Vierzehn

Donnerstag, 7. Juli frühmorgens

Sitz der Agentur

Die Fahrt zurück in die Agentur war schnell und angespannt – zumindest, was Mary betraf. Sie konnte Felicity, die auf dem Kutschbock saß, nicht sehen, aber ihre Vorstellung war lebhaft. Sie sah sich schon in Schimpf und Schande davongejagt. Und sie konnte nicht viel zu ihrer Verteidigung sagen, außer dem dümmlich klingenden: »Ich dachte, er hätte mich nicht erkannt.« Wie konnte sie so naiv gewesen sein, das zu hoffen? So töricht, James’ Anwesenheit auf der Baustelle vor der Agentur zu verheimlichen?

Doch dann, oben im Büro der Agentur, nahm die Unterhaltung eine unerwartete Wende. Statt Mary Vorwürfe zu machen, sagte Anne seufzend: »Ich muss gestehen, ich habe mir Sorgen gemacht, ob du dich auf einer Baustelle wirklich so unsichtbar machen kannst.«

»Ich finde, wir stehen ganz gut da, wenn man die Dringlichkeit der Ermittlung bedenkt«, sagte Felicity unbeeindruckt. Und ein wenig trotzig.

Fast ohne Pause wollte Anne von Mary wissen: »Hast du irgendeine Idee, was für eine Erklärung du Mr Easton jetzt geben willst?«

Mary nickte langsam. »Ich hätte eine … allerdings leider keine besonders gute, aber sie ist glaubhaft.«

»Einen Moment«, näselte Felicity und beugte sich vor. »Selbst mit einer gut ausgedachten Hintergrundgeschichte lassen wir uns hier eine Gelegenheit entgehen.« Sowohl Mary als auch Anne drehten sich erstaunt zu ihr um. »Es ist das zweite Mal, dass du auf James Easton triffst. Er war doch ganz hilfreich bei dem Thorold-Fall, oder nicht?«

»Das stimmt.« Mary verfluchte die Hitze, die ihr in die Wangen stieg und sie bestimmt rot werden ließ.

»Und er möchte nur zu gern wissen, was du da gerade treibst. Das ist sogar mir aufgefallen.«

Mary nickte und musste an das spöttische Lächeln von »Carter« denken.

»Ich glaube, egal, wie perfekt du die Rolle von Mark Quinn gespielt hast, er hätte dich auf jeden Fall erkannt. Wahrscheinlich wusste er es von Anfang an, hat aber aus bestimmten Gründen den Mund gehalten.«

»Ich habe auch erwartet, dass er mich erkennt. Aber als er nichts hat durchblicken lassen, fand ich es das Beste, es dabei zu belassen.«

»Und er ist soeben aus Indien zurückgekehrt. Mit so einem kleinen Auftrag würde er sich normalerweise sicher nicht abgeben.«

»Das ist richtig.«

»Klug, verschwiegen und unausgelastet.« Felicity machte eine elegante Bewegung mit den Händen. »Warum stellen wir ihn nicht bei der Agentur ein?«

»Was?«, entfuhr es Anne.

Mary starrte beide entsetzt an. Es war entweder der beste oder der schlechteste Vorschlag, den sie je gehört hatte.

»Das ist ja wohl absurd, unbedacht und völlig unangemessen!« Anne fauchte die Worte fast hervor. »Absoluter Blödsinn!«

Auf Felicitys Wangen bildeten sich leuchtend rote Flecken. »Wieso das denn? Easton zeigt alle Qualitäten, die wir bei unseren Kandidaten suchen.«

»Er ist – also, er ist doch –«

»Ein Mann. Ist das ein Problem?«

»Nun, das ist auf jeden Fall ein Problem für die Agentur. Wir gründen uns auf die Prinzipien von Miss Scrimshaw. Frauen, die allenthalben nicht anerkannt und unterschätzt werden, können daraus einen Vorteil ziehen, wenn es um Ermittlungsarbeit geht.«

»Die Geschichte der Agentur ist mir wohl bewusst«, sagte Felicity. »Aber in diesem Fall liegt der Vorteil bei Easton. Er kennt sich auf Baustellen aus und ist eine Autorität.«

