Fünf

Mary hielt Ausschau nach aufgeschichteten Backsteinen und Männern mit Maurerkellen. Das bot eine gute Gelegenheit, das Gelände abzuschreiten und alle Ecken auszukundschaften. Der St. Stephen’s Turm war der letzte Teil des Palastes, der noch fertiggestellt werden musste. Da die Parlamentsgebäude täglich benutzt wurden und von dicht bebauten Straßen umgeben waren, blieb wenig Platz, um Baumaterial und Ausrüstung außerhalb der Baustelle zu lagern.

Dennoch kamen Mary die Abläufe und die gesamte Baustelle furchtbar chaotisch vor. Wobei sie natürlich wenig Ahnung von dem ganzen Gewerbe hatte. Nicht zum ersten Mal, seit sie diesen Auftrag angenommen hatte, dachte sie an James Easton. Sie hätte viel für seinen Eindruck von der Baustelle und dem Auftrag gegeben. Doch das war eine rein theoretische Versuchung, denn James war in Indien, und sie würde ihn nie wiedersehen.

Schließlich entdeckte sie einen blonden Mann, der vor sich hin pfiff, während er etwas Mörtel auf ein Mörtelbrett klatschte. »’tschuldigung – Mr Keenan?« Mary versuchte, möglichst unterwürfig und zögerlich zu sprechen.

Der Mann sah auf. Seine gute Laune passte nicht zu seinem Gesicht, das Spuren einer Prügelei zeigte: ein geschwollenes Auge und eine blutunterlaufene, aufgeplatzte Lippe. »Was gibt’s?«

»Mr Harkness hat mich geschickt. Ich soll hier aushelfen.«

»Ach so. Da musst du zu Keenan – der dunkle Bursche da drüben.« Er deutete auf einen großen, untersetzten Mann, der in der Nähe stand. Er sah äußerst unwirsch aus, aber auch ohne diesen düsteren Blick hätte Mary erkannt, dass es sich um den Mann handelte, der sie vor noch nicht mal einer halben Stunde angefahren hatte. Sie seufzte tief. Klar, dass der schlecht gelaunte Maurer der Vorarbeiter war. Nun, vielleicht war das auch für Wicks Tod relevant.

Sie näherte sich ihm zögernd, denn er war eindeutig in Gedanken versunken.

»Du bist verdammt klein«, erwiderte er, nachdem sie sich vorgestellt hatte.

»Aber stärker, als ich aussehe.«

»So? Hoffen wir’s.« Irgendwie schaffte er es, seine Worte wie Drohungen klingen zu lassen. Und er war auch nicht freizügig damit: Er nickte in Richtung eines Stabs, der auf dem Boden lag. »Dann bist du heute der Muldenträger für Reid.« Dann ließ er sie stehen.

Mary zerbrach sich den Kopf, wofür dieses Gerät sein mochte: ein langer Stab, an dessen Ende sich drei hölzerne Bretter befanden, die zusammen drei Seiten einer Kiste bildeten. Vielleicht konnte sie den gut gelaunten jungen Mann um Hilfe bitten. Doch als sie sich nach ihm umsah, war er mit seinem Mörtelbrett und der Kelle verschwunden.

Als Keenan nach ein paar Minuten wiederkam, war sein Gesicht rot angelaufen vor Ärger. »Lungerst du immer noch hier rum? Hab doch gesagt, du sollst anfangen.«

»Tut mir leid. Ich weiß nicht, wie das funktioniert.«

Sein Gesicht lief noch dunkler an. »Nichtsnutziger Bengel. Noch nie ’ne Tragmulde gesehen?«

»N-nein, Sir.«

»Was machst du dann auf ’ner Baustelle?«

»Ich will lernen, Sir.«

Keenan fluchte. »Nicht mit mir als Kindermädchen, verstanden? Ich muss schließlich arbeiten.« Er sah sich kurz um, dann brüllte er: »Stubbs!«

Ein anderer ziemlich junger Mann mit lockigen roten Haaren und einer unglaublichen Anzahl von Sommersprossen tauchte auf. »Mr Keenan?«

»Zeig dem Bengel da, was was ist.«

Sobald Keenan in sicherer Entfernung war, sah Stubbs Mary an. »Was sollst du denn machen?«

»Reids Muldenträger sein«, sagte Mary, ohne eine Ahnung zu haben, was sie da tun sollte. »Trägt man was mit dem Ding da?« Sie hob den Stab mit der Kiste hoch.

