Zwanzig

Unterwegs vom Palasthof nach Bloomsbury

James war zutiefst beunruhigt. Seine Bitte, die buchhalterischen Unterlagen ansehen zu dürfen, was er für eine reine Formsache gehalten hatte, war bei Harkness auf Ausflüchte, Verzögerungen und schließlich nur sehr widerwilliges Entgegenkommen gestoßen. Nachdem er endlich Zugang erhalten hatte, rechnete James mit einer Stunde Arbeit; stattdessen hatte es seinen ganzen Tag in Anspruch genommen. Jetzt saß er mit von sich gestreckten Beinen in seiner Kutsche auf der Heimfahrt nach Bloomsbury. Er starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Der unangenehme Verdacht, den er schon die ganze Woche gehegt hatte und der rasch zur Gewissheit wurde, beschäftigte ihn immer noch.

Er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. George würde an einem Samstagnachmittag fort sein, und die Aussicht, in dem großen Haus allein zu sein, war ziemlich abschreckend. Er würde nur weiter über diese verfahrene Situation brüten, in der sich Harkness befand, und überlegen, was er dagegen unternehmen könnte – wenn das überhaupt möglich war. Der Heimweg brachte ihn auch einer abendlichen Verpflichtung einen Schritt näher: eine Einladung zum Abendessen bei Harkness zu Hause. Er hatte die Einladung vor einigen Tagen angenommen, mehr aus Pflichtgefühl als aus Vergnügen. Aber nach dem, was er heute herausgefunden hatte, konnten weder er noch Harkness dem Mahl mit Freude entgegensehen. Um genau zu sein, nur ein lächerlicher Hoffnungsschimmer hielt ihn davon ab, in letzter Minute eine Ausrede zu erfinden und abzusagen. Wenn er heute Abend mit Harkness, dem alten Freund seines Vaters, privat reden konnte, stellten sich die Dinge vielleicht nicht als ganz so fatal heraus, wie es jetzt den Anschein hatte.

Das waren seine Gedanken, während die Kutsche sanft schaukelnd am nördlichen Ufer der Themse entlangfuhr. Mürrisch starrte er auf die Straße. Das Wetter draußen war auch nicht besser als seine Stimmung. Sein Blick blieb an einer Gestalt hängen, die unsicheren Schrittes die Straße entlangging. Sie nahm einen bizarren Zickzackkurs von Laternenpfahl zu Laternenpfahl und setzte die Füße äußerst vorsichtig auf, als habe sie Angst, auszurutschen und hinzufallen. Die Gestalt kam ihm sofort unterbewusst bekannt vor: die letzte Person, die er in solch einem Zustand zu sehen erwartete, aber die erste, die er in jedem Fall überall erkannte. Er klopfte zweimal fest an das Kutschendach und sie verlangsamten das Tempo neben der torkelnden Gestalt.

Schmal. Ziemlich schmutzig. Gerötete Wangen.

James griente spöttisch. Eine bessere Ablenkung konnte er sich nicht vorstellen. »Haben Sie sich verirrt?«, rief er durch das Fenster.

Ihr Kopf fuhr herum, sodass sie wankte. Sie brauchte einen Moment, um ihn richtig zu erkennen. Doch dann war sie so offensichtlich erfreut, dass ihm ganz schwach wurde. »Sie!«

Er grinste wie ein Idiot. Jede nassforsche Stichelei war jetzt unangebracht. »Sie sehen aus, als würden Sie gerne mitfahren.« Die Kutsche blieb stehen. Barker wandte höflich das Gesicht ab, als er die Tür öffnete und die Stufen herunterklappte, aber James konnte sich seinen Ausdruck des Missfallens bestens vorstellen.

Mary sah ziemlich verblüfft aus. »Was machen Sie denn hier?«

»Ich fahre heim. Steigen Sie ein.«

Sie legte eine Hand auf die Stirn, als ob sie sich an etwas zu erinnern versuchte.

