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Alicia zwang sich zum Weitergehen, setzte ganz bewußt einen Fuß vor den anderen, während sie um die Ecke bog und über den Bürgersteig auf das Haus zuging.
Sie versuchte an alles mögliche zu denken, nur nicht an das Haus, und stellte sich Hector in der Kinderintensivstation vor. Der kleine Kerl wurde immer schwächer. Es war keine Frage mehr – er hatte sich einen resistenten Stamm Candida Albicans eingefangen. Seine weißen Blutkörperchen, eine der Hauptabwehrwaffen des Körpers gegen Infektionen, verschwanden nach und nach aus seinem Blutkreislauf. Die Zahl hatte am Morgen nur noch 3200 betragen und war bis zum Nachmittag bis auf 2600 abgesunken. Die Infektion schritt aggressiv voran und überholte das Knochenmark in seiner Fähigkeit, neue weiße Blutkörperchen zu produzieren.
Und es gab eigentlich nichts mehr, was sie noch für ihn tun konnte.
Woraufhin ihre Gedanken Hector verließen und zum Haus zurückkehrten. Das Haus …
Warum betrachte ich es als so eine Qual, fragte sie sich. Es ist doch nur ein Gebäude, eine Ansammlung von Steinen und Holz. Warum also diese heftige Reaktion?
Aber mit kalter Vernunft gelangte sie nicht weiter. Je mehr sie sich dem Haus näherte, desto schneller schlug ihr Herz. Sie wollte es noch nicht einmal ansehen. Sie hielt den Blick starr geradeaus gerichtet und konzentrierte sich auf die Gestalt im weiten Mantel, die am Wagen der Sicherheitsleute lehnte.
Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, sich mit den Ereignissen des Tages zu beschäftigen, aber alles, was ihr in den Sinn kam, war eine ganze Reihe von Telefonanrufen von Will, der sich erkundigte, ob mit ihr alles in Ordnung wäre, Anrufe, die zu erwidern sie sich zu sehr schämte.
Die Betroffenheit und Verletztheit in seiner Stimme auf dem Anrufbeantworter hallte immer noch in ihrem Bewußtsein nach und weckte den Wunsch in ihr, sich irgendwo zu verkriechen. Wie konnte sie ihr Verhalten vom Vorabend erklären? Es war alles ihre Schuld. Sie hätte ihn niemals so nahe an sich heranlassen dürfen. Wann würde sie endlich klug? Sie mußte sich mit der unabänderlichen Tatsache abfinden, daß sie niemals eine vollkommen offene und ehrliche Beziehung zu einem Mann unterhalten könnte. Wirklich … wenn die Wahrheit bekannt wurde, welcher Mann würde dann nicht sofort kehrtmachen und das Weite suchen? Und offen gesagt war sich Alicia nicht so sicher, ob sie etwas mit einem Mann zu tun haben wollte, der nicht so reagieren würde.
Es war bei weitem besser, allein zu bleiben. Allein war es einfacher. Und nicht so schmerzhaft – und zwar für alle Beteiligten.
Sie war mittlerweile näher gekommen und hatte den Blick immer noch auf Jack gerichtet. Sie hörte ihn pfeifen und erkannte die Melodie als den Titelsong aus dem Film Die Brücke am Kwai.
»Bereit?« fragte er, als sie vor ihm stehenblieb.
Sie bückte sich und blickte in den Wagen, dann zuckte sie zurück, als sie die beiden zusammengesunkenen massigen Gestalten auf den Vordersitzen gewahrte. Ihr rasender Herzschlag beschleunigte sich noch mehr.
»Sie sind doch nicht … Sie haben hoffentlich nicht … sind sie …?«
»Tot?« Er lächelte. »Nein. Sie schlafen nur.« Er sah sich um. »Okay. Machen wir uns auf den Weg. Ich weiß nicht, wie lange sie noch in diesem Zustand bleiben.«
Da war er – der Moment, vor dem sie sich schon die ganze Zeit gefürchtet hatte. Alicia rührte sich nicht. Sie konnte es nicht.
»Alicia?« fragte Jack. »Sind Sie okay?«
Aber sie mußte etwas tun. Sie durfte nicht zulassen, daß diese Sache sie völlig überwältigte.