Stubbs lachte, ein kurzes Schnauben. »Klar. Das hält man so.« Mit einer einzigen geschickten Bewegung schwang er sich den Stab über eine Schulter. »Die Mulde macht man mit Ziegeln voll – so klein, wie du bist, nicht mit vielen, vielleicht drei oder vier – und trägt sie seinem Maurer zu. Hast du gesagt, Reid? Der ist da drüben um die Ecke.«

»Das ist alles?« Das sah ja lächerlich einfach aus.

»Du bringst ihm, was er haben will. Damit kannst du auch Mörtel oder Kellen transportieren oder was er eben gerade braucht.«

Er reichte ihr die Tragmulde und sie hob sie probeweise an. »Nicht schlecht, aber … warum nimmt man keine Schubkarre?«

»Manchmal musst du mit der Tragmulde klettern – das Gerüst rauf, weißt du.« Er grinste, als er ihren Ausdruck sah. »Aber heute nicht – die heiklen Sachen mach ich, solange wir unterbesetzt sind.«

»Fehlt euch denn ein Muldenträger?« Mary folgte ihm zu einem großen Haufen von Backsteinen.

Stubbs sah fragend zu ihr hinunter. »Neu hier?«

Sie nickte. »Heut Morgen angefangen.«

»Ach so. Dann hast du’s wohl noch nicht gehört.« Er verstummte und sein rundes Gesicht wurde ernst. »Einer von uns, ein Maurer, ist letzte Woche gestorben. Bis Keenan einen neuen findet, springt der andere Maurergehilfe, Smith, erst mal ein. Der ist allerdings noch kein richtiger Maurer oder überhaupt was. Aber er kann eine einfache Mauer bauen und Keenan und Reid machen den Rest.«

Mary runzelte die Stirn. Die Erklärung war fast so verwirrend wie die Situation. Maurer und Muldenträger arbeiteten also in Teams, und es klang, als ob es sich hier um ein auseinandergefallenes Team von fünf Leuten handelte: drei Maurer, Wick, Keenan und Reid, unterstützt von den Muldenträgern Stubbs und Smith. Nach Wicks Tod war es Keenans Sache, einen neuen Maurer ins Team zu integrieren, und nicht die Aufgabe von Harkness, einen Maurer von außen anzuheuern. Das war so seltsam wie diese Tragmulde, aber wenn man genauer darüber nachdachte, erschien es sinnvoll. Die Männer waren aneinander gewöhnt und hatten wohl ihren eigenen eingespielten Rhythmus.

»So.« Stubbs blieb bei dem Ziegelhaufen stehen. »Jetzt halt mal still.« Mary straffte die Schultern, während Stubbs ihr Ziegel in die Mulde legte. »Gut so?«

»Einen kann ich noch.«

Er sah sie zweifelnd an. »Lieber nicht. Geh lieber sparsam um mit deinen Kräften, Junge; du musst das nämlich stundenlang machen.«

Der Rat war gut. Die Mulde selbst war nicht leicht und mit drei Backsteinen konnte Mary das Gewicht gerade noch über die Baustelle tragen. Stubbs’ Wegbeschreibung war vage, aber schon bald entdeckte sie den blonden Mann, der sich hingehockt hatte und pfeifend sein Werk betrachtete. Trotz seinem Hang zu Prügeleien schien er so gut gelaunt, wie Keenan feindselig war. Sie war dankbar, dass sie nicht direkt unter Keenan arbeiten musste.

»Drei Ziegel?«, rief er aus, als sie die Mulde absetzte.

Mary wurde rot. »’tschuldigung, Sir. Ich versuch, nächstes Mal mehr zu bringen.«

»Übernimm dich nicht«, sagte er ganz freundlich. »Aber du lieber Himmel, wenn du nicht der winzigste Muldenträger bist, den ich je gesehen habe.«

»Bin noch am Wachsen, Sir«, murmelte sie.

