Heiligabend
1
Alicia fuhr bergab durch die Dunkelheit auf die Lichter von New Paltz zu. Sie fühlte sich ausgelassen, beinahe euphorisch.
Zwei Tage hatte sie gebraucht, zwei Tage voller Qual, aber am Ende hatte sie einen Entschluß gefaßt.
Und nun fühlte sie sich – sauber. Ja, sauber, das war das einzige Wort dafür. Es war, als hätte sie eine abgewetzte, von Motten zerfressene Haut abgestreift und eine neue erhalten, die sie der Welt jetzt zeigte.
Von jetzt an war sie eine andere Alicia Clayton. Sie hatte eine ganz neue Haltung. Eine ganz neue Einstellung. Gleich heute würde sie damit beginnen. Es würde nicht leicht sein, darüber machte sie sich keine Illusionen. Aber sie hatte das Gefühl, wenn sie es schaffte, so zu tun, als wäre sie die neue Alicia, dann würde sie eines Tages selbst daran glauben.
Das war die einzige Möglichkeit, um weiterzumachen. Denn das Leben, das sie bisher geführt hatte, war kein richtiges Leben gewesen. Sicher, die Arbeit war wichtig, aber es mußte mehr geben als nur das. Alicia war entschlossen, das Leben auszukosten, es zu genießen.
Ein gutes Leben zu führen, ist die beste Revanche… wie oft hatte sie diesen Satz schon gehört? Nun erkannte sie, daß er voll und ganz auf sie zutraf.
Alicia hatte einen der Nachrichtensender aus der Stadt eingestellt, während sie durch die verschneiten, mit Girlanden geschmückten Straßen von New Paltz fuhr. Sie war zwei Tage weg gewesen, stellte jedoch fest, daß sie nicht viel versäumt hatte.
Die einzige halbwegs interessante Meldung betraf einen arabischen Handelsattaché namens Nazer oder so ähnlich, der vor seinem Apartment in Manhattan auf eine Art und Weise ermordet worden war, die an eine Hinrichtung erinnerte. Ein Attentat? so fragte der Nachrichtensprecher. Die Polizei untersuchte zur Zeit, ob diese Tat in irgendeiner Verbindung zu dem ermordeten Araber stand, der zusammen mit fünf anderen Leichen in den Catskills aufgefunden worden war.
Diese Frage stellte sich Alicia auch.
Sie schaltete das Radio aus, als sie auf die Schnellstraße gelangte. Sie griff nach dem Mobiltelefon. Ein heftiger Druck legte sich auf ihre Brust, als sie eine Nummer eingab. Der Daumen verharrte für einen kurzen Moment über der SENDEN-Taste, doch dann holte sie tief Luft und drückte sie.
Als sie hörte, wie die vertraute Stimme sich mit einem freundlichen »Hallo« meldete, hätte sie am liebsten die Verbindung gleich wieder unterbrochen, doch dann zwang sie sich dazu, die Worte auszusprechen.
»Will? Hier ist Alicia. Können wir reden?«