»Immer noch Schicklichkeits-Vorbehalte?«

»Nein …«

»Ist es, weil Ihre Verkleidung so überzeugend wirkt?«

Sie runzelte die Stirn. »Ich – also, na ja …«

»Ach, hören Sie schon auf.« Er beugte sich hinaus, packte sie bei den Oberarmen und hob sie einfach in die Kutsche. Zum Kuckuck mit den Stufen und der Schicklichkeit und ihren Klamotten. Sie war ganz leicht und doch erschreckte ihn seine eigene Kraftlosigkeit. Vor einem Jahr hätte er überhaupt keinen Gedanken an den Kraftaufwand verschwendet; heute benötigte er seine ganze verbliebene Stärke, um sie hochzuheben. Dennoch gelang es ihm, sie verhältnismäßig sanft neben sich auf die Bank zu setzen, und als sie endlich aufhörte, sich kichernd zu ereifern, waren sie wieder unterwegs. »Puh! Sie stinken nach Bier.«

»Ich dachte, Sie mögen Bier.«

»Doch, schon.« Er legte ihr die Hand unters Kinn und küsste sie auf den Mund. Sie machte ein kleines überraschtes Geräusch und hob die Hände, als wolle sie ihn von sich stoßen. Doch stattdessen legte sie sie auf seine Brust und ließ sie dort liegen, während sie seinen Kuss mit entzückter Begeisterung erwiderte. Unter dem malzigen Bier schmeckte sie köstlich, vertraut. Es war sogar besser als das letzte Mal, unendlich viel besser, und obwohl er ihr eigentlich nur einen kurzen Begrüßungskuss hatte geben wollen, entwickelte sich daraus eine ganze Orgie an Küssen.

Intensiv.

Hypnotisch.

Schwelgend.

Küsse, in denen die Welt zu versinken drohte.

Die Zeit verging, ohne dass es ihm bewusst wurde. Erst als die Kutsche langsamer wurde und schließlich stehen blieb, schreckte er auf.

»Was ist los?«, murmelte Mary. Ihre Stimme war verträumt und wie von weit weg.

»Wir sind –« Er räusperte sich. »Wir sind bei mir zu Hause.«

»Ach so.« Sie zuckte zusammen, dann löste sie sich rasch aus seinen Armen. Es entstand eine verlegene Pause, die sie gleichzeitig brachen.

»Ich sollte gehen.«

»Willst du nicht mit reinkommen?«

Sie riss die Augen auf, und ihm wurde klar, wie das klingen musste. »Auf eine Tasse Tee. Oder wir unterhalten uns. Oder – also, ganz ohne Hintergedanken. Nichts Spezielles. Ich wollte nur sagen, es besteht kein Grund, dass du gehst.«

Sie fuhr sich mit einer Hand übers Haar und sah auf ihre Jungenlumpen hinunter. »Ich glaube, das kommt nicht infrage.«

»George ist nicht zu Hause«, sagte er eifrig. »Nur ich.«

Sie beugte sich zum Fenster und betrachtete das Haus. »Ihr habt doch sicher Personal.«

Überrascht sah er sie an. »Natürlich. Aber die reden nicht.«

Sie machte ein amüsiertes Gesicht. »Das meinst du. Bedienstete klatschen immer.«

»Macht das was aus, wenn sie reden?«

»Ich –« Sie wusste nicht, wie sie es erklären sollte.

James glaubte sie zu verstehen. »Ich weiß schon: Du bist trotz der Verkleidung eine junge Dame. Aber du bist auch etwas angetrunken, und ich weigere mich strikt, dich in diesem Zustand in deine miese Unterkunft zu bringen.«

»So betrunken bin ich nun auch nicht«, sagte sie empört.

»Das hoffe ich allerdings auch, dass du nicht total hinüber bist; das wäre ja wenig schmeichelhaft für mich. Aber du bleibst, bis du wieder nüchtern bist.« Er musste unwillkürlich grinsen. Ihre Reaktion war so durchschaubar, wo er doch normalerweise sehr raten musste, was sie gerade dachte.