»Wenn du das nicht tust, dann such dir ’ne andere Arbeit«, riet er ihr. »Glaser vielleicht.« Mary nickte und verzog sich wieder zu dem Backsteinhaufen. Je weiter der Morgen fortschritt, desto geschickter wurde sie darin, die Mulde zu beladen und die Ziegel richtig zu tragen. Nach einiger Zeit – sie hätte nicht sagen können, wie lange, aber eher nach Stunden als nach Minuten – merkte sie, dass sie ein anderer Junge beobachtete. Er stand ungefähr zwanzig Meter entfernt, hatte die Hände in den Taschen und starrte sie ungeniert an.

Mary richtete sich von ihrer Arbeit auf – sie musste inzwischen Mörtelstaub und Backsteinschutt zusammenfegen – und starrte zurück. Nach einem Augenblick nickte sie ihm knapp zu. Aber statt ihr Nicken zu erwidern, starrte der Junge weiter angriffslustig herüber. Mary arbeitete weiter.

Nach ein paar Minuten meldete er sich schließlich zu Wort. »Du bist wohl Quinn.«

Mary sah wieder auf. Er war näher gekommen, aber immer noch abweisend. Sie nickte und fegte weiter.

»So nobel siehst du nun auch nicht aus.«

Es hatte sich also schon rumgesprochen. »Bin ich auch nicht.«

»Wenn du so schnieke bist, warum hast du mir dann meinen Job geklaut?«

»Was – die Arbeit hier?« Sie war aufrichtig überrascht. »Du hast doch noch einen Job, oder nicht?«

»Sei nicht so blöd – ich meine die Teerunde.«

Aha: die abstinente Teerunde. »Dann bist du wohl Jenkins.«

»Genau, und du hast mir meinen Job geklaut

Was war das nur, dass es auf Baustellen immer Schlägereien gab? Erst Reid, und dieser kleine Idiot war auch eindeutig auf Prügel aus. Sie kehrte ihm den Rücken zu und fegte weiter. Er ging um sie herum und brüllte: »Hältst du dich für zu gut, um mit mir zu reden?«

»Nein.«

»Also, was hast du dazu zu sagen?«

»Nichts.«

»Nichts außer Lügen.«

Es gab nur eine Möglichkeit, das zu beenden. Sie sah ihn direkt an und fragte: »Du nennst mich einen Lügner?«

»Einen Lügner und einen Dieb!«

Sie schnaubte verächtlich. Wenn er sich prügeln wollte, bitte. Und sie würde siegen. Ihre Jahre auf der Straße hatten sie zumindest das gelehrt. »So was Blödes …«

»Nenn mich nicht auch noch blöd!« Starr vor Wut kam er auf sie zu. Er war ein kleiner Junge, nicht größer als sie und dazu noch dürr, und er sah total lächerlich aus – ein Zwerghahn, der seinen Misthaufen verteidigte. Sie vermutete, dass er noch nie im Leben eine Prügelei gewonnen hatte. Dennoch warf er sich mit Armen, die wie Windmühlenflügel kreisten, auf sie.

Mary wich seiner Faust mit einer gelassenen Bewegung nach links aus und schlug ihm kurz aufs Kinn, sodass er taumelte.

Er konnte sich gerade noch fangen, fuhr herum und ging erneut auf sie los.

Sie sprang zur Seite und er wurde von seinem eigenen Schwung umgeworfen.

Vor Wut schrie er auf und stürzte sich erneut auf sie.

Es war kein richtiger Wettkampf. Mary verteidigte sich nur und hielt ihn auf Abstand, bis ihm die Puste ausgehen würde. Ihre Zurückhaltung machte Jenkins nur noch wütender. Er kämpfte verbissen und vehement, doch ohne jegliches Geschick, und das alles zusammen machte diese Situation, die komisch hätte wirken können, eher tragisch. Wenn Mary gewollt hätte, hätte sie ihn in einer halben Minute erledigen können. Stattdessen zog sich ihre Prügelei hin, und um sie bildete sich ein johlender Kreis von Bauarbeitern, die sich zu gleichen Teilen mit Ratschlägen und Beleidigungen einmischten.