»Das kommt nur daher, dass wir diesen Fall nie hätten übernehmen dürfen! Wir haben den Kompetenzbereich der Agentur überschritten und dieser Wirrwarr ist das Resultat. James Easton mag alle möglichen Tugenden haben, aber bei der üblichen Arbeit der Agentur kann er keine Aufgabe übernehmen.«

»Die ›übliche Arbeit der Agentur‹ muss eben überdacht werden«, sagte Felicity gedehnt. »Der vorliegende Fall demonstriert das bestens. Wenn wir einen Auftrag nicht übernehmen können – gut bezahlte, wichtige Fälle –, dann sollten wir die uns selbst gesetzten Einschränkungen überdenken. Männliche Mitarbeiter sind vielleicht genau das, was wir brauchen, um als Organisation zu wachsen.«

»Der vorliegende Fall sprengt nicht einfach unseren Rahmen! Er schadet unseren Zielen.«

»Bitte!«, unterbrach Mary die beiden und erhob sich verlegen. Anne und Felicity starrten sie erschrocken an. Sie schienen ganz vergessen zu haben, dass sie noch da war. »Ich muss nach Lambeth zurück. Fürs Erste habe ich eine ganz gute Geschichte, die ich James erzählen kann, bis Sie – bis eine Entscheidung gefallen ist.«

Anne schluckte und sagte in wieder einigermaßen ruhigem Ton: »Es ist sehr spät, Mary. Warum bleibst du für die paar Stunden nicht hier? Das ist kein Risiko.«

Mary nickte zögernd. Sie hatte ihre Rolle als Mark Quinn sowieso schon gefährdet. James Easton hatte ihre Tarnung zerstört. Möglicherweise war nichts verloren, wenn sie eine Nacht in ihrem alten Bett in der Agentur schlief – solange es noch die Agentur war, die sie kannte.

***

Donnerstag, 7. Juli

 

Eine lange Nacht, ein heftiger Streit, eine bevorstehende Auseinandersetzung: Diese drei Ereignisse ließen Mary erst gegen Morgen einschlafen, und das Ergebnis war, dass sie fast zu spät kam. Sie rannte die letzten paar Hundert Meter nach Westminster, wich einem Mann in einem schlecht gebügelten Anzug aus und merkte erst in letzter Sekunde, wer es war.

Octavius Jones zog mit schwungvoller Bewegung den Hut vor ihr. »Hallo, Junge«, rief er laut. »Was kannst du mir heute melden?«

»Nichts, Sir.«

»Komm schon – ein kluges Bürschchen wie du? Erzähl mal. Irgendwas.«

Sie ging rücklings mit langsamen Schritten auf den Baustelleneingang zu. »Äh – heut ist die Beerdigung, Sir.«

»Dafür kriegst du keinen Penny«, sagte er wohlwollend geringschätzig. »Erzähl mir was, das nicht jeder schon weiß.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir.«

»Dann verrat mir mal Folgendes: Was sagt der neue Bauingenieur denn über die Sicherheit auf der Baustelle?«

Sie stieß mit den Schulterblättern bereits an den Holzzaun, doch Jones rückte immer noch näher. Dieser Trick, um den Druck zu verstärken, war nicht besonders raffiniert, aber dennoch wirksam. »Arbeitet noch dran, Sir. Hat mir aber nix erzählt.«

»Und die ganze Zeit, die du mit ihm zusammen warst – da hast du nicht irgendwelche Mutmaßungen angestellt?«

Mary runzelte die Stirn. »Mut-was, Sir?«

»Mutmaßungen. Beobachtungen. Deine Schlüsse gezogen.«

»Ich ziehe hier in jedem Fall meine Schlüsse«, sagte eine sarkastische Stimme hinter ihnen.

Mary presste die Augen zu. Rettung und Ärger zugleich.

