2
»Wo wir uns getroffen haben?« fragte Alicia, klemmte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter, während sie ein Truthahnsandwich, das sie sich von Blimpie’s nebenan mit heraufgebracht hatte, zur Hälfte auswickelte. »In Gordon Haffners Büro. Er ist Thomas’ Anwalt.«
Sie hatte den ganzen Morgen auf ein Zeichen von