Fünfundzwanzig

Am Sonntagmorgen hatte das Pig and Whistle etwas von einer gut besuchten Kirche: sauber, blitzblank, und alle Besucher waren zum gleichen Zweck versammelt. Die meisten Tische waren von ruhigen Dreier- oder Vierergruppen besetzt, einige Herren waren allein da, lehnten am Tresen und tranken still vor sich hin. Die Wirtin, eine rosige, vollbusige Frau mit einem Häubchen, wischte nicht vorhandene Spritzer vom Schanktisch.

Mary begrüßte sie mit dem vereinbarten Code. »Einen Schoppen für einen durstigen Jungen, bitte.«

Die Wirtin wies sie ans Ende des Schanktischs und stellte nicht nur ein Glas Bier vor sie hin, sondern gab ihr auch einen Zettel, einen Bleistiftstummel und etwas Abgeschiedenheit. Nur ein überaus neugieriger Zeitgenosse hätte mitbekommen können, wie ein kleiner, abgerissener Junge eine Nachricht schrieb, und zwar mit viel weniger Mühe, als man von so einem Kerlchen erwartete.

Für die Nachricht benutzte sie einen einfachen Code – leicht zu merken und schnell zu entschlüsseln –, der für den Unbeteiligten nach einer beliebigen Zahlenreihe aussah. Marys Botschaft war knapp: Verdächtiger H unter einer Decke mit K u. R. Noch keine Beweise gegen W. Bitte um Anweisung. Nachdem sie fertig war, trank sie aus. Ehe sie darum bitten konnte, stand ein neues Glas vor ihr, und der alte Krug wurde entfernt, zusammen mit dem Zettel. »Schön langsam trinken, Junge«, sagte die Wirtin bestimmt. »So ein gutes Bier genießt man und stürzt es nicht runter.«

Mary befolgte ihren Rat. Sie war ja bisher keine große Biertrinkerin gewesen, aber sie gewöhnte sich schnell an den bittersüßen Geschmack. Da sie weniger aß als jemals zuvor und das bei einer Arbeit, die mehr körperliche Kraft erforderte, als sie es gewohnt war, erkannte sie in ihrem täglichen Bier schnell eine Form von Nahrungsmittel. Harkness war doch nicht ganz bei Trost, seinen Arbeitern das Bier vorzuenthalten. Woher sollten sie genug Energie zum Arbeiten gewinnen?

Eine große Hand schlug ihr auf die Schulter. Da stand Octavius Jones und grinste zu ihr hinunter. In der anderen Hand hielt er einen Halbliterkrug. Er setzte sich auf Hocker neben ihr und seine schläfrigen grünen Augen waren amüsiert zusammengekniffen. Amüsiert und … forschend.

Mary versuchte ihren Schrecken unter Kontrolle zu bringen. Er hatte nicht gesehen, wie sie ihre Nachricht geschrieben hatte; darauf hatte sie sorgfältig geachtet. Er musste danach aufgetaucht sein. Trotzdem, in seinem Blick lag ein wissendes Funkeln, das ihr gar nicht gefiel. »Mr Jones«, sagte sie mit möglichst tiefer Stimme.

»Der kleine Quinn. Was für eine Überraschung, dich an diesem übel riechenden Sonntag in meiner Stammkneipe anzutreffen. Übrigens habe ich schon an dich gedacht …«

Sie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, wie es ein Junge wohl bei so einer Bemerkung tun würde. »Ich hab nichts angestellt.«

Seine Hand lag noch immer auf ihrer Schulter, und als sie ihn abschütteln wollte, nahm er sie nicht fort. Er zog eine Augenbraue hoch – etwas, das er eindeutig für eine Gelegenheit wie diese vor dem Spiegel geübt hatte. »Mir würde doch nicht im Traum einfallen, so etwas zu behaupten. Nein, nein, nein«, sagte er von oben herab, während sie den Rest ihres Bieres austrank und sich wappnete. »Noch eine Halbe für mich, Mrs Hughes, und das Gleiche für meinen jungen Freund hier. Wir gehen rüber ins Nebenzimmer.«