»Und die besagen, dass Sie augenblicklich von hier verschwinden!«

»Mr Easton!« Jones wechselte zu seiner Sonntagsstimme. »Was für ein Vergnügen, Sie wiederzusehen. Ich glaube, wir sind uns gestern nicht richtig vorgestellt worden.«

»Werden wir auch heute nicht. Und jetzt verschwinden Sie von meiner Baustelle.«

»Würde es Ihnen übertrieben pedantisch vorkommen, wenn ich Sie darauf hinwiese, dass wir genau genommen nicht auf der Baustelle sind?« Jones grinste, als er James’ Gesicht sah. »Ich nehme an, ich kann Sie nicht dafür gewinnen, uns ein Exklusivinterview zu geben, Sir? Nein? Wie schade. Nun, ich muss los. Hören Sie, Sie müssen dem kleinen Quinn nicht vorwerfen, mit mir geredet zu haben – ich habe ihm aufgelauert, nicht andersrum. Gut, gut, auf Wiedersehen!«

Die plötzliche Stille, die entstand, als Jones davoneilte, war ausschließlich in Marys Kopf. Die Straße selbst war so laut wie immer, aber Mary bemerkte nur, dass James ganz untypisch und fast bedrohlich schwieg. Sie erinnerte sich sehr gut an das, was er gestern gesagt hatte: Wenn er sie noch mal dabei erwischte, wie sie mit Octavius Jones redete, würde ihr eine Strafe drohen. Da hatte er natürlich noch nicht zugegeben, dass er sie erkannt hatte. Aber sie bezweifelte, dass das einen Unterschied machte.

James marschierte ohne einen Blick über die Schulter in den Eingang des Turmes. Mary folgte ihm kleinlaut. Sie hatte ja auch keine andere Wahl. Sobald sie allein waren, platzte sie heraus: »Ich kann das erklären.«

Er schien sie gar nicht zu hören. Stattdessen starrte er unbeirrt auf einen Fleck über ihrem Kopf und verlangte mit leiser, knapper Stimme: »Sagen Sie mir zum Teufel, wer Sie wirklich sind.«

Sie öffnete den Mund, um zu antworten, dann unterbrach sie sich. Es war eine ausgezeichnete Frage – und darauf wusste sie jetzt wirklich keine Antwort. Natürlich war sie Mary Quinn. Aber auch Mary Lang. Geheimagentin. Waisenkind. Vormalig Taschendiebin. Engländerin. Mischling. Und sie war in keiner Weise die, als die er sie kennengelernt hatte. Er hatte wirklich das Recht, vor Wut zu kochen.

»Nicht mal das können Sie mir sagen?« Seine Stimme war verbittert. »Sagen Sie mir wenigstens eines: Gibt es wirklich einen Mr Fordham?«

Sie zuckte verblüfft mit den Mundwinkeln. »Nein. Natürlich nicht.«

Die Spannung in seinem Kiefer ließ etwas nach. »Und Jones – der ist tatsächlich Reporter?«

»So in der Art; er schreibt für The Eye on London.« Das hatte sie allerdings nicht erwartet. Die Fragen, die James stellte, waren normalerweise präzise und vernünftig. Diese Fragen waren unsinnig, es sei denn, er war tatsächlich eifersüchtig … und das war ja wohl eher eine lächerliche Halluzination ihrerseits.

»Sind Sie mir gestern Abend gefolgt?«, fragte er.

Das verschaffte ihr zumindest sicheren Boden. »Wie das denn? Ich war doch zuerst im Haus der Wicks.«

»Sie hätten ahnen können, wohin ich wollte.«

»Umgekehrt hätten Sie aber auch mir folgen können.« Diese Möglichkeit hatte ihr in der Nacht den Schlaf geraubt.

»Wenn man davon ausgeht, dass ich wusste, wer Sie sind.« Seine Worte klangen verbittert, sein Ton war jedoch weniger scharf. Er sah sie jetzt an, seine dunklen Augen versuchten, ihre Gedanken zu lesen. »Was zum Teufel machen Sie in Jungenkleidern auf einer Baustelle, Mary? Falls Sie wirklich so heißen.«

»Natürlich heiße ich so.« Das war der einzige Teil ihrer Identität, den sie ihm ehrlich preisgeben konnte.

