen schon mal gesehen? James blinzelte und schüttelte den Kopf. Unmöglich, in dieser Millionenstadt einen Zwölfjährigen unter vielen anderen zu identifizieren.

Die einzige vernünftige Erklärung war, dass der Junge etwas von Alfred Quigley an sich hatte. Seit dem Mord an seinem jungen Helfer vor mehr als einem Jahr verfolgten James die Bilder des mageren, findigen Burschen. Wahrscheinlich für immer.

Wieder schüttelte er den Kopf, um den Nebel zu vertreiben – und dann stellte er fest, dass er von Nebel umgeben war. Alfred Quigley war eine Erinnerung, die unweigerlich zu einer anderen führte; eine, bei der zu verweilen er sich nicht erlauben konnte. Während des vergangenen Jahres war es ihm gelungen, immer seltener an Mary Quinn zu denken. Aber selbst heute noch, wenn er seinen Gedanken freien Lauf ließ 

Nein. Es gab keinen Grund, ihnen nachzuhängen.

Absolut keinen.

James stieg wieder in die Kutsche, ohne Barkers hilfreiche Hand in Anspruch zu nehmen. Doch als er sich auf die gepolsterte Bank fallen ließ, fröstelte er wieder.

Instinkt.