Schließlich durchschnitt eine Stimme den Lärm. »WAS geht hier eigentlich vor? Hört sofort auf damit!«

Mary sah zu dem Neuankömmling hinüber – Harkness, der Bauleiter –, und in dem Moment konnte Jenkins ihr den einzigen Treffer versetzen, ein seltsam zufälliger Haken, sodass ihr das Blut aus der Nase spritzte. Sie rang überrascht nach Luft und war verärgert. Bei Straßenkämpfen gab es natürlich keine Regeln, aber das war trotzdem extrem hinterhältig gewesen. Sie fuhr herum, erwischte ihn an der Schulter und versetzte ihm einen heftigen Hieb, der ihre Knöchel und wahrscheinlich auch Jenkins’ Kopf schmerzen ließ.

»Aufhören, SOFORT!«

Schließlich traten zwei Männer vor und machten sich halbherzig daran, die beiden Kampfhähne zu trennen. Aber das war schon nicht mehr nötig. Mary stand unbeweglich da. Das Blut aus ihrer Nase tropfte ungehindert auf den Boden. Jenkins wand sich stumm und hielt sich den Kopf.

»Was zum Teufel ist hier los?« Harkness ließ seinen finsteren Blick von Jenkins zu Mary und wieder zurück gleiten.

Keiner der beiden sagte etwas.

»Quinn! Raus damit!«

Was konnte sie schon sagen? »Jenkins und ich haben uns geprügelt, Sir.«

Aus dem Kreis der Umstehenden kam grollendes Gelächter.

Harkness’ Stirn färbte sich rötlich. »Ihr anderen, verschwindet! Zurück an die Arbeit!« Während sich die Männer glucksend zurückzogen, wandte sich Harkness wieder Mary zu. »WARUM habt ihr euch geprügelt?«

»Er hat mich Lügner und Dieb genannt, Sir, und ich hab gesagt, er sei blöd.«

»Aha. Und wer hat mit diesen Kindereien angefangen?«

Mary warf Jenkins einen Blick zu. Er hielt sich immer noch das Gesicht und schien die Tränen zurückzuhalten. Schließlich brachte er schluchzend hervor: »Ich, Sir.«

Harkness starrte beide eine Weile an und der Muskel unter seinem Auge zuckte wiederholt. »Ich bin von euch beiden sehr enttäuscht. Ich hab was Besseres von dir erwartet, Jenkins, weil du seit zwei Jahren auf dieser Baustelle arbeitest. Und von dir ganz besonders, Quinn, weil …«

Während Harkness lamentierte, fragte sich Mary, ob er wohl nach der tieferen Ursache dieser Auseinandersetzung fragen würde. Was war an der Teerunde so besonders? Warum war Jenkins deswegen so sauer auf sie? Außerdem ärgerte sie sich, dass sie es nicht geschafft hatte, sich auf der Baustelle einzufügen. Stattdessen wäre ihre Tarnung mehrmals beinahe aufgeflogen. Und jetzt hatte sie die Aufmerksamkeit von fast jedem Mann hier auf sich gezogen, indem sie sich herumprügelte.

»… habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Sie nickte. »Ja, Sir.«

Jenkins, der sich immer noch den Kopf hielt, brummte etwas, was ebenfalls wie »Ja, Sir« klang.

»Dann schüttelt euch die Hände wie richtige Männer.«

Als Jenkins seinen Kopf losließ, um ihr die Hand hinzustrecken, sah Mary, dass er tatsächlich weinte. Undeutlich murmelte er: »Schwamm drüber!«

Sie sah in seine erschrockenen und argwöhnischen Augen. »Gleichfalls.«

»Dass mir nicht wieder eine Prügelei zwischen euch zu Ohren kommt – und kein Gezänk!«

Mary wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. Die Blutung schien nachzulassen.

»Herrschaft noch mal!« Ein großes Leinentaschentuch wurde ihr hingestreckt.

Sie nahm es. »Danke, Sir.« Es roch nach einem Parfüm, einem dezenten, aber teuren.

