5
Als Jack das Ende der Treppe erreichte, fragte er sich, ob das, was Alicia offenbar an Mißbrauch erlebt hatte, in diesem Keller begangen worden war. Durchaus möglich, wenn man sich ihre heftige Reaktion ansah.
Er suchte den Lichtschalter und schaute sich um.
Vielleicht hatte Ronald Clayton tatsächlich eine Kellerwerkstatt gehabt. So, wie es jetzt dort aussah, ließ sich das schwer feststellen. Das Abbruchunternehmen des Arabers hatte auch hier unten ganze Arbeit geleistet – vielleicht hatten sie hier sogar angefangen. Sie hatten die abgehängte Decke herausgerissen, hatten die Täfelung von den Wänden entfernt, die Möbel zerlegt und die Polster zerschnitten. Er sah etwas, das an eine Matratze und an einen Sprungrahmen erinnerte, daher vermutete er, daß hier unten wahrscheinlich auch ein Bett gestanden hatte.
Jack tastete mit dem Fuß im Schutt herum und fand verschiedene elektronische Bauteile – gedruckte Schaltungen, Speicherchips und ähnliches Zeug –, aber wenn sie hier einen funktionstüchtigen Computer gefunden hatten, dürften sie ihn wohl mitgenommen und irgendwo aufgestellt haben, wo sie ihn bis auf den letzten Byte untersuchen konnten, vermutete er.
Er stieß außerdem auf einige Lampenleisten und betrachtete erstaunt die übergroßen Fassungen. Doc Clayton mußte hier unten großen Wert auf optimale Beleuchtung gelegt haben.
Jack stocherte noch ein wenig länger in den Trümmern herum, dann ging er wieder nach oben. Er fand Alicia im Eßzimmer, wo er sie zurückgelassen hatte. Sie stand immer noch neben dem Schutthaufen, die Hände zu Fäusten geballt an den Seiten und offenbar jederzeit bereit, aus der Haut zu fahren.
»Haben Sie etwas gefunden?« fragte sie.
»Nur einen weiteren Abfallhaufen wie den dort.«
»Es … es tut mir leid, daß ich nicht mit Ihnen dort hinuntergehen konnte«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Es ist nur …«
»Sie brauchen nichts zu erklären.«
»Das hatte ich auch nicht vor. Ich sage Ihnen nur, daß dies mein augenblicklicher Zustand ist, und es gibt nicht viel, was ich dagegen tun kann.«
»Okay.« Dann eben nicht, dachte er. Dies war nicht der geeignete Ort oder Zeitpunkt für lange Erklärungen. »Dann werden wir eben zusehen müssen, daß wir darauf so gut wie möglich Rücksicht nehmen und trotzdem weiterkommen.«
Sie deutete auf die Verwüstung. »Könnte es nicht sein, daß wir nur unsere Zeit vergeuden?«
»Schon möglich«, gab Jack zu. »Aber ich weiß ganz gut über Verstecke Bescheid, vielleicht weiß ich sogar einiges, was die anderen nicht wissen. Eines weiß ich jedenfalls ganz genau, nämlich daß man die besonders wertvollen Dinge möglichst nahe bei sich deponiert, wo man das Versteck gut im Auge behalten kann und schnellstens herankommt, wenn sich die Notwendigkeit ergeben sollte.« Er sah sie an. »Wo war das Schlafzimmer Ihres Vaters?«
»Oben.«
»Ist es für Sie ein Problem, mit mir nach oben zu gehen?«
»Nein. Mein Zimmer war auch dort.«
Jack ging voraus, während Alicia ihm den Weg erklärte. Am Ende der Treppe bogen sie nach links ab und kamen zum Schlafzimmer.
Vielleicht hatte es einmal ausgesprochen maskulin ausgesehen, vielleicht waren auch einige feminine Elemente aus der Zeit erhalten geblieben, als Alicias Mutter noch dort gewohnt hatte. All das waren jedoch nur Vermutungen. Das Zimmer war total auseinandergenommen worden. Was immer ihm einmal Charakter oder Persönlichkeit verliehen hatte, lag jetzt auf dem Haufen in der Mitte des Zimmers.
Er entdeckte einen Vorschlaghammer und zwei Brecheisen, die an der Wand in einer Ecke am anderen Ende des Zimmers lehnten. Er durchquerte das Zimmer, um sich das Loch in der Wand anzusehen, das sich ebenfalls dort befand.
»Sehen Sie sich das mal an«, sagte er, während er mit den Fingern an den gezackten Rändern eines Wandbrettes entlangstrich. »Sie haben hier tatsächlich die Wand aufgestemmt.«
Hinter der schartigen Öffnung befand sich ein Fach – ein versteckter Wandschrank, ausgestattet mit Regalbrettern. Leeren Regalbrettern.
»Das sieht aus wie eine geheime Bibliothek. Wußten Sie davon?«
Alicia, steif und bleich, stand am anderen Ende des Zimmers unweit der Tür. Sie war gerade erst über die Schwelle getreten.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Was hatte Clayton dort aufbewahrt? fragte sich Jack. Wissenschaftliche Magazine und ähnliche Unterlagen? Seine Aufzeichnungen über das, hinter dem die andere Seite her ist?
Er drehte sich um und trat mit einem Fuß den Schutthaufen auseinander. Kein Papier.
»Nun, was immer hier untergebracht war, ist verschwunden – entweder war es schon weg, als unsere Freunde hier waren, oder sie haben es mitgenommen.« Er ging auf Alicia zu. »Schauen wir uns mal Ihr Zimmer an.«
»Mein Zimmer? Warum?«
»Nun, er hat Ihnen das ganze Haus hinterlassen, nicht wahr? Vielleicht auch noch etwas anderes. Wo entlang?«
Alicia deutete den Flur hinunter zu einer dunklen Tür. Jack ging hindurch und stieß auf eine weitere Demonstration methodischer Zerstörung. Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Trümmerhaufen in der Zimmermitte.