Nur ein Haus … nur ein paar Steine und Holz …
Und sie würde es bezwingen.
Sie holte tief Luft und drehte sich zu der Fassade um.
Das schmiedeeiserne Tor, der schmale Vorgarten, die schmale Gasse zur Hinterfront – alles war so, wie es immer gewesen war. Aber die übrige Fassade war immerhin so weit verändert worden, daß sie aussah, als wäre es ein völlig anderes Haus, das Haus eines Fremden.
Und mit seinen mit Brettern zugenagelten Fenstern, die wie mit Klappen verhüllte Augen wirkten, sah es aus wie ein blindes Haus. Es konnte sie nicht sehen.
Nicht so schlimm, dachte sie. Damit kann ich fertig werden.
»Mir geht’s gut«, antwortete sie. »Gehen wir.«
»Wir wollen unser Glück erst einmal an der Hintertür versuchen«, schlug Jack vor und führte sie zu der Gasse mit dem Spaliergitter. »Ich habe eine ganze Menge Schlüssel und möchte mich nicht zu lange vorn an der Tür herumdrücken und den richtigen suchen. Jemand könnte uns dabei beobachten und uns später wiedererkennen.«
Sie folgte ihm in die Dunkelheit und hielt seine Kugelschreiberlampe, während er mehrere Schlüssel ausprobierte. Der fünfte paßte. Das satte Klicken des massiven Riegels klang in ihren Ohren wie ein Schuß und traf sie wie ein Schlag in die Magengrube.
Alicia begann zu zittern. Sie spürte, wie das Beben in ihrem Magen begann und sich bis in die äußersten Spitzen ihrer Gliedmaßen fortsetzte. Sie wollte kehrtmachen und zur Straße rennen.
Nein, befahl sie sich. Du wirst nicht weglaufen.
Steine und Holz … Steine und Holz …
Jack holte eine größere Taschenlampe hervor und trat durch die Tür. In kalten Schweiß gebadet, biß Alicia die Zähne zusammen und folgte ihm. Sie erlebte einen schlimmen Moment – fühlte sich wie in einer Falle –, als die Tür hinter ihr zuschwang und das Schloß leise klickte, aber sie verdrängte dieses Gefühl.
Dann fand Jacks Taschenlampenstrahl einen Wandschalter, und er betätigte ihn. Licht durchflutete den Raum.
»Nun, ist das denn nicht sehr entgegenkommend?« fragte er. »Sie haben tatsächlich den Strom eingeschaltet gelassen.«
Alicia schaute blinzelnd in die unerwartete Lichtfülle. Das Chaos wurde deutlich, nachdem ihre Augen sich an die Helligkeit angepaßt hatten.
»Oh, mein Gott! Sehen Sie doch, was die getan haben!«
Als sie hier gewohnt hatte, hatte die hintere Tür in einen Mehrzweckraum geführt, in dem sich die Waschmaschine, der Wäschetrockner und eine Speisekammer befanden. Die Waschmaschine und der Wäschetrockner waren noch da, aber nur noch in Stücken – sie waren gründlich auseinandergenommen worden, und ihre Einzelteile lagen in kleinen Haufen auf dem Fußboden verstreut. Die Regale der Speisekammer waren abgeräumt worden, und was auf ihnen gelagert gewesen war, bedeckte nun den Fußboden zwischen den Maschinenteilen.
»Das«, sagte Jack, »nenne ich einen Raum filzen. Und sie brauchten sich nicht zu beeilen. Da noch Strom im Haus war, hatten sie auch genügend Licht. Und wegen der zugenagelten Fenster konnte niemand wissen, daß sie hier waren.«
Er suchte sich einen Weg durch das Chaos und steuerte auf den angrenzenden Raum zu.
»Mal sehen, was dort ist.«
»Das müßte die Küche sein«, sagte Alicia, während Jack das Licht anknipste.
Sie war es … auf ihre eigene Art und Weise.
Die Küche war genauso gründlich »gefilzt« worden – um Jacks Ausdruck zu benutzen – wie der Mehrzweckraum. Nicht nur waren die Schränke geleert worden, man hatte sie sogar von den Wänden gerissen und zerschlagen. Der Geschirrspülmaschine war das gleiche Schicksal zuteil geworden wie der Waschmaschine und dem Wäschetrockner. Die Spüle war entfernt worden, und die Rohre ragten nackt aus der Wand und erinnerten an kupferne Schlagadern. Sämtliche Einzelteile waren in der Mitte der Küche zu einem Haufen zusammengelegt worden.