Es war ein seltsames Erlebnis, Mary in sein Haus mitzunehmen. Auf einmal fielen ihm die alltäglichen Dinge auf, die er sonst gar nicht mehr wahrnahm: das Klappern seines Schlüssels im Schloss, die dicke elastische Fußmatte unter seinen Stiefeln, die Art, wie seine Stimme in der hohen Diele hallte. James trat zur Seite, um sie hereinzulassen, aber sie zögerte und betrachtete mit unverhohlener Neugier den Garten, was er absolut reizend fand.

Das Haus duftete nach Bienenwachspolitur und Gebäck. Mrs Vine, die seit rund dreißig Jahren Haushälterin bei den Eastons war, kam in die Diele. »Ich warte schon seit zwei Stunden auf Sie, Mr James«, sagte sie und sah ihn kritisch an. »Aber Sie scheinen ja doch nicht so erschöpft, wie ich befürchtet habe.«

Er lächelte. »Das ist das erste Nette, das Sie diese Woche zu mir gesagt haben.«

Sie schnalzte unwillig mit der Zunge. »Gehen Sie und machen Sie sich um Himmels willen frisch. Die Scones werden nicht wärmer.« Ihr Blick wanderte zu etwas hinter ihm. Obwohl sie keine Miene verzog, wurde ihre Stimme förmlich und höflich. »Soll ich für diesen jungen Mann in der Küche decken?«

Mit einer Ruhe, die gespielt war, sagte er: »Nein, Miss Quinn trinkt mit mir zusammen Tee.« Er sah es zwar nicht, merkte aber, wie Mary hinter ihm erstarrte. »Mrs Vine zeigt Ihnen, wo Sie sich – äh – die Hände waschen können.«

Mrs Vines Gesicht zuckte mit keinem Muskel. Sie nickte nur und sagte mit derselben neutralen Stimme: »Bitte folgen Sie mir, Miss Quinn.«

James sah ihnen nach. Mrs Vine segelte voraus, groß und majestätisch, während Mary ihr folgte, scheuer, als er sie je erlebt hatte. Er war sich auf einmal gar nicht mehr sicher, ob er das Richtige getan hatte, indem er sie hergebracht hatte. Was geschah da eigentlich mit ihm? Der eine oder andere Kuss, schön und gut; was in der Kutsche zwischen ihnen gelaufen war, stand jedoch auf einem ganz anderen Blatt. Sie hatte kein Recht, sein Leben einfach so durcheinanderzubringen und dabei vielleicht gar nicht zu merken, dass sie das tat. Und er – lud sie einfach so in seine Privatsphäre ein, wo er von ihr kaum mehr als ihren Namen kannte. Aber für solche Vorsicht war es jetzt zu spät.

***

Mary folgte der amazonenhaften Haushälterin zwei breite Treppen hinauf. Sie war gleichzeitig fassungslos und belustigt. Fassungslos, dass sie hier in James’ Haus war, in den Privaträumen dieses Mannes. Er war doch eigentlich so zurückhaltend, und das hier bedeutete eine neue Stufe der Vertrautheit, über die sie nur widerstrebend, wenn nicht gar ängstlich nachdenken wollte. Mit dem Gefühl der Belustigung war es einfacher. Mrs Vine, die ihr vorauseilte, hätte aus einem Boulevardstück stammen können: versteinertes Gesicht, rasiermesserscharfe Zunge und alles, was dazugehörte. Wahrscheinlich war sie schon bei den Eastons in Diensten gewesen, als James noch ein kleines rundes Baby gewesen war (unvorstellbar!), und zuckte nicht mal mit der Wimper, wenn James abgerissene kleine Jungs mitbrachte, die sich dann als Frau entpuppten.