»Geht nicht, Sir. Ich muss los.«

»Nun bleib doch noch auf ein Glas, komm schon«, sagte er. Er sprach immer noch im beiläufigen Plauderton. Aber seine Hand auf ihrer Schulter übte jetzt Druck aus, und seine Finger gruben sich so fest ein, dass sie bestimmt blaue Flecken davontrug. »Ich muss mit dir reden, Quinn.«

»Ich hab nichts für Sie. Ich weiß nichts.«

»Unsinn. Wir haben eine Menge zu bereden.«

»Nehmen Sie Ihre Hand weg«, sagte sie laut. »Ich bin nicht von der Sorte Jungs.«

»Und ich nicht von der Sorte Gentlemen«, erwiderte Jones wie aus der Pistole geschossen und ohne sich darum zu kümmern, dass sich mehrere Köpfe nach ihnen umdrehten. »Keine Angst, Quinn. Ich bin nicht hinter sexuellen Diensten her.«

»Was wollen Sie dann?«

Er hatte den Blick immer noch nicht von ihr abgewandt. »Ich glaube«, sagte er sehr leise, »Sie würden davon profitieren, wenn Sie ein Glas mit mir trinken, Miss Quinn.«

Die Wirtin stellte Jones einen schäumenden Bierkrug hin und sah Mary scharf an. »Alles in Ordnung, junger Mann?«

Sehr langsam und zögernd nickte Mary.

Mrs Hughes sah sie noch einen Augenblick an, aber als Mary den Blick unbewegt erwiderte, zuckte sie mit den Schultern und wandte sich wieder ihren Gästen am anderen Ende des Tresens zu.

»Ich rede hier mit Ihnen«, sagte Mary leise. »Nicht im Nebenzimmer.«

»Wie Sie wollen«, erwiderte Jones leichthin. »Obwohl Sie da genauso sicher wären. Es ist nicht meine Art, die Konkurrenz zu vergewaltigen.«

Die Konkurrenz …? Mary verspürte plötzlich eine Woge der Erleichterung. Wenn es das war, was er annahm, dann hatte sie Glück. »Ich würde The Eye nicht als ernst zu nehmende Konkurrenz ansehen«, sagte sie verächtlich.

Jones grinste spöttisch. »Beleidigen Sie mich, so viel Sie wollen, aber ich habe Sie gerade mit einem Trick dazu gebracht einzugestehen, dass Sie auch Reporterin sind.«

»Sie haben mich nicht ausgetrickst«, sagte sie und nahm ihre neue Rolle rasch an. »Ich war überrascht, dass Sie die Verkleidung durchschaut haben, aber die Erklärung dafür ist ja offensichtlich. Warum sonst sollte ich Jungenkleider tragen und auf der Baustelle arbeiten?«

»Genau«, sagte Jones und setzte sich auf dem Hocker zurecht. »Ich muss zugeben, dass Sie mich an der Nase herumgeführt haben, bis ich Sie in der Kaffeestube durchs Fenster schauen sah. Damit haben Sie sich verraten.«

»Tja – Reids toller Tipp.« Sie grinste. »Armer Teufel.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wollen Sie mich etwa ausfragen, Mr Jones? Ohne Gegenleistung?«

Darüber musste er widerwillig grinsen. »Ich habe doch schon zugegeben, dass ich auf Ihre Lehrjungengeschichte reingefallen bin. Keine schlechte Tarnung, bis Sie mit Ihrem neugierigen Erwachsenenblick durch die Scheibe geschaut haben.« Er sah sie abwägend an. »Wollen Sie mir nicht Ihren richtigen Namen sagen?«