»Na, das ist ja wenigstens ein Anfang.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Möchten Sie wirklich wissen, warum ich hier bin?«

Er machte eine seltsam hilflose Geste. »Wer würde das nicht wollen? Verstehen Sie nicht, dass ich mir wie ein Esel vorkomme? Sie haben mir letztes Jahr das Leben gerettet, Sie haben mich aus dem verdammten Laskarenheim gezogen. Aber Sie trauen mir nicht mal so weit, dass Sie mir sagen können, was Sie hier machen.«

Sie hatte nicht mit seinen Gefühlen gerechnet – nicht mit solchen. Dabei hatte er ja recht. Sie konnte ihm zumindest eine nachvollziehbare, vernünftige Erklärung für ihre Anwesenheit auf der Baustelle anbieten. Sie war zwar weit von der Wahrheit entfernt, aber vielleicht stellte es ihn für eine Weile zufrieden, auch wenn sie sich dabei kläglich fühlte. Herumzuspionieren war schön und gut. Sie liebte es, sich zu verkleiden und in eine Rolle zu schlüpfen und all die geheimen Fertigkeiten anzuwenden, die sie erlernt hatte. Dieses falsche Spiel war ihr jedoch zuwider: jemanden anzulügen, den sie 

Mary beendete ihren Gedankengang. Sie konnte sich nicht leisten, ihn weiterzudenken. Und James wartete schließlich noch auf eine Erklärung. »Ich – ich mache Studien für ein Buch.« Die Worte klangen albern, kaum dass sie ihren Mund verließen, aber jetzt konnte sie wohl kaum mehr zurück. »Ermittlungen, könnte man wohl sagen.« Sie machte ein Pause und wartete auf seine Erwiderung, ohne ihn anzusehen. Als er nichts sagte, stotterte sie weiter: »Es geht um die arme Arbeiterschaft in London. Ob es möglich ist, mit einem Arbeiterlohn über die Runden zu kommen, und um den Alltag eines Lehrjungen. Eigentlich darüber, wie so jemand lebt. Deshalb bin ich hier, als Mark Quinn, und darum war ich auch im Haus von Wick und habe als reiche, mildtätige Dame herumspioniert.«

James sah sie erstaunt an, während er zuhörte, aber im Gegensatz zu vielen anderen hörte er immer schweigend zu. Als sie endete – sie konnte es nicht ertragen, die Lügen noch weiter auszuschmücken –, pfiff er leise durch die Zähne. »Langweilig geht’s bei Ihnen wohl nie zu, was?«

Sie lächelte schief. »Das ist ein ziemliches Kompliment von einem Mann, der gerade aus Indien zurück ist, die Malaria überlebt hat und für das Sicherheitsgutachten eingestellt worden ist.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber ich bin doch nur ein langweiliger Experte. Was Sie da machen, ist wirklich radikal! Vor allem für eine Frau.«

Sie wand sich. Sie kam sich ja schon ohne seine Begeisterung und Bewunderung verlogen genug vor … Und was würde sie tun, wenn er die Ergebnisse ihrer Arbeit irgendwann lesen wollte? Doch mit Bedauern fiel ihr ein, dass sie dann ja nicht mehr mit ihm in Kontakt stünde. Es war ja nur eine Tarnung, um den Auftrag zu verheimlichen. Sobald das alles vorbei war, musste sie darauf achten, James nicht mehr zu begegnen, wenn sie ihrer Tätigkeit als Geheimagentin weiter nachgehen wollte. »Ich bin noch nicht sicher, ob was dabei rauskommt …«, wandte sie zögernd ein.

»Ich hab mir auch schon oft über diese Lehrjungen Gedanken gemacht. Wie werden Sie von den anderen behandelt?« Ein neuer Gedanke schoss ihm durch den Kopf und er runzelte die Stirn. »Sie geraten doch sicher oft in Situationen, die für eine Dame gefährlich sind.«

»Ach …« Trotz ihrer festen Vorsätze merkte Mary, wie seine Fürsorge ihr gefiel. »Damit komme ich klar.«

»Da bin ich mir sicher.« Langsam und sorgfältig musterte er sie von oben bis unten, und sie spürte, wie von den Zehen her eine kribbelnde Wärme in ihr aufstieg. Es war ja in Ordnung, in Hosen rumzulaufen, wenn man von allen für einen Jungen gehalten wurde, doch in dieser Situation kam sie sich völlig unpassend gekleidet vor. »Hosen stehen Ihnen«, murmelte er.