Die Wirkung des Biers ließ allmählich nach, wenigstens dessen war sie sich sicher. Sie hatte ihre Gliedmaßen wieder fast unter Kontrolle, hatte schrecklich Durst und musste ganz dringend Wasser lassen. Wie viel hatte sie überhaupt getrunken – zwei Halbe? Oder drei? Mehr als je zuvor, das war mal sicher – dabei hatte sie das Gefühl gehabt, so vorsichtig zu sein. Offensichtlich musste sie noch eine ganze Menge über Männer lernen, ob über Handwerker oder arrogante Herren.

Auf dem zweiten Treppenabsatz blieb Mrs Vine stehen. »Ich hoffe, Ihnen nicht zu nahe zu treten, Miss Quinn«, sagte sie mit förmlicher, beherrschter Stimme, »aber würden Sie vielleicht gerne eine etwas ausführlichere Toilette machen wollen?« Als Mary sie verdattert ansah, fügte sie hinzu: »Ich könnte Ihnen ein Bad einlassen …«

Mary wusste, dass sie sich eigentlich beschämt fühlen sollte. Was musste diese Frau davon halten, dass sie taumelnd, schmutzig und abgerissen ins Haus kam und Essen und ein Bad brauchte! Aber Mary hörte nur das Zauberwort Bad. »Ach ja, gerne«, sagte sie ziemlich inbrünstig. »Wenn das nicht zu viel Mühe macht …«

Wie absurd, so etwas zu sagen. Ein Bad machte immer Mühe, viel Mühe. Erst musste Wasser heiß gemacht und drei Stockwerke hochgeschleppt werden, und dann musste das schmutzige Wasser auch noch nach unten gebracht werden, und die Handtücher mussten in die Wäsche. Doch Mrs Vines Mundwinkel deuteten majestätische Zustimmung an, und schon befand sich Mary in einem Raum, der ausschließlich zum Baden eingerichtet war. Das war ja richtig protzig, ein gekacheltes Zimmer eigens zum Baden, mit heißem Wasser, das aus einer Leitung kam, und mit einer Badewanne, die von selbst ablief. Was für eine amüsante Vorstellung, dass James ein Modernisierer mit Badezimmerfimmel war.

Dieses zweite Bad innerhalb einer Woche war natürlich ganz gegen ihre Rolle als echter Arbeiterjunge. Ein Bad sollte ein ganz seltener Luxus sein für Mark Quinn, und es hätte in einer niedrigen Zinkwanne neben dem Küchenkamin stattfinden sollen, nicht in so einem speziell dafür gestalteten Tempel der Sauberkeit. Aber heute Nachmittag machte sich Mary darüber keine Gedanken; nie zuvor hatte sie so in Wasser und Seife geschwelgt. Als sie herauskletterte, stellte sie fest, dass Marks schmutzige Sachen, die hinter dem Wandschirm gelegen hatten, verschwunden waren. Stattdessen lag dort ein Nachthemd aus feinem Leinen, das tadellos gebügelt war und nach Zedernholz duftete, dazu ein leichter Morgenrock. Beides war viel zu groß für sie. Das Nachthemd bauschte sich um ihre Knöchel und der Morgenrock schleifte am Boden. Sie wurde eingehüllt in den typischen James-Duft, der sie wärmte und sie gleichzeitig frösteln ließ. Sie kam sich kühn und skandalös vor – fast wie ein gefallenes Mädchen. Wie die Art von Frau, die sie nie gewesen war.

Sie kämmte sich das Haar – ein seltsames Gefühl, da ihr die Borsten über den bloßen Nacken kratzten. Und dann tauchte Mrs Vine auf, um sie wieder nach unten zu bringen. Die nüchterne Förmlichkeit des Wohnzimmers – James und George konnten anscheinend mit Ziergegenständen und Sofakissen nichts anfangen – ließ sie etwas zurückzucken. Sie war sich der zwei dünnen Stoffschichten nur zu bewusst, die ihr einziger Schutz gegen die Nacktheit in dieser unvertrauten männlichen Welt waren.