»Sie können mich weiter Quinn nennen.«

Er wirkte verletzt. »Ausflüchte sind doch wirklich so ermüdend, finden Sie nicht? Ich selbst ziehe die Wahrheit vor – das geziemt sich doch für jemand in unserem gemeinsamen Metier.«

»Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass Octavius Jones Ihr richtiger Name ist?«

Er grinste. »Hört sich unmöglich an, nicht? Aber leider ist es so: Ich bin der achte Sohn – Sohn, wohlgemerkt, nicht das achte Kind, ich habe nämlich auch noch drei Schwestern –, denn mein Vater hat nie genug kriegen können. Tertius, Quintus und Septimus waren meine drei Lieblingsbrüder, als ich klein war.«

Sie lachte. »Schöne Geschichte.«

»Sie stimmt! Meine Mutter war eine Dame von geringer Bildung und noch weniger Grips, die mit einem Rüpel namens Jones durchgebrannt ist. Dass sie uns lateinische Namen gegeben hat, war ihre einzige Rache an meinem sehr unheiligen Vater.« Er sah sie herausfordernd an.

»Sie schlagen anscheinend Ihrem Vater nach.«

»Natürlich.« Er hob sein Glas. »Nun, Miss Mark Quinn, auf die Wahrheit – oder, in meinem Fall, auf Skandal und Profit.« Ohne auf eine Reaktion von ihr zu warten, leerte er sein Glas, seufzte befriedigt auf und sagte: »Und für wen arbeiten Sie? Nicht für eine der angesehenen Zeitungen; die würden eine schwache Frau doch nicht für sich schreiben lassen.« Er tippte sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Vielleicht für eines der radikaleren Wochenblätter? Ich vermute, Sie sind eine wahre Hyäne in Röcken.«

Sie grinste. »Ich wusste gar nicht, dass Sensations-Journalisten Mary Wollstonecraft lesen.«

»Nur so viel, dass man sie veräppeln kann«, erwiderte er mit ungebrochen guter Laune. »Aber Sie versuchen mich abzulenken. Für wen schreiben Sie?«

»Für niemanden. Ich recherchiere für ein Buch.«

Er stöhnte melodramatisch auf. »Der Himmel steh uns bei sie recherchiert für ein Buch! So ein idealistisches, unrealistisches, einfältiges Unterfangen. Ein Buch, du lieber Gott! Und ich nehme an, es soll einer von diesen wohlmeinenden, authentischen Berichten über die Unterschichten und ihren Überlebenskampf werden und so weiter und so fort.« Er fing ihren Blick auf und prustete. »Ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst! Sie sind ja wirklich ein Einfaltspinsel! Wissen Sie nicht, dass sich so was nicht verkauft? Verkaufen Sie lieber die Hose, die Sie tragen. Dafür kriegen Sie mehr als für Ihr albernes Buch

»Vielleicht. Aber ich wette, dass ich eine Menge mehr über den Tod von John Wick weiß als Sie«, sagte sie kühl.

Das ließ ihn aufhorchen. »Unsinn. Was können Sie schon erfahren haben, während Sie Steine geschleppt und Ihren Rücken für einen Arbeiterlohn ruiniert haben?«

Sie zuckte die Schultern und kletterte von ihrem Hocker. »Wie schade, dass Sie das nie erfahren werden.«

»Warten Sie!« Er packte sie bei der Hand. Als er aber ihren Blick sah, ließ er sie kleinlaut los. »Sie sind so schroff«, klagte er. »Können wir das nicht freundschaftlich besprechen?«

»Nachdem Sie meine Recherchen und mein Buchprojekt lächerlich gemacht haben?« Sie ließ bewusst verletzten Stolz anklingen, nur um zu sehen, wie er reagierte.

»Und auch noch empfindlich. Mein liebes Mädchen, Sie werden nie eine gute Journalistin, wenn Sie sich kein dickes Fell zulegen.«

Mary sah den Mann abschätzend an. Obwohl er nichts als Unsinn von sich gab, war er aufgeweckt und aufmerksam. Er war ein Mann, dessen Loyalität klar war, sie galt einzig und allein seiner Person. Er war besessen von dem Skandal auf der Baustelle. Er hatte Beziehungen: Wenn sich irgendjemand auskannte, dann Jones.

