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»Drahtlose Energie, hä?«
Alicia beobachtete von ihrem Standort in der Ecke neben den Aktenschränken aus, wie Baker vor den elektronischen Geräten auf und ab ging.
Er hatte wissen wollen, was diese Anlage bewirkte, was sie erzeugte – »Was hat dieser Scheiß zu bedeuten?« hatte seine nicht gerade präzise Frage gelautet –, und sie hatte es ihm erklärt. Warum auch nicht? Ihr war es gleichgültig, wer alles davon erfuhr. Sie wollte ihn nur von sich ablenken und selbst nicht ständig an die Leichen auf dem blutverschmierten Fußboden denken müssen.
Thomas war nicht mehr. So schnell. Gerade hatte er noch dort gestanden und geredet, und jetzt war er schon tot. Sie versuchte, so etwas wie Trauer zu entwickeln, aber da war nichts. Mitgefühl … wo war ihr Mitgefühl für jemanden, der die Hälfte ihrer Gene hatte, auch wenn es die schlechte Hälfte war?
Weg. Ebenso wie Thomas. Und was bedeuteten Gene überhaupt? Weshalb sollte man am Schicksal von jemandem Anteil nehmen, der nicht mehr ist als die schlechte Karikatur eines menschlichen Wesens, nur weil man das gleiche genetische Material besitzt?
Aber sogar Thomas hatte etwas Besseres verdient, als niedergeschossen zu werden wie ein toller Hund.
»Drahtlose Elektrizität«, sagte Baker und massierte sein Kinn. »Mein Gott, der Wert einer solchen Erfindung muß …«
Ein Stöhnen ließ Alicia erschrocken nach unten blicken. Der Araber, den Thomas kurz vorher Kernel genannt hatte, bewegte sich und krümmte sich, während er die Hände gegen seinen blutenden Bauch preßte.
»Bitte«, stöhnte Kernel mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein mattes Flüstern, »ich brauche einen Arzt.«
Baker winkte Alicia mit der Pistole heran und deutete dann mit der Waffe auf den Araber. »Sie sind Ärztin, nicht wahr? Kümmern Sie sich um ihn.«
»Womit? Er muß ins Krankenhaus.«
»Untersuchen Sie ihn, verdammt noch mal!«
»Schon gut.«
Alicia ging hinüber zu Kernel und kniete sich neben ihn. Aus dieser Position konnte sie Thomas Waffe auf dem Fußboden dicht neben dem Körper des Verwundeten sehen. Für Baker war sie jedoch von seinem Standort aus unsichtbar. Aber sie befand sich weit außerhalb von Alicias Reichweite. Trotzdem war es gut zu wissen, wo sie sich befand.
Sie erstarrte, als sie sah, wie sich eine von Thomas’ Händen öffnete und schloß. Sie schaute in sein Gesicht, sah, wie er die Augen aufschlug, für einen kurzen Moment blind ins Leere starrte und sie dann wieder schloß.
Er lebt noch, dachte sie, aber lange hält er nicht mehr durch.
Der Araber ächzte gequält, als Alicia versuchte, ihn auf den Rücken zu drehen, daher war sie dazu gezwungen, ihn von der Seite zu untersuchen. Behutsam – wobei all ihre Erfahrung mit Infektionskrankheiten angesichts der Gefahr, mit Blut in Berührung zu kommen, Alarmsignale in ihr Bewußtsein schickte – zog sie seine Hände von der Wunde weg. Sie sah das feucht glänzende hellrote Loch in seinem Oberhemd, sah gleichzeitig das Blut heraussickern und nahm einen fäkalen Geruch wahr.
Im Geiste ging sie sämtliche Möglichkeiten durch: perforierter Darm, innere Blutungen, aber Haupt- und Nierenschlagader wahrscheinlich unversehrt, sonst wäre er längst gestorben. Und es gab absolut nichts, was sie hätte tun können, um ihm zu helfen.
Kernel stöhnte erneut schmerzerfüllt auf.
»Er ist in Lebensgefahr«, stellte sie fest.
»Das hätte ich Ihnen auch sagen können«, entgegnete Baker. »Ich habe schon eine Menge Bauchschüsse gesehen. Ein häßlicher Tod. Was können Sie für ihn tun?«
»Hier gar nichts«, erwiderte sie und erhob sich. »Er muß dringend operiert werden.«
»Nun ja«, sagte Baker mit einem Haifischgrinsen, während er die Pistole auf sie richtete. »Ich denke, damit sind Sie hier verdammt nutzlos, nicht wahr?«
Alicia kämpfte gegen die aufkeimende Panik an. Wieviel wußte er? Sie schluckte, spürte dabei ein Kratzen in ihrer ausgetrockneten Kehle.
»Nicht, wenn Sie diese Technik der drahtlosen Energie verkaufen wollen«, sagte sie.
»Was soll das heißen?«
»Weil ich die einzige bin, die das ermöglichen kann.«
Sie sah, wie sich Bakers Augen verengten, als er sie eingehend musterte. Innerlich zitterte sie wie Espenlaub. Sie schickte im stillen ein Bittgebet zum Himmel, daß es nicht zu erkennen wäre.
»Ja? Und warum sollte ich Ihnen das glauben?«
Wieviel wußte er? Hatte er das Testament gesehen? Nein … die Wahrscheinlichkeit sprach dagegen. Aber im Hinblick auf die Greenpeace-Klausel im Testament hatte man ihm wahrscheinlich von Anfang an eingebleut, ihr keinen Schaden zuzufügen. Zumindest hoffte sie, daß es so war. Falls sie sich irrte, würde ihr nach ihren nächsten Worten sicherlich Thomas’ Schicksal blühen.
»Sie meinen, Ihnen wurde nicht befohlen, mich mit Glacehandschuhen anzufassen?«
Sie beobachtete ihn, wie er sich diese Frage durch den Kopf gehen ließ, dann sah sie, wie er die Pistole senkte.
»In Ordnung«, sagte er, »wir werden das klären, sobald wir mit Ihrem Freund fertig sind.«
»Er ist nicht mein Freund.«
»Das glaube ich auch nicht. Sonst hätte er nämlich nicht ohne Sie so schnell das Weite gesucht.«
Darüber hatte Alicia auch schon nachgedacht. Sie hatte zu ihrem Schrecken gesehen, wie er geflüchtet war, anstatt einzugreifen, aber wenn sie seine Chancen bedachte, drei bewaffnete Männer zu überwältigen, konnte sie es ihm eigentlich nicht verübeln. Sie hoffte nur, daß er vorhatte, zurückzukommen, um sie zu holen.
Sie erkannte schlagartig, daß sie nicht zu hoffen brauchte. Sie wußte, daß er zurückkommen würde.
Sie mußte endlich anfangen, an irgendeinen anderen Menschen zu glauben.
Plötzlich hörte sie aus dem Wald Schüsse.
»Das klingt, als hätten meine Jungs Ihren Typen gefunden«, meinte Baker mit spöttischem Grinsen. »Ich möchte jetzt nicht in seiner Haut stecken. Noch nicht einmal für all das Geld, das diese Sache hier wert ist.«
Weitere Schüsse fielen.
»Hören Sie doch«, sagte Baker und grinste breit. »Das klingt wie Musik in meinen Ohren.«