»Sollten …« Sie räusperte sich. »Sollten wir nicht lieber mit der Arbeit anfangen?«

Er grinste. »Die richtige Erwiderung auf ein Kompliment lautet ›Danke‹. Sie haben doch noch nicht Ihre guten Manieren vergessen, oder?«

»Es war aber auch kein Kompliment, das man einer Dame macht.«

»Entschuldigung. Ich glaube, Handbücher über Etikette erstrecken sich nicht auf Situationen wie diese.« Er beugte sich zu ihr, sodass seine Lippen fast ihren Hals streiften, und atmete ein. »Mhmm. Sie riechen auch noch gut.«

Sie verschluckte sich fast. Machte einen Schritt zurück, bis ihr Rücken kalten Stein berührte. »D-danke.«

»Schon besser. Darf ich Sie küssen?« Er fuhr ihr mit dem Finger in den Hemdkragen und strich ihr über den Nacken.

»Ich h-halte das f-für k-keine gute Idee.«

»Warum nicht? Wir sind doch allein.« Seine Hände umfassten ihre Taille und auf einmal bekam sie fast keine Luft mehr.

»Und wenn jemand reinkommt?«

Er überlegte einen Moment. »Na ja, der meint dann wohl, dass ich auf kleine dreckige Jungs stehe.«

Darüber musste sie lachen, und dieser plötzliche Stimmungswandel verlieh ihr die Kraft, ihn etwas von sich zu schieben. »Ich habe noch eine Frage: Wann haben Sie mich erkannt?«

Er ließ sie sichtlich ungern los. »Sofort natürlich.«

»Aber Sie haben kein Wort gesagt! Warum nicht?«

Er grinste ein wenig verlegen. »Ich wollte mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.«

»Sie hätten den Bericht also vielleicht abgeschlossen und wären wieder verschwunden, ohne ein Wort zu sagen?«

»Wären Sie denn dann enttäuscht gewesen?«

»Antworten Sie erst mal auf meine Frage.«

»Natürlich nicht. Ich habe nur auf den richtigen Moment gewartet. Und Sie?«

»Oh, ich wäre sehr enttäuscht gewesen von Ihrer Intelligenz.«

»Mehr nicht?« Er lachte.

Sie lächelte zurück. »Wer weiß.«

»Noch weitere Fragen?«

»Ja. Arbeiten wir heute überhaupt?«

»Sind Sie seit unserer letzten Begegnung zu einer Langweilerin geworden?«

»Ja«, sagte sie geziert.

Sein charmantes Grinsen blitzte wieder auf – das hatte ihm die Krankheit also nicht genommen –, doch dann wurde er ernst. »Ich glaube, unser nächster geschäftlicher Schritt ist es, den Turm zu untersuchen.«

Beim Hinaufsteigen verlangsamten sich ihre Schritte mit der Zeit von rasch zu gemessen – unmerklich zunächst, dann aber unmissverständlich. Mary sah ihn an und war nicht überrascht, dass seine Wangen gerötet und seine Brauen zusammengezogen waren.

Er spürte ihren Blick. »Sagen Sie bloß nicht, dass Sie schon müde sind.«

Sie schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut.«

Weitere dreißig Stufen und sein Atmen war eindeutig zu hören: regelmäßig, aber etwas gehetzt. Mary riskierte es, ihm nochmals einen kurzen Blick zuzuwerfen, und wieder merkte er sofort, dass sie besorgt schien. »Was ist?«

»Was soll denn sein?«

»Warum starren Sie mich immer wieder an?«

Na prima. Wenn er so spielen wollte … »Vielleicht bewundere ich einfach nur Ihr römisches Profil.«

Er grinste spöttisch. »›Römisch‹ ist eine nette Umschreibung für ›gebrochenes Nasenbein‹.« Sie stiegen ein weiteres Dutzend Stufen hoch. »Ein Nasenbein, an dessen Ausformung Sie nicht unschuldig waren«, erinnerte er sie.

Beim Gedanken an ihre erste Auseinandersetzung musste sie grinsen – ein richtiger Faustkampf. Da sie kleiner und schwächer war, hatte sie natürlich verloren, aber sie hatte ihm ganz schön lange standgehalten. »Jeder, der so selbstherrlich und arrogant ist wie Sie, muss ab und zu mit einem gebrochenen Nasenbein rechnen.«

Er schnaubte amüsiert, was jedoch zu einem Hustenanfall führte. Es war kein normaler Husten, sondern ein langes, pfeifendes, trockenes Geräusch. Er wurde krebsrot, stützte sich an der Wand ab und ließ sich schließlich auf die Stufen sinken. Mary streckte ihm eine Hand hin, die er jedoch ungeduldig wegschlug.