Und sie war in einer Zwangslage. Das Bild von Harkness’ verstümmeltem Kalender stand ihr noch frisch vor Augen. Heute war der Stichtag, und sie wusste immer noch nicht, was, wo, wie oder warum. Wenn sie Zeit gehabt hätte, dann hätte sie auf Rat von der Agentur gewartet. Aber die hatte sie nicht. »Und warum soll ich Ihnen erzählen, was ich weiß? Ich habe hart für meine Ergebnisse gearbeitet.« Sie hielt ihm ihre geschundenen Hände als Beweis hin.

»Ach ja, die uralte Geschichte: Was ist für mich drin?« Jones beachtete ihre Hände nicht. »Wissen Sie, eine richtige wohlerzogene Dame würde fragen: ›Wie kann ich Ihnen helfen, Mr Jones?‹«

»Eine ›richtige wohlerzogene Dame‹ würde ihren Lakai rufen und Sie durch den Lieferanteneingang entfernen lassen, Mr Jones.«

Er gackerte belustigt. »Was Sie mal für ein furchterregender alter Knochen sein werden. Gut. Was kann ich Ihnen denn als Anreiz bieten, damit Sie mir alles erzählen?«

»Zunächst mal das Versprechen, vor dem ersten August oder bis ich zustimme kein Wort von dem zu veröffentlichen, was Sie hören. Zweitens, bis dahin auch nicht darüber zu sprechen. Drittens –«

»Mein liebes Kind, das sind Bedingungen, keine Anreize. Sagen Sie mir, was Sie wollen. Geld? Eine Empfehlung bei einem Verleger? Eine Tüte Bonbons?«

»Dazu wollte ich gerade kommen«, sagte Mary. Sie war jetzt an den Stil von Jones gewöhnt, und so unerträglich er auch war, sie fand ihn allmählich ganz lustig. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Aha.« Er lehnte sich gespannt vor. »Welche Art von Hilfe?«

»Ich muss Keenan und Reid finden. Heute noch.«

»Das kann ich arrangieren«, sagte er sofort. »Ist das alles?«

»Ich möchte außerdem wissen, wie Wick Ihrer Ansicht nach umgekommen ist und warum.«

Er stieß einen langen, leisen Pfiff aus. »Ich hab’s ja gewusst! Ich wusste, dass wir hinter der gleichen Sache her sind. Sie kleiner linker Teufel, warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?«

»Sie hätten mich doch davongejagt.«

»Mit Sicherheit! Aber ich hätte Ihr tollkühnes Selbstbewusstsein bewundert.«

»So wie jetzt?«

Er zuckte die Schultern und kehrte die Handflächen nach oben. »Zufälligerweise habe ich heute meine Spendierhosen an. Außerdem fehlen mir Einfälle. Das ist ein verteufeltes Problem, nicht? Wie ist dieser Schurke – denn darüber sind sich wohl alle einig, wenn auch sonst über nichts –, wie ist er umgekommen?

Es ist ja offensichtlich, dass die Maurer Harkness beklauen. Diese ganze Geschichte mit dem ›Geist vom Uhrenturm‹ – die stammt nicht ursprünglich von mir, müssen Sie wissen. Keenan hat damit angefangen, um die seltsamen nächtlichen Vorfälle zu erklären, das plötzliche Verschwinden von riesigen Mengen teurer Baumaterialien. Obwohl« – er legte den Kopf zur Seite –, »vielleicht ist ja doch was dran. Viele Männer sind bei der Feuersbrunst achtzehnhundertschlagmichtot, bei der das alte Parlamentsgebäude abgebrannt ist, umgekommen. Nur davon redet heute keiner mehr.