James las ein Buch. Er hatte die langen Beine auf das Sofa gelegt, sprang jedoch auf, als sie das Zimmer betrat. Ausnahmsweise kam keine sarkastische Bemerkung. Stattdessen sah er sie fast verlegen an. »Mrs Vine bringt gleich den Tee.«

Sie setzte sich vorsichtig auf den angebotenen Platz neben ihm auf dem Sofa. »Was muss sie nur denken, dass ich in Jungenkleidern aufkreuze, ein Bad brauche und sie mir frische Sachen geben muss, und auch noch ein Nachthemd!«

»Wahrscheinlich ist das Nachthemd das Einzige hier, das dir so einigermaßen passt. Und selbst darin ertrinkst du ja fast!«

»Tja, vielleicht solltest du dir einen Vorrat an Damenkleidern zulegen, nur für alle Fälle.«

Er musste grinsen. »Hast du vor, öfter vorbeizukommen? Oder willst du nur herausfinden, wie oft ich halb nackte junge Damen empfange?«

Sie wurde knallrot. »Weder noch!«

»Wirklich? Klang aber ganz nach dem einen oder anderen für mich.«

Das war der James, den sie kannte. Trotz seiner Neckereien – oder womöglich gerade deswegen – fühlte sie sich auf einmal viel weniger unwohl. »Ich bin sicher, dass du unzählige halb nackte junge Damen triffst, sie aber nicht hierher mitbringst, aus Angst, was dein Bruder sagen könnte.«

»Unglaublich. Meine Bemerkung sollte doch bewirken, dass du einen Eifersuchtsanfall bekommst.«

»Ich dachte, das hätte ich schon neulich Abend in deinem Büro hinter mich gebracht.«

»Kann man so sagen. Du machst dir also wegen Nancy keine Sorgen mehr?«

»Nein.« Das stimmte auch. In diesem Moment und in seiner Gesellschaft schien es sogar lächerlich, dass sie das je getan hatte.

Er hatte sich auch gewaschen und Krawatte und Jackett abgelegt. Sie hatte keine Ahnung, ob er das gemacht hatte, damit sie in ihren provisorischen Hüllen weniger befangen war, oder ob er vorhatte, sich noch weiter auszuziehen. Bei der Vorstellung erschauerte sie, obwohl sie keine Angst hatte. Zumindest nicht in der üblichen Art.

»Dein Haar.« Er berührte die kurzen Strähnen. »Hat es dir leidgetan, es abzuschneiden?«

Sie schüttelte den Kopf, nur ganz schwach, damit er seine Hand nicht zurückzog. »Darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Es hat einfach sein müssen.«

»Dauert es lang, bis es nachwächst?«

»Das glaube ich nicht, es wächst so schnell.«

»Mmm.« Seine Finger glitten tastend über ihren Nacken. »Das hier ist ein Schwachpunkt an deiner Jungenverkleidung, weißt du das?«

»Was, mein Hals?« Selbst ihr ungläubiges Erstaunen klang atemlos.

Er lächelte. »Zu lang. Zu schlank. Und« – er beugte sich vor und küsste ihr Schlüsselbein – »lange nicht schmutzig genug.«

Sie prustete los. »Beklagst du dich darüber?«

Mrs Vine trat ein mit einem beladenen Teetablett. Sie stellte es ab und wandte sich Mary zu. »Entschuldigen Sie, Miss Quinn, aber als ich Ihre Hose waschen wollte, habe ich das hier in der Tasche gefunden. Wollen Sie es behalten?«

»Das hier« war das zerknüllte Stück Papier, das sie Reid am Nachmittag entwendet hatte; die Sache, nach der sie ihr Gedächtnis abgesucht hatte, ehe ihr Schwips und James jeglichen Verstand aus ihrem Bewusstsein vertrieben hatten. Sie ergriff es mit einem viel zu lauten: »Ja, vielen Dank!« Bestimmt konnte man ihr ihren Schrecken ansehen. Doch Mrs Vines Gesicht blieb so ausdruckslos wie immer. Sie neigte nur den Kopf, dann verließ sie das Zimmer mit raschen, geräuschlosen Schritten.