Als der Hustenanfall nachließ, atmete er wieder etwas leichter. »Puh.« Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die dünne Schweißschicht von der Stirn. Versuchsweise lächelte er ein wenig, aber sofort fingen seine Augen zu tränen an. »Was sagten Sie?«

Sie konnte sich nicht erinnern und es war ihr auch egal. »Sind das noch Auswirkungen von der Malaria?«

Er zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich.«

»Es ist nichts Neues, wie Lungenentzündung oder Bronchitis?«

»Absolut nicht«, sagte er mit unwilligem Blick.

»Aber von körperlicher Anstrengung wird es schlimmer.«

»Hören Sie doch auf mit dem sorgenvollen Getue.«

»Ein paar Fragen sind doch noch kein sorgenvolles Getue. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie vielleicht krank sind.«

»Sie sind nicht meine Mutter.«

»Gott sei Dank nicht.«

Er sah sie finster an und zog sich hoch. Sie konnte sehen, welche Mühe ihn das kostete: Er bewegte sich, als ob seine Glieder bleischwer wären. »Es geht mir gut«, behauptete er jedoch.

»Ha … sehr überzeugend.«

»Ich habe nicht vor, den Tag mit Diskussionen in einem Treppenhaus zu verbringen. Kommen Sie jetzt mit oder nicht?« Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg er weiter. Diesmal hielt er sich jedoch am Geländer fest.

Mary sah ihm nach. Er war wirklich dünn; von hinten konnte man sehen, dass sein Anzug eindeutig zu weit war. Das Jackett hing lose von seinen breiten Schultern, die Hosenbeine wirkten weiter, als es gerade Mode war. Mit den Pfunden musste er auch eine Menge Kraft eingebüßt haben. Sie folgte ihm stumm über weitere zehn bis fünfzehn Stufen, dann sagte sie beiläufig: »Wir haben noch nicht mal ein Drittel geschafft

»Ich weiß.«

Der Anstieg brauchte seine Zeit, und als sie den Treppenabsatz beim ersten Drittel erreicht hatten, blieb James erneut stehen, um sich die Stirn und den Nacken abzuwischen. Sie blieb still stehen und wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Besorgnis zu zeigen oder ihm etwas zu raten, würde nur wieder damit enden, dass er störrisch alles abstritt. Außerdem stand es ihr nicht zu, ihn zu kritisieren; das war eine schlechte Angewohnheit, die sie an sich entdeckt hatte. Also lehnte sie sich einfach an die Wand und sah ihn nicht an.

James’ Atem, der schnell und flach ging, war das Lauteste um sie herum. Der Glockenstuhl war noch ungefähr zweihundert Stufen weiter, die Handwerker und Arbeiter der Baustelle einige Stockwerke unter ihnen. Die unverputzte Ziegelwand fühlte sich kühl an ihrer Wange an und sie schloss einen Moment die Augen und ließ die Gedanken schweifen. Ziegelsteine – Mörtel – Keenan – das Auspeitschen. Sie riss plötzlich die Augen auf und sah sich um. Der Treppenabsatz war überraschend geräumig, offenbar war er als Stelle zum Ausruhen gedacht, obwohl es noch keine Sitzgelegenheiten wie Wandbänke gab. Nach diesem Geschoss schienen die Treppen schmaler zu werden und – ja, natürlich – warum hatte sie daran noch nicht gedacht?

Sie fuhr zu James herum. »Hat jemand gesagt, was Wick im Glockenstuhl gemacht hat?«

Er hatte die Augen zugekniffen, als habe er Schmerzen. »Nein.« Und dann, mit widerwilliger Neugier: »Wieso?«

»Sehen Sie sich die Treppe nach oben an. Die Wände sind aus Stein. Wenn das so weitergeht, gibt es doch für einen Maurer keinen Grund, dort oben zu arbeiten – höchstens für die Steinmetze.«

Er riss die Augen auf. »Geht das denn so weiter, bis ganz oben?«

»Werden wir ja sehen.