»Zurück an die Arbeit, ihr beiden.«

Während Harkness wieder in seinem Büro verschwand, blieben Mary und Jenkins stehen, steif und zögernd. Schließlich sagte Jenkins: »Am besten, wir fangen mal mit der Teerunde an.«

Mary sah erstaunt hoch. Eines der vorhandenen Ziffernblätter zeigte an, dass es Viertel nach zehn war. »Schon? Ist das nicht ein bisschen früh?«

Er sah sie mit einem Blick an, als sei er auf der Hut. »Viel Arbeit. Komm mit.«

Vielleicht war das bei Jungs so: Mädchen konnten bis in alle Ewigkeit nachtragend sein, aber Jenkins hatte die Prügelei schon vergessen. Er fragte sie aus, während sie das Gelände überquerten. »Gehörst du zu Harkys Kirche?«

»Nein.«

»Wie hast du die Stelle dann gekriegt?«

Sie zuckte die Schultern. »Hab gesagt, ich bräuchte dringend eine.«

Jenkins betrachtete sie durch zusammengekniffene Augen. »Pff.«

»Wie hast denn du die Stelle gekriegt?« Und warum war es so unwahrscheinlich, dass man einfach nach einer Stelle fragte?

»Bei uns Jüngeren hier ist es fast immer das Gleiche. Haben die Stelle über unsere Alten gekriegt.«

»Wie alt bist du?«

»Was schätzt du?«

Mary sah ihn genau an. Er war ein schmächtiges, sommersprossiges kleines Ding – ein Achtjähriger mit den Augen eines alten Mannes. »Dreizehn.«

Das schien ihm zu gefallen. »Nächsten Monat. Und du?«

»Zwölf.«

»Dann ist das nich dein erster Job.«

»Der erste auf ’ner Baustelle«, sagte Mary, was ja auch stimmte. Sie sah sich um. »Wo gehn wir überhaupt hin?«

Ein listiger Blick huschte über Jenkins’ angeschwollenes Gesicht. »Du bist auch bestimmt nicht fromm?«

»Hab ich doch schon gesagt.«

»Und auch nicht Abstinenzler?«

»Abstinenzler?« Das war ein kompliziertes Wort für einen Jungen wie Jenkins.

»Einer von denen, die meinen, dass Bier Gift ist.«

»Nein, bin ich nicht.«

»Und wieso bist du dann Harkys Liebling?«

»Wie kann ich sein Liebling sein, wo ich doch heute erst angefangen hab?« Genau das hatte sie befürchtet, doch Jenkins’ Antwort überraschte sie.

»Weil du für die Teerunde eingeteilt bist. Hat bei mir anderthalb Jahre gedauert, die Teerunde zu ergattern, und du übernimmst sie schon am ersten Tag.«

Mary wusste nicht, was er meinte. »Keine Ahnung, wie das kommt. Was ist denn an der Teerunde überhaupt so besonders?«

Jenkins sah sie argwöhnisch an. »Wenn ich dir das verrate, musst du die Einnahmen teilen.«

Einnahmen? Plötzlich schwante Mary, um was es sich da handeln konnte. Abstinenz plus Tee konnte einen hübschen kleinen Profit abwerfen. »Ich bin mir nicht sicher, was du meinst, aber ich teile gern. Was ist damit?«

»Halbe-halbe«, beharrte Jenkins.

»Halbe-halbe von was?«

Jenkins wurde wieder lebhafter und sie beschleunigten ihre Schritte. Inzwischen hatten sie das Gelände zweimal umrundet. »Du darfst Harky aber nichts sagen.«

»In Ordnung«, erwiderte Mary rasch.

»Versprich es!«

»Versprochen.«

»Schwörst du beim Leben deiner Mutter?«

»Die ist tot.«

»Dann bei ihrem Grab!«, forderte er.

»Ich schwöre. Los, von was redest du?«

Jenkins grinste, zuckte dabei aber zusammen. Seine Wange wurde bereits blau. »Zeig ich dir.«

Sie fingen bei den Schreinern an, die Jenkins erleichtert mit lautstarkem Gejammer begrüßten. Warum er denn heute so spät dran sei? Sie hätten schon fast die Hoffnung aufgegeben. Wer denn der andere Bursche sei? Neuer Tee-Junge. Aha. Wie viel wollten sie? Mann, das sei ja richtige Wegelagerei … Und alle kramten sie in ihren Taschen, zogen ein paar Münzen heraus und warfen sie Jenkins mit unwirscher Vorfreude zu.