Völlig schockiert stolperte Alicia hinter Jack her, der sich nicht aufhalten ließ, dem Schutt auswich und weiterging ins Speisezimmer. Dort sah es genauso aus, nur daß der Teppich zerrissen worden war und man seine Überreste auf den Haufen aus Möbeltrümmern und Geschirr geworfen hatte.
In gewisser Hinsicht war sie froh. All diese Zerstörung machte es ihr leichter, sich in dem Haus aufzuhalten. Durch dieses Chaos wurde das Haus zu einem anderen Ort, der demjenigen nicht mehr ähnlich war, an den sie sich erinnerte. Dennoch war der Grad der Zerstörung erstaunlich.
»Ich wußte zwar, daß Thomas es mir nicht gönnte, dieses Haus zu besitzen«, sagte Alicia leise, »aber mir war eigentlich niemals klar, wie wütend er in Wirklichkeit war.«
»Das ist keine Wut«, widersprach Jack und stieß mit einer Schuhspitze gegen einen Trümmerhaufen. »Das ist das Ergebnis einer methodischen Suche. Sie haben in der Mitte des Raums angefangen und sich nach außen gearbeitet, wobei sie alles nach eingehender Überprüfung in die Mitte geworfen haben. Diese Kerle wußten genau, was sie taten.«
»Aber wie konnten sie ernsthaft erwarten, damit durchzukommen?«
Jack zuckte die Achseln. »Ich denke, sie rechneten sich aus, daß Sie niemals die Chance haben würden, dieses Haus ordnungsgemäß in Besitz zu nehmen. Was machte es daher aus, was sie hier trieben? Und ich vermute, daß sie, sobald sie gefunden haben, was sie suchen, von heute auf morgen verschwinden werden.«
»Aber was – was könnten sie so dringend suchen?«
»Etwas aus Metall, vermute ich.«
Jack war in eine Ecke gegangen, wo ein Gerät, das aussah wie ein an einer Bratpfanne befestigter Staubsaugergriff, an der Wand lehnte.
»Woher wissen Sie das?«
Er hob das Gerät hoch. »Das ist ein Metalldetektor.«
»Ein Schlüssel«, sagte Alicia, als sie sich an die Greenpeace-Zeile aus dem Testament erinnerte: »›Dieses Haus enthält den Schlüssel, der Ihnen den Weg zu allem weist, das Sie erreichen wollen.‹ Sie suchen nach einem Schlüssel.«
Jack nickte. »So muß es sein. Der arabische Freund Ihres Halbbruders hat gestern genau dieselbe Zeile zitiert. Offenbar haben sie ihn noch nicht gefunden.« Er schaute sich um. »Hatte Ihr Vater eine Werkstatt?«
Es war kalt hier drinnen – Alicia konnte ihren Atem als weiße Wölkchen in der Luft zerflattern sehen – aber nun überlief es sie noch viel eisiger. »Eine Werkstatt?«
»Ja. Sie wissen schon, wo er herumbastelte oder irgendwelchen Hobbies frönte oder was auch immer trieb.«
Anstelle von Blut schienen Eiskristalle durch ihre Adern zu rieseln. Sie hatte Mühe, die Worte über die Lippen zu bringen. »Im Keller … wenn überhaupt irgendwo.«
»Wie kommt man dorthin?«
»Durch die Küche.«
»Na schön«, sagte er und schob sich an ihr vorbei. »Gehen wir.«
»Nein. Sie gehen. Ich kann nicht.«
»Nun kommen Sie schon, Alicia. Dies ist wohl kaum der Ort und der richtige Zeitpunkt, um …«
»Nein«, wiederholte sie, und erneut hörte er, wie ihre Stimme an Lautstärke zunahm. »Haben Sie mich nicht verstanden? ICH KANN NICHT!«
Er musterte sie einige Sekunden lang, dann wandte er sich ab. »Okay. Sie können nicht. Ich schaue allein nach. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
»Es tut mir leid«, sagte sie leise, nachdem er gegangen war. »Aber ich kann einfach nicht dorthin.«