Unwillig betrachtete James die schmale Treppe, die sich hinaufwand und sich dem Blick dann entzog. »Äh – vielleicht sollten Sie vorangehen.«

»Ich habe eine bessere Idee: Stützen Sie sich auf mich.«

Er schien nicht zu verstehen. »Aber – ich – Sie –«

Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Schulter. »Wie mit einem Spazierstock – so.«

Er zog die Hand fort, als hätte er sich verbrüht. »Das geht doch nicht!«

»Warum? Weil ich ein Mädchen bin?«

»Ich kann Sie doch nicht als Stütze benutzen …«

»Aber sicher; stellen Sie sich vor, ich sei der zwölfjährige Junge namens Mark.« Sie ergriff seine Hand und legte sie wieder auf ihre Schulter. »Ich bin ziemlich kräftig für meine Größe, müssen Sie wissen.«

Er zuckte erneut zurück. »Darum geht es nicht.«

»Ich dachte, es geht darum, ans Ende der Treppe zu gelangen«, sagte sie und bemühte sich nicht mal, die Ungeduld in ihrer Stimme zu verbergen. »Wie wollen Sie das sonst schaffen?«

»Ich muss mich einfach mehr zusammenreißen.«

»Oh ja – Ihre dickköpfige Dummheit soll wieder den Sieg davontragen.«

Sie starrten sich gegenseitig verärgert an. Dann, nach einer Weile, seufzte James kleinlaut. »Beide gleich dickköpfig, was?«

Sie lächelte schwach. »Mir würde es genauso gehen, wenn die Situation umgekehrt wäre.«

»Ich weiß.«

Es folgte eine unbehagliche Pause, dann sagte er: »Also. Sollen wir?«

Während sie die nächsten Stufen hinaufstiegen, lag seine Hand nur leicht auf ihrer Schulter. Je höher sie jedoch kamen, desto mehr spürte Mary, wie er sich auf sie stützte. Bei jedem Stockwerk wurde der Druck seiner Hand stärkter, sein Atmen mühsamer. Sie wurden langsamer und schließlich musste er alle paar Stufen ausruhen.

»Keine Sorge«, krächzte er, als sie mal wieder anhielten. »Ansteckend ist es nicht.«

»Weiß ich doch.«

»Einfach überhaupt nicht in Form. Habe Monate im Bett gelegen.«

Sie nickte. Er musste wirklich sehr krank gewesen sein; James war nicht der Typ, der es im Bett aushielt, es sei denn, er war zu schwach, um aufzustehen.

»Wird bald wieder besser.«

Unglaublich – der arroganteste Kerl, den sie kannte, entschuldigte sich für seine schwache Kondition. Nicht direkt natürlich, aber doch unmissverständlich. Sie traute sich gar nicht so recht, sich auszumalen, was das bedeutete.

Sie stiegen weiter. Und weiter. Und immer weiter. Es kam wie ein Schock, als sie nach einer Biegung plötzlich in einem großen, lichtdurchfluteten Raum standen. Mary blinzelte und kniff die Augen zu, und als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, stellte sie fest, dass sie auf eine Wand aus Glas und Schmiedeeisen blickte – wie ein riesiges Mosaik, in dem jede Glasscheibe dick und perlweiß schimmernd war, die kleinste ungefähr so groß wie ihr Kopf. Sie waren wunderschön, ausgewogen zu einem kunstvollen Kreis angeordnet. Sie legte den Kopf zurück, um das Muster als Ganzes zu betrachten, und zog überrascht die Luft ein.

Es war die Rückseite eines der Ziffernblätter! Draußen vom Boden her wirkten sie flach und weiß, wie aufgemalt. Aber von innen waren sie durchscheinend und sie brachen das Tageslicht zu einem überirdischen Leuchten. Wie im Traum starrte sie hin und vergaß ganz, wo oder wer sie war. Als sie abrupt wieder zu sich kam, hatte sie keine Ahnung, wie lange sie schon so verzaubert dastand. Eine halbe Minute? Eine halbe Stunde?

Und es gab noch viel mehr zu sehen. Ein langer Tisch in der Mitte des Raumes trug eine riesige Maschine, ein kompliziertes Gewirr von Zahnrädern, Kurbeln und Wellen – das Uhrwerk. Es war überraschend leise; es tickte nicht wie eine Taschenuhr, wenn man auch ein stetes Flüstern gut geölter Metallteile hören konnte, die aneinanderrieben.