»Was ist das?«

Statt einer Antwort entfaltete sie den Zettel vorsichtig. Es war ein kleiner zerknitterter Briefumschlag mit eingerissenen Rändern, schmutzig vom vielen Anfassen. »Das ist Reid heute Nachmittag im Pub aus der Tasche gefallen.«

»Rausgefallen? Oder hast du nachgeholfen?«

Sie grinste. »Nein, ich hab’s ihm nicht gestohlen. Aber ich hab’s ihm auch nicht zurückgegeben.« Sie drehte das Stück Papier um und deutete auf das Bleistiftgekritzel in einer Ecke des Umschlags. Es handelte sich um ein einfaches Muster schmaler Dreiecke, die alle schraffiert waren. »Kommt dir das bekannt vor?«

James schluckte heftig. Nach einem Augenblick nickte er offensichtlich widerstrebend. »Das schließt den Kreis.«

»Wirklich?« Sein unglücklicher Ausdruck gefiel ihr gar nicht.

»Ganz bestimmt«, sagte er unwirsch. »Es würde ihn vor Gericht nicht überführen, aber diese Zeichen – die sind eindeutig. Harkness kritzelt sie immer vor sich hin, wenn er mit einem Bleistift in der Hand nachdenkt. Das ganze Rechnungsbuch ist damit bedeckt, andere Papiere auch, und nun das hier. Dieser Umschlag beweist, dass er mit den Diebstählen der Maurer was zu tun hat.«

»Reid hat den Umschlag vielleicht entwendet.«

»Was soll Reid denn mit einem alten Umschlag anfangen? Nein, nein. Betrachte es mal von der anderen Seite: Wenn Harkness in die Geschichte verwickelt ist, erklärt das, wie die Maurer so lange so viel klauen konnten.«

Sie schwieg. Das Gekritzel auf dem Umschlag bewies zumindest, dass Reid ihn von Harkness bekommen hatte. Es war keine Lohntüte, das konnte also ausgeschlossen werden. Und es war ein feiner Briefumschlag – viel zu klein, um zum Beispiel Bauzeichnungen zu enthalten. Sie strich den Umschlag mit den Fingern glatt. Er war nicht adressiert oder abgestempelt worden – was ja logisch war, denn wer würde Informationen über rechtswidrige Vorgänge schon der Post anvertrauen?

Während sie das Beweisstück noch betrachtete, stieg eine andere Befürchtung in ihr auf. Wenn sich Reid und Keenan am Nachmittag ausgesöhnt hatten, würde Keenan jetzt wissen, dass auch sie von ihren Machenschaften wusste. Und selbst wenn Reid und Keenan noch über Kreuz waren, dann hatte Keenan Reid die Information womöglich entlockt. Mary bezweifelte nicht, dass er rabiat genug war, um auf seinen Freund und Kollegen loszugehen, sogar mit Gewalt, um sein Ziel zu erreichen. In beiden Fällen war jetzt ein gefährlich aufgebrachter Mann hinter ihr her. Und diesmal würde Harkness nicht in der Nähe sein, um sie zu retten.

Sie fröstelte. Sie war selbst daran schuld. Sie mit ihrem törichten, übertrieben selbstbewussten Gehabe. Sie hätte niemals versuchen dürfen, Reid in die Ecke zu drängen. Was war nur in sie gefahren? Ihre innere Stimme gab ihr sofort die Antwort: der Entschluss, in das Pub zu gehen. Das Bier hatte sie mutig gemacht, und der umgängliche Ton hatte sie dazu verführt, Dinge zu sagen, die sie auf der Baustelle nie zu sagen gewagt hätte. Was hatte sie da angestellt?

»Was ist los?« James’ Stimme war scharf vor Besorgnis.

Sie schüttelte den Kopf.

»Sag es, Mary. Du musst es mir sagen.«

»Ich muss?« Aha: die autoritäre Seite seines Charakters. Die hatte sie fast vergessen.