Jenkins und Mary gingen das gesamte Baugelände ab, und Mary stellte begeistert fest, was für eine überaus perfekte Aufgabe das für sie war. Auf diese Weise lernte sie fast jeden Handwerker und Bauarbeiter hier kennen und hatte einen Grund, sie regelmäßig aufzusuchen und ein kurzes Schwätzchen mit ihnen zu halten. Das war fast wie ein Wunder – als ob Harkness von ihrem wahren Auftrag wüsste.

»Kriegst du von allen was?«, fragte sie Jenkins. »Abgesehen von Mr Harkness?«

Jenkins sah sie an, als sei sie nicht ganz bei Trost. »Na klar! Wer würde da nicht mitmachen?«

Nachdem sie alle Arbeiter des Baugeländes aufgesucht hatten, hatte Jenkins die Tasche voller Münzen, die fröhlich klimperten, als er und Mary sich auf den Weg zu einem Pub machten. Das Blue Bell hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Frische und dem Liebreiz einer Glockenblume. Es war muffig und dunkel, und der Mief von unzähligen schnapsseligen Abenden lag in der Luft. Es war zudem ziemlich voll, und Mary hatte den starken Verdacht, dass die meisten Gäste seit dem vergangenen Abend hier waren.

Jenkins stolzierte zum Tresen, eine Hand in der Tasche, und stützte sich wichtigtuerisch auf. Der Tresen ging ihm bis an die Schulter, was den Effekt etwas minderte.

»Spät dran heute, Master Jenkins«, sagte der Wirt. Er war fett und verschwitzt.

Jenkins zuckte übertrieben die Schultern. »Hab jetzt ’n Partner. Mich werden Sie demnächst nicht mehr sehen, Mr Lamb.« Seine Stimme war immer noch dünn und hoch, und in diesem höhlenartigen Pub klang sie besonders schrill.

Mr Lamb sah Mary ohne großes Interesse an. »Das Übliche?«

Mary warf Jenkins einen Blick zu. »Was ist das Übliche?«

»Halber Liter Rum«, sagte Jenkins bestimmt. »Werktags Rum, samstags Whisky.«

Während Mr Lamb unter Jenkins’ Aufsicht eine schmutzige Flasche füllte, sah sich Mary im Gastraum um. Die rohen Holzdielen klebten unter ihren Stiefeln. Verstohlene Bewegungen in den Ecken des Raumes ließen Ratten vermuten. An einer Wand war ein kleines Fenster. Es war so schmutzig, dass sie es zuerst für ein dunkles Bild gehalten hatte. Auf den klapprigen Bänken und Stühlen lungerten verschiedene Gruppen von Männern und Frauen im letzten Stadium der Trunkenheit. Keiner von ihnen war angeheitert; diese Phase lag wohl schon Stunden zurück. Stattdessen starrten sie Mary und Jenkins – oder einfach die Luft – mit glasigem Blick aus blutunterlaufenen Augen an. Nur die Hände, mit denen sie ihre Gläser hielten, bewegten sich mit monotoner Regelmäßigkeit zum Mund.

»Prost denn«, sagte Jenkins und stieß Mary in die Rippen.

Zwei kleine Becher mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit standen auf dem Tresen und Jenkins hatte bereits die Hand um einen geschlossen. Mit scharfem Blick sah er sie an, und Mary begriff, dass er sie auf die Probe stellte: Sie musste beweisen, dass sie wirklich nicht der abstinente Liebling von Harkness war.

Sie nahm den anderen Becher. »Prost.« Als ihr die ersten Tropfen des unverdünnten Schnapses durch die Kehle rannen, merkte sie, dass sie nie hätte versuchen dürfen, alles auf einmal hinunterzukippen. Ihr Hals zog sich zusammen. Ihr Magen revoltierte. Ihre Augen tränten. Sie schluckte dennoch, und während ihr die Flüssigkeit brennend durch den Schlund lief, bekam sie einen solchen Hustenanfall, dass sie in dem düsteren Kneipenraum grelle Blitze vor Augen zu sehen begann.

