Southwark
Es war ein riesiges Mietshaus – zwei Gebäudehälften, die aneinandergesunken zu sein schienen und sich nur so gegenseitig vor dem Einstürzen bewahrten. Eine Tür war mit Brettern verbarrikadiert und keines der Fenster im Erdgeschoss war intakt. Es war weit unter dem, was sich Mary für einen Facharbeiter vorgestellt hatte, selbst für einen, der sein Geld zusammenhielt. Ihr erster wütender Gedanke war, dass Jones sie angeschwindelt hatte. Es war ja so einfach, irgendeine beliebige Adresse zu nennen. Bis sie es gemerkt hätte, hätte er das Pig and Whistle längst verlassen. Wenn er das überhaupt für nötig hielt; möglicherweise würde er über zwei Stühlen liegen und sich über ihre Leichtgläubigkeit totlachen.
Unentschlossen blieb sie einen Augenblick auf dem Trottoir stehen. Das war wohl Zeitverschwendung. Doch wohin sollte sie gehen, außer nach St. John’s Wood, um zu berichten, dass sie versagt hatte? Während sie noch vor dem baufälligen Gebäude stand, kam ein dürrer Junge aus der Tür gestolpert. Seine Bewegungen waren steif und er stieg die zwei Stufen vor der Haustür mit der Behutsamkeit eines Kranken hinunter. Mary riss die Augen auf. Das war doch nicht …
Doch als sich der Junge umdrehte, trafen sich ihre Blicke, und auf seinem sommersprossigen Gesicht zeigte sich Wiedererkennen. Grüßend winkte er herüber.
»Jenkins!« Mary eilte über die Straße. »Ich hab nach dir gesucht!«
»Hab ich nicht gewusst.« Er versuchte, mürrisch zu klingen, konnte aber ein freudiges Grinsen nicht ganz unterdrücken. »Und, wie läuft’s?«
Erleichtert darüber, Jenkins in Sicherheit zu sehen, brachte Mary die Rede auf Reid, sobald es einigermaßen möglich war. Jenkins war kein bisschen überrascht, als sie ihn erwähnte.
»Ja, das ist ein guter Kerl, der Reid. Wegen ihm wohnen wir jetzt hier.« Er fing Marys überraschten Blick auf und grinste sein altes, vielsagendes Grinsen. »Wusstest du das nicht? Er hat so ein schlechtes Gewissen gehabt, dass ich meine Stelle wegen Keenan verloren hab, dass er uns in dem Keller besucht hat. Er hat uns hier ein Zimmer organisiert.« Er deutete hinter sich.
»Wie anständig von ihm«, sagte Mary zurückhaltend. Das war ja kein allzu großes Opfer, wenn man an Reids widerrechtliches Zubrot dachte.
Aber Jenkins war ganz aus dem Häuschen. »Anständig!«, schalt er sie. »Nicht anständig – ein Geschenk des Himmels, das ist es. Der blöde Harky hat mir ja nicht mal einen zusätzlichen Tag bezahlt, dabei ist er doch ein feiner Pinkel, der in Geld schwimmt, der abstinente Heilige. Aber Reid gibt mir und den Kleinen Geld für unser tägliches Leben – von seinem Lohn. Das ist schon gewaltig mehr als anständig.«
»Für die, die es sich leisten können, ist es keine große Sache.« Diese inbrünstige Verehrung in Jenkins’ Stimme gefiel Mary gar nicht. Vor allem nicht, da diese Verehrung einem betrügerischen Arbeiter galt, der bald rausfliegen und für seine Beteiligung an den Diebstählen verurteilt werden würde.
»Wie meinst du das?« Auf einmal war Jenkins wieder voller Misstrauen, wie an dem ersten Tag ihrer Bekanntschaft. »Was willst du sagen?«
»Dass sich die Maurer schmieren lassen«, sagte Mary. »Das hast du mir schließlich selbst erzählt.«
Jenkins machte ein abfälliges Geräusch. »Das hab ich nie gesagt. Keenan, der lässt sich schmieren, ständig. Er und Wick; die haben Harky hintergangen. Aber Reid hat da nie mitgemacht. Reid wohnt jetzt hier, weil er nicht für uns und seine alte Unterkunft zahlen kann.«
Sie zögerte, denn sie war sich nicht sicher, wo Jenkins’ Heldenverehrung aufhörte und sein gesunder Menschenverstand begann. Wenn Reid nicht zu dem Betrügerring gehörte … »Wo ist er denn jetzt? Mit Keenan zusammen?«
Jenkins sah sie besorgt an. »Ich weiß nicht. Sein Zimmer ist neben unserem, und sonntags ist er immer weg, bei Mrs Wick. Aber gestern Abend ist er nicht nach Hause gekommen.«
»Gestern ist er mit Keenan losgezogen.«
»Bestimmt nicht!«
»Ich hab sie gesehen.« Als sie von Reids nervösem Abgang aus der Kneipe berichtete, sah sie, dass Jenkins’ Ausdruck immer besorgter wurde. Der Junge meinte es mit Reids untadeligem Charakter wohl tatsächlich ernst.
»Wir müssen ihn finden«, sagte Jenkins, der jetzt äußerst beunruhigt war. »Dieser Keenan – das ist ein ganz Schlimmer.«
»Das sagt jeder.«
»Du und ich«, sagte er entschlossen, »wir finden ihn schon. Ich hätte gestern ins Hare and Hounds gehen sollen.«
Mary sah ihn fragend an, aber er schien es ernst zu meinen. »Glaubst du wirklich, du hättest Reid davon abhalten können, mit Keenan abzuhauen?«
»Ich hätt’s versuchen können.«
»Was willst du jetzt machen?«
»Ihn suchen«, sagte er wild entschlossen. »Und du hilfst mir dabei.«