»Ja, du ›musst‹. Die Dinge zwischen uns stehen jetzt anders.« Er ergriff ihre Hände und schüttelte sie sanft. »Das wissen wir doch beide.«

Sie sah ihm kurz in die Augen und ihr Ausdruck ließ sie beben. Sie war freudig, selig, entsetzt und einen Augenblick später völlig verzweifelt. Nur ihre Gefühle waren echt: Alles andere zwischen ihr und James beruhte auf einer Lüge. Und sie würde nie in der Lage sein, ihm die Wahrheit über sich zu erzählen. Nicht, ohne die Agentur zu verraten und die Frauen, die ihr das Leben gerettet hatten und denen sie alles zu verdanken hatte.

»Mary!«

Wieder ihr Name auf seinen Lippen. Am liebsten hätte sie geweint, aber das konnte sie sich nicht leisten. Stattdessen holte sie tief Luft, nickte und erzählte ihm von ihrer Begegnung mit Reid. So viel konnte sie ja verraten. Als sie fertig war, warf sie ihm einen Blick zu und sah darin die Anteilnahme – nein, die Besorgnis.

»Das müssen wir der Polizei melden.«

»Was müssen wir melden? Dass ich jemandem Diebstahl vorgeworfen habe?«

»Dass ein gewalttätig veranlagter Mann, den wir stark im Verdacht haben, hinter den Diebstählen zu stecken, einen Grund haben könnte, dir etwas anzutun. Du bist doch viel zu klug, um nicht zu sehen, dass Keenan alles, was Reid weiß, auch bald wissen wird.«

»Da kann doch die Polizei nichts machen. Was schlägst du vor – dass mich ein Bobby am Montag auf die Baustelle begleitet?«

Er presste die Lippen zusammen. »Du gehst am Montag nicht auf die Baustelle.«

»Da: schon wieder!«

»Was?« Er sah sie ehrlich verblüfft an.

»Du kommandierst mich herum, als sei ich ein beschränktes Kind.«

»Ich halte dich keineswegs für beschränkt und schon gar nicht für ein Kind.«

»Aber du hast mir gerade befohlen, was ich tun soll.«

»Ich habe dir nur gesagt, was die vernünftige Reaktion wäre.«

»Genau das ist es doch – du sagst es mir!« War das der Streit zwischen zwei Liebenden, obwohl sie doch gar keine Liebenden waren? Es sah so aus. »Du hast kein Recht, für mich Entscheidungen zu treffen.«

Er spannte den Kiefer an. »Es geht hier doch nicht um Recht; es geht um Vernunft.«

»Du behauptest also, dass du im umgekehrten Fall meiner Anweisung gehorchen würdest, am Montag nicht zur Arbeit zu gehen?« Ihre Wut steigerte sich rasch, aber das war ihr im Moment egal.

»Nun werde doch nicht gleich theoretisch. Die Schwierigkeit ist, wie sie ist.«

»Und du bist, wie du bist!«

»Wie denn?«, presste er hervor. Er klang jetzt kalt und verärgert.

»Arrogant, selbstherrlich und herrschsüchtig!«

»Lieber das als arrogant, impulsiv und unvernünftig.«

Sie stand abrupt auf und ging im Zimmer auf und ab. »Das ist mein Leben, nicht deines! Kannst du das nicht verstehen?«

»Soweit ich verstehe, würdest du am Montag lieber deine Sicherheit aufs Spiel setzen, als zuzugeben, dass ich recht habe.«

»Falsch! Du hast in Bezug auf Keenan sicher recht, aber ich stimme nicht überein mit deiner Strategie, wie man damit umgeht. Und ich lasse einfach nicht zu, dass du mich herumkommandierst, nur weil – weil –«

Er war ebenfalls aufgestanden, wie es sich für einen Gentleman gehörte. Jetzt stand er mit verschränkten Armen da.