In der Akademie tranken die Damen zum Abendessen Wein und Mary hatte manchmal schon Bowle oder sehr verdünnte alkoholische Sachen getrunken. Reiner Schnaps war ihr jedoch noch nie untergekommen. Und Jenkins hatte seine Aufgabe gut gemacht und Mr Lamb scharf beobachtet, damit dieser den Rum nicht verdünnte, was er bei unachtsamen Kunden oft tat. Als Mary wieder gerade stehen konnte, sah sie wie durch einen Schleier, wie Jenkins und Mr Lamb sie angrinsten. Sie wischte sich die Augen, fuhr sich über die feuchte Stirn und versuchte, nicht nach Luft zu schnappen.

»Der stärkste Rum in London«, verkündete Jenkins stolz.

Sie räusperte sich. »Nicht schlecht.« Ihre Stimme war rau – aber für ihre Rolle als »Mark« war das ja eher gut.

»Ha, jetzt bist du auf jeden Fall kein Abstinenzler mehr.«

***

Jenkins’ Zeitplanung war genau richtig gewesen. Als sie eine große Kanne Tee gemacht und den Rum in eine gesonderte Kanne gegossen hatten, war es fast elf Uhr. Ein paar Münzen klimperten noch in Jenkins’ Tasche und er fischte sie zufrieden heraus.

»Vier Pence.« Ganz sorgfältig zählte er vier halbe Pennys ab und reichte sie widerwillig hinüber. »Die Hälfte, ist das klar? Du hast geschworen.«

»Ich weiß.« Das Geld bedeutete Jenkins eindeutig mehr als ihr, aber es wäre zu auffällig gewesen, es nicht anzunehmen. Sein Blick verfolgte ihre Hand, als sie es einsteckte, und sie war gespannt, ob es am Ende des Tages noch da sein würde oder ob Jenkins versuchen würde, es sich zurückzustehlen. Das glaubte sie jedoch nicht. Die Prügelei hatte alles zwischen ihnen geregelt.

»Und geh bloß nicht woanders hin als ins Blue Bell; andere Pubs sind teurer.«

Er klang wie eine sparsame Hausfrau, die einem Bediensteten Anweisungen gab. Mary unterdrückte ein Lächeln. »Kann Harky den Rum denn nicht riechen?«

»Keine Ahnung. Aber er hat noch nie was gesagt und ich bin schon seit Monaten bei der Teerunde.«

Es schlug keine Glocke, und doch legten die Bauarbeiter um Punkt elf ihre Werkzeuge nieder und begaben sich an den »Teetisch« – eine breite Planke über zwei Schreinerböcken.

Der Erste in der Schlange war Harkness. Mary spürte immer noch die Auswirkungen des Rums – nicht nur im Hals. Sie war überzeugt, schrecklich aufzufallen. Bestimmt waren ihre Wangen gerötet und sie roch nach Schnaps. Doch Harkness schien es nicht zu bemerken.

Nachdem der Bauleiter in sein Büro zurückgekehrt war, sammelten sich die Männer ernsthaft um den Teeausschank. Wie aus dem Nichts zogen sie dies und das zu essen hervor – Butterbrote, Scheiben von kaltem Braten oder gar eine Pastete –, zusammen mit ihren eigenen dicken, glasierten Bechern. Trotz des Unterschieds in Kleidung und Umgebung musste Mary unwillkürlich daran denken, wie sie das letzte Mal in Gesellschaft Tee ausgeschenkt hatte: neben Angelica Thorold in Chelsea. Diesmal achtete sie darauf, die riesige Teekanne etwas ungeschickt zu halten. Das Ausschenken von Tee war Frauensache, daher versuchte sie, nicht zu geübt zu wirken, als sie dünnen schwarzen Tee bis zur Hälfte in die Becher goss. Dann füllte Jenkins sie mit Rum auf.

Da Harkness ja fort war, hätte sich die allgemeine Stimmung eigentlich heben sollen. Was war schließlich naheliegender, Klatsch zu fördern, als Essen und Alkohol und eine kurze Pause? Doch die meisten Bauarbeiter blieben stumm und ernst. Ein paar von ihnen machten sich über sie und Jenkins lustig: Nicht zu viel von dem Tee da, Junge; weißt du nicht, dass das ein Teufelsgesöff ist? Oder: Komm schon, rück noch ein bisschen Rum raus; sei nicht so geizig, Kleiner. Oder: Ihr gebt ein hübsches Paar ab, du mit deinem blauen Auge und er mit seiner blutigen Nase. Aber sobald sie ihren Tee hatten, gruppierten sie sich ihrem Handwerk nach zusammen; Glaser zu Glasern, Steinmetze zu Steinmetzen. Und sie tranken ihren unerlaubten Rum ohne allzu großes Vergnügen.