Aber ich schweife ab. Keenan und Reid verzapfen also das Zeug von dem Geist, aber die ganze Zeit gibt es so ein kleines Problem in ihrer Bande. Sehen Sie, Reid hat sich in Wicks Frau verliebt – dürrer kleiner Spatz, ich persönlich kann das nicht verstehen … auch wenn sie ein Kind nach dem anderen wirft – und Wick und Reid gehen sich an die Kehle. Über dies Zerwürfnis ist Keenan gar nicht froh, weil sich die Bande den Profit teilt, und wer sagt, dass nicht einer der beiden zu reden anfängt? Er legt ihnen also dringend nahe, ihren Streit zu beenden, und er ist der Typ von Mann, der das bitterernst meint. Ich würde ihm glatt zutrauen, dass er Wick vom Turm stößt, damit er den Mund hält.«

»Warum Wick und nicht Reid?«

»Vielleicht ist Wick ihm dumm gekommen. Keine Ahnung, aber der fackelt nicht lange, dieser Keenan.«

»Wäre es nicht wahrscheinlicher, dass Reid Wick geschubst hat? Wo er doch in seine Frau verliebt ist?«

Jones seufzte. »Theoretisch schon, stimmt. Aber er ist eher ein ängstlicher und gutmütiger Typ, dieser Reid. Nichts würde er sich mehr wünschen, als die Witwe zu heiraten und ihren Nachwuchs aufzuziehen und ab sofort anständig zu werden. Ihm würde es eher ähnlich sehen, dass er zwanzig Jahre auf Wicks Tod wartet und schließlich die zahnlose Witwe heiratet. Das würde er dann den Triumph der wahren Liebe nennen.«

»Hm.«

»Genau.«

»Sie stimmen also für Keenan.«

»Nicht so schnell, Quinn. Es kommt noch ein Problem dazu. Wick war von der launischen, grüblerischen Sorte – der Typ von Kerl, der eben noch dein Freund ist und dich im nächsten Moment nicht mehr kennt. Und er hat auch mit Harkness konspiriert.«

Mary versuchte ihre Überraschung nicht zu zeigen. »Was ist denn mit Harkness?«

Jones seufzte theatralisch. »Genau das weiß ich ja nicht. Vielleicht hat Wick Keenan und Reid bespitzelt. Oder er hat versucht, Harky mit ins Boot zu holen – aber das klingt eigentlich nicht logisch: Warum den Profit durch vier teilen, wenn es auch durch drei geht? Ich würde eher darauf setzen, dass Wick ein doppeltes Spiel getrieben hat, das hätte zu ihm gepasst.«

Mary überlegte schnell. Diese Theorie war keine Erklärung für Harkness’ verschwenderischen Lebensstil, aber das hatte vielleicht nichts miteinander zu tun. Vielleicht hatten sie und James zu voreilig Zusammenhänge hergestellt.

»Und jetzt kommen wir zu meiner kleinen Unterhaltung mit Reid – auf die Sie so scharf waren.« Er kicherte los bei der Erinnerung daran. »Das war ein Haufen Unsinn. Reid hat wegen irgendwas durchgedreht, das ist alles, was ich weiß; er wendet sich an mich und labert mich mit lauter Quatsch über Wick voll: zuverlässiger Familienvater, regelmäßiger Kirchgänger, bla-bla-bla. Dabei weiß doch ganz Southwark, dass er seine Frau jeden Abend grün und blau geprügelt hat und dass man ihre Schreie bis ans andere Ufer der Themse hören konnte.«

Mary schauderte. Sie konnte sich diese häusliche Szene nur zu gut vorstellen.