»Na los – sag es schon. ›Weil …‹«

Doch sie zögerte auszusprechen, was sie für James empfand. Sie konnte nicht davon ausgehen, dass er genauso empfand, jetzt, wo er sie auf einmal mit so kalten grauen Augen anstarrte. Während sie mit sich kämpfte, versickerte ihr Gefühl von gerechtfertigter Empörung. Zurück blieb nur Verzweiflung. Es spielte keine Rolle, wie dieser Streit ausging. Auf einmal war sie völlig erschöpft. Hinter ihren Schläfen pochten Kopfschmerzen. »Weil«, sagte sie ermattet, »weil du dich um meine Sicherheit sorgst. Ich weiß das und ich mache mir auch Sorgen und wische das nicht einfach beiseite. Aber ich weigere mich, sofort die Polizei einzuschalten.«

Er schwieg lange. Dann sagte er: »Und was ist mit Montag?«

»Habe ich noch nicht entschieden.«

»Was willst du jetzt tun?«

»Tja, wir könnten doch nachforschen, wie Harkness, Keenan und Reid genau miteinander verbandelt sind.«

Statt zu antworten, schob er das Teebrett in ihre Richtung und sagte: »Willst du einschenken?« Die üblichen Rituale halfen, die Spannung zwischen ihnen abzubauen: Tee, Sahne, Zucker, Sandwiches, Kuchen. Indem ihre Hände mit Kleinigkeiten beschäftigt waren, war es leichter, so zu tun, als würde das auch auf ihre Gedanken zutreffen.

»Vielleicht ziehen wir in Bezug auf Harkness voreilige Schlüsse«, sagte Mary schließlich, als James nur noch in seine Teetasse starrte. »Vielleicht hat Reid den Umschlag doch von seinem Schreibtisch geklaut.«

Er nickte unmerklich. »Aber wenn Harkness unschuldig ist, verstehe ich nicht, warum er die Diebstähle nicht gemeldet hat. Oder Keenan und Reid rausgeworfen hat. Irgendwie steckt er da mit drin, und zwar ganz persönlich.«

»Also, immerhin scheint er den Männern gegenüber eine gewisse Verantwortung zu spüren. Mark Quinn gegenüber zum Beispiel – indem er ihn nicht nur eingestellt hat, sondern ihm auch was beibringen will.«

»Stimmt.« James zerkrümelte ein Scone zwischen seinen schlanken Fingern. »Vielleicht stellt er ihnen ja eine Falle, oder er will sie überreden, ihre Unarten aufzugeben?«

»Möglich. Warum versuchen wir nicht, mehr über ihre Beziehung herauszukriegen, ehe wir das Schlimmste annehmen? Wenn du der Polizei deinen Verdacht mitteilst und es stellt sich raus, dass Harkness unschuldig ist, dann wirst du dir das nie verzeihen.«

»Und er mir auch nicht«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug mit silbrigem Ton sechs. Beide sahen hinüber, dann sahen sie sich überrascht an. »Ich bin heute Abend bei Harkness zum Essen eingeladen. Vielleicht erfahre ich dort ja etwas.« Er trank seine Tasse leer, stellte sie entschlossen ab und warf ihr ein charmantes Lächeln zu. »Würdest du gerne mitkommen?«

»In deinem Nachthemd?« Sie lachte.

»Nein, das brauchst du nicht.«

»Wie bitte?« Sie spürte, wie sie von Kopf bis Fuß rot wurde.

»Tz, tz, Miss Quinn – wohl doch nicht so unschuldig, wie es sich für eine junge Dame geziemen würde.«

»Das muss dich ja ziemlich enttäuschen.«

Darüber musste er laut und herzhaft lachen. »Ich war noch nie weniger enttäuscht in meinem Leben.«

Wieder lief eine Welle der Hitze durch ihren Körper und sie konnte nicht zu lächeln aufhören. »Na los – wie soll ich dich heute Abend begleiten?«

»Als Mark Quinn natürlich. Ich bin überrascht, dass du fragen musst.«