Die letzte Treppe, die noch ungefähr fünfzig Stufen hatte, brachte sie in den Glockenstuhl. Dort hingen die Glocken an einer enormen Konstruktion der Dachsparren. Ganz London konnte sich noch an die peinliche und enttäuschende Situation im vergangenen Jahr erinnern, als die große Glocke zum ersten Mal läutete. »Big Ben« war mit einer pompösen Parade in den Hof des neuen Palastes gebracht worden, gezogen von sechzehn weißen Pferden. Aber bald danach war sie gesprungen, musste abmontiert und neu gegossen werden. Die Ersatzglocke – die weiterhin »Big Ben« genannt wurde – war aufgehängt worden. Doch angesichts der Frage nach der Sicherheit auf dem Bau lag es in der Verantwortung von James zu entscheiden, wann die Glocke das nächste Mal geläutet werden konnte.

Die vier Viertelstunden-Glocken waren nach menschlichem Maßstab riesig. Doch sie erschienen winzig, verglichen mit Big Ben. Aus Marys Perspektive war diese Hauptglocke eine dunkle Höhle, in die mehrere Menschen gepasst hätten. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück. Die Glocke war bestimmt fest verankert, aber James’ Anwesenheit hier deutete auf Zweifel hin. Und die Glocke hatte auch etwas Unheimliches – dieses Metallungeheuer, das zerborsten, eingeschmolzen und neu gegossen und dann Zeuge eines Todesfalls geworden war.

Ein kräftiger Luftzug fuhr durch den Glockenstuhl: Die riesigen offenen Bögen an den vier Seiten des Turms ließen das Wetter herein und den Klang der Glocken hinaus. Mary blickte hinunter, und was sie sah, ließ sie nach Atem ringen und automatisch nach der halbhohen Brüstung greifen: die Stadt, die sich in alle Richtungen vor ihr ausbreitete, unendlich riesig und gleichzeitig im Miniaturformat. Alle bekannten Monumente hatten nur noch die Größe ihres Fingernagels. Sie wurde von einem leichten Schwindelgefühl ergriffen, als sie den Blick über die Dächer schweifen ließ, und wagte kaum zu blinzeln, um den magischen Anblick nicht zu verjagen. Noch nie hatte sie so etwas gesehen.

Sie warf James einen Blick zu und erkannte in seinem Gesichtsausdruck ihre eigenen Empfindungen wieder. Er lächelte ihr zu und hätte sicher etwas gesagt – etwas Zärtliches, etwas Vertrauliches –, doch Mary fasste sich schnell. Es war zu gefährlich, auf diese Weise mit James zu flirten. Nicht nur aus Angst um ihre Rolle als Mark Quinn, sondern um ihre gesamte Existenz als Geheimagentin. Sie trat von der Brüstung zurück und taumelte etwas. Nicht aufgrund der Höhe, aber das musste er ja nicht wissen.

»Wie um Himmels willen hat man die Glocke hier hochbekommen?« Ihre Stimme klang übertrieben munter.

Er sah sie an. Zögerte. Dann sagte er langsam: »Flaschenzüge und Menschenkraft. Direkt hier durch.«

»Hier« war eine quadratische Öffnung, die ungefähr zwei bis drei Meter breit war. Mary blickte hinein. Es war ein Schacht, der durch die ganze Höhe des Turmes zu laufen schien. »Ist der zur Belüftung?«

»Genau – Hauptluftschacht. War natürlich nicht dafür gemacht, aber ich glaube, dass die Architekten keine Ahnung hatten, wie groß die Glocke werden würde.«

Sie nickte. »Muss ja eine übermenschliche Aufgabe gewesen sein.«

»Hat Tage gedauert. Verschiedene Arbeiterteams haben sich abgewechselt. Aber das wissen Sie doch alles, Mary, oder nicht? Als Teil Ihrer Hintergrundrecherche?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich höre es lieber von einem Fachmann.«

»Und um die Pause zu füllen und einem Gespräch aus dem Weg zu gehen?«

Sie schaffte es nicht, ihn anzusehen. »Ich muss das alles richtig verstehen. Außerdem, sollten wir uns nicht an die Arbeit machen?«