»Erkennen Sie irgend etwas?«
»Nein.« Alicia war hinter ihm eingetreten und ging nun langsam durch das Zimmer. »Warum sollte ich? Ich ging weg, als ich achtzehn war, und war danach nicht mehr hier.«
»Nicht einmal?«
»Nicht einmal.«
Etwas Rundes und Glänzendes fiel Jack ins Auge, und er bückte sich, um es aufzuheben. Ein winziger Gummireifen.
»Haben Sie Spielzeugautos gesammelt?« fragte er und hielt Alicia den Reifen hin.
Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn ratlos.
»Nein. Niemals.«
»Vielleicht Ihr Bruder?«
»Nein … Thomas war ein typischer Stubenhocker … Bücher, Filme, Videospiele. Ich glaube, sein Interesse für Autos beschränkte sich darauf, daß sie ihm gestatteten, zu fahren anstatt zu Fuß zu gehen.« Sie hielt den Reifen ans Licht und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. »Wo ist denn der Rest davon?«
»Irgendwo da drin, nehme ich an«, antwortete er und wies auf den Schutthaufen. »Ich denke, ich schaue mir mal die Badezimmer an.«
»Warum?«
»Weil es dort Rohre gibt.« Auf ihren fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Ich erkläre es Ihnen auf dem Weg dorthin.«
»Das ist schon okay«, sagte sie. »Ich bleibe hier.«
Er ließ Alicia zurück, die sich mittlerweile hingekniet hatte und den Schutthaufen durchwühlte.
Jack kehrte in Claytons Schlafzimmer zurück, holte sich eins der Brecheisen und begab sich damit in das große Badezimmer. Eines, worauf man sich in diesen alten Gebäuden nahezu hundertprozentig verlassen konnte – es sei denn, jemand hatte eine gründliche Renovierung vorgenommen –, waren Kupferrohre für die Wasserversorgung. Er hatte in der Küche Kupferrohre gesehen, und Metallrohre boten einzigartige Möglichkeiten, wenn man etwas Metallisches verstecken wollte.
Ein Blick ins Bad zeigte, daß das Waschbecken und die Toilette herausgerissen worden waren, aber die Sucher hatten die Fliesen nicht abgeschlagen, um die Rohre freizulegen. Jedenfalls noch nicht.
Jack begab sich als nächstes zu dem Wandfach im Schlafzimmer, das eine gemeinsame Wand mit dem Bad hatte. Als er die Wand abklopfte, fand er eine Stelle, die hohl klang. Das gehörte nicht zum ursprünglichen Haus. Das Bad war vermutlich vergrößert worden. Er kniete sich hin und fuhr mit den Fingern über die obere Kante der breiten Scheuerleiste am unteren Ende der Wand, bis er eine winzige Lücke ertastete. Dort hinein schob er die flache Spitze des Brecheisens. Ein sanfter Zug war alles, was nötig war – ein einfacher Schraubenzieher hätte es ebensogut geschafft –, und die Leiste löste sich und gab den Blick auf einen knapp zehn Zentimeter breiten Spalt zwischen Fußboden und Wand frei.
Genauso wie zu Hause, dachte Jack.
Im Laufe der Jahre hatte er einiges von seinem Geld in Goldmünzen angelegt – eine schlechte Investition, sicher, aber wie sollte er sonst seine Ersparnisse aufbewahren, ohne eine Bank einzuschalten? Er versteckte sie in seiner Wohnung, indem er sie an die Wasserrohre klebte. Auf diese Art und Weise waren die Münzen sicher vor jedem, der seine Wohnung auf den Kopf stellte, auch wenn der potentielle Eindringling einen Metalldetektor bei sich hätte. Er würde damit rechnen, daß der Detektor sich melden würde, wenn er über die Wasserrohre geführt wurde, und niemand würde den Verdacht schöpfen, daß auch noch etwas anderes die Suchstrahlen reflektierte.
Jack griff mit der Hand hinein und fand die Rohre, die zum Badezimmer gehörten. Seine suchenden Finger brauchten weniger als eine Minute, um das Objekt zu lokalisieren, das an einem der Rohre klebte.
»Hallo!«
Jack entfernte das Klebeband und holte seinen Fund aus der Spalte.
Er konnte in der Dunkelheit nichts erkennen, aber es fühlte sich hart und flach an und befand sich in einer Kunststoffhülle. Er verließ den Wandschrank, um seinen Fund bei besserer Beleuchtung genauer zu betrachten.
Es war ein keilförmiges rotes Kunststoffetui. Er öffnete die Klappe und zog einen Schlüssel heraus, in den eine Nummer –»#137« – eingraviert war.
Jack lächelte. »Bin ich nicht gut?«
Der Araber und sein Abrißtrupp hätten den Schlüssel sicherlich irgendwann gefunden, vor allem wenn sie, wie sie offenbar geplant hatten, das Haus Stein für Stein auseinandergenommen hätten. Aber nun würden sie nichts finden. Das geschah ihnen recht.
Dem Aussehen nach zu urteilen, war es der Schlüssel eines Schließfachs. Oder vielleicht gehörte er auch zu einem größeren Depot. Aber wo befand es sich?
Darüber würde er sich später den Kopf zerbrechen können, wenn sie nicht auf die Zeit achten mußten.
Er machte sich auf die Suche nach Alicia.