»Keiner sagt was«, murmelte Jenkins.

Sie hatte sich die angespannte Stimmung also nicht eingebildet. »Warum?«

»Mann, du weißt ja wirklich rein gar nichts.«

»Dann sag du’s mir, wenn du so schlau bist.«

Jenkins sah sich verstohlen um. Sie hatten inzwischen alle Arbeiter bedient und waren mehr oder weniger für sich. Trotzdem sprach er kaum lauter als mit einem Flüstern. »Einer von den Maurern, Typ namens Wick, hat sich kürzlich nachts umgebracht. Seine Leiche hat genau da drüben gelegen.«

Mary tat geschockt. »Er hat Selbstmord begangen?«

»Genau«, zischte Jenkins. »Ist vom Turm gesprungen.«

»Woher weißt du das?«

Jenkins sah sich erneut um. »Is doch klar. Er war in der Nacht da oben und die Polizei tut nichts. Wenn er geschubst worden wäre, dann würde der Yard –«, er sprach den Spitznamen betont lässig aus, »der Yard würde dann doch jemand schnappen.«

»Vielleicht suchen sie ja noch.«

Jenkins schnaubte verächtlich. »Scotland Yard doch nicht. Wenn sie keinen gefunden haben, dann gibt’s auch keinen.«

Mary sah ihn nachdenklich an. Sie hatte den Jungen zuerst für etwas beschränkt gehalten: Warum sollte er wohl sonst eine Schlägerei provozieren, die er nicht gewinnen konnte? Doch jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Er war klug genug, aus der Teerunde einen einträglichen Gewinn zu ziehen. Er hatte eine nachvollziehbare Theorie in Bezug auf Wicks Tod. Den Knaben musste sie gut im Auge behalten – und ihr Verhalten ebenso, wenn sie in seiner Nähe war. Er war der Polizei gegenüber vielleicht sehr unkritisch, aber er war klug genug, um sie bei jedem Fehler zu ertappen, den sie in der Rolle von Mark Quinn machte.

Wenn sich Wick tatsächlich von dem Turm gestürzt hatte, gab es keine Unstimmigkeiten und keinen Mörder. Blieb jedoch die Frage nach dem Motiv. Was brachte einen Mann dazu, sich umzubringen? Verzweiflung? Schulden? Und was war mit der Methode, die er gewählt hatte? Viele Selbstmörder wählten den Fluss, einfach, weil es eben so viele taten, oder Gift, weil es schnell und sauber ging. Aber von einem Turm zu springen war eine theatralische letzte Geste. Hatte er damit etwas bezweckt? Vielleicht eine Botschaft an seine Arbeitgeber 

»Jetzt müssen wir aufräumen.« Jenkins hob die Rumkanne und ließ sich die letzten Tropfen direkt aus der Tülle in den Mund tropfen.

Mary sah sich um. Tatsächlich, die Bauarbeiter verzogen sich alle. »Was mach ich mit dem kalten Tee?«

Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. Mary nickte, ging zur nahe gelegenen Themse und wusch die Kanne im wenig sauberen Flusswasser aus.

Als sie zurückkam, schnupperte Jenkins vorsichtig an dem angeschlagenen Milchkrug. »Halbehalbe?«

Mary schüttelte den Kopf. Es passte wahrscheinlich nicht zu ihrer Rolle, jegliche Art von Essbarem, das umsonst war, abzulehnen, aber am Rand des Kruges hatten sich kleine Milchklümpchen gebildet, und die Flüssigkeit selbst war seltsam bläulich grau. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, das zu trinken.

Er kippte es in sich hinein, dann verzog er das Gesicht. »Puh, schon etwas hinüber.«

Mary grinste. Sie konnte sich noch an eine Zeit erinnern, wo sie die Milch auch hinuntergewürgt hätte. »Ich räum das alles weg. Was dann?«

»Zurück an die Arbeit, wenn du ein Streber bist.«

»Und wenn nicht?«

»Dann nicht.«