Jones redete unbeirrt weiter. »Aber das Interessante an Reids Geschichte ist, dass er versucht hat, Keenan anzuschwärzen. Nicht direkt allerdings, aber Keenans Name tauchte immer wieder auf, und es ist klar, dass die beiden sich nicht mehr grün sind. Die Bande hat sich endgültig überworfen, und Reid will aussteigen, und sein erster Gedanke ist, den Reporter auf seine Seite zu ziehen.« Er lächelte geschmeichelt. »Zeitungen sind heutzutage Gerichtshöfe. Sogar solche Skandalblätter wie meines.«

»Also, um seinen eigenen Namen reinzuwaschen und Keenan die Schuld zuzuschieben, will Reid in der Öffentlichkeit den Charakter von Wick aufpolieren?«

»Sieht so aus. Ziemlich plump, was?«

»Gerissen, wenn man unterstellt, dass Sie ihm geglaubt hätten.«

»Man sollte nicht zu viel unterstellen.« Er machte Mrs Hughes ein Zeichen, um nachzubestellen, dann stützte er das Kinn in die Hand und sah Mary an. »Sie sind dran.«

Sie strickte ihren Bericht in der Art von Jones’ knappem, flapsigem Stil zusammen und erzählte ihm von der Teerunde. Ihrem Besuch in Wicks Haus. Harkness’ Auftauchen bei Wicks Beisetzung. Von der Prügelei zwischen Keenan und Reid im Anschluss daran. Und vom gestrigen Verschwinden des betrunkenen Reid in Gesellschaft des nüchternen Keenan.

Jones hörte zu, ohne etwas dazu zu sagen – was sie nicht für möglich gehalten hätte. Dann spitzte er die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus. »Sie halten also Reid für den Mörder. Noch jemand, der infrage kommt? Der gute alte Harkness vielleicht?«

Mary blieb stumm.

»Vielleicht war’s ja auch Selbstmord, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum er das hätte tun sollen. Es sei denn, dass es ihm plötzlich zu viel geworden ist, mit der ganzen Brut zu Hause.« Er verzog das Gesicht vielsagend. »Wäre schon verständlich.«

»Als ob er nichts damit zu tun hätte, dass es so viele Gören sind«, sagte Mary entrüstet.

Jones zwinkerte belustigt. »Ganz ruhig, Fräulein Frauenrecht; ich hab nur Spaß gemacht. Nein, sosehr ich hasse, es zugeben zu müssen, Ihre Theorie gefällt mir besser.«

»Tja, dann«, sagte Mary, stand auf und streckte die Beine. Sie waren ganz taub von dem ungewohnten Sitzen auf einem Hocker. »Wie finde ich Keenan und Reid?« Sie beobachtete Jones, der mit höchster Konzentration in die Tiefen seines Bierkrugs starrte. »Oder haben Sie Ihren Teil der Abmachung schon vergessen?«

»Keineswegs«, sagte er eilig. »Allerdings frage ich mich, ob es nicht ein bisschen unverantwortlich ist, Sie auf die Suche nach den beiden zu schicken. Nach Keenan vor allem. Er ist nämlich total skrupellos.«

»Ich weiß.«

»Und wenn er Ihre Verkleidung durchschaut …«

»Jagen Sie mir doch keine Angst ein; das tu ich schon selbst.«

»Und Sie müssen ihn wirklich ausfindig machen? Es gibt auch so was wie professionellen Übereifer, wissen Sie? Warum trinken Sie nicht noch ein Glas mit mir, und wir warten ab, was morgen auf der Baustelle passiert? Ich wette, dass Reid ermordet wird. Seinen Leichnam findet man in der Themse. Und Keenan wird auf der Flucht festgenommen.«

»Das ist Ihr Plan? Zu wetten und abzuwarten, was passiert?«

»Sogar der liebe Gott hat am siebten Tag geruht.«

Sie lächelte. »Sagen Sie mir einfach, wo sie wohnen. Mehr will ich nicht von Ihnen.«

»Mehr nicht, was?« Er sah sie wieder von Kopf bis Fuß an, diesmal kein bisschen desinteressiert oder kritisch. »Schade eigentlich.« Aber dann gab er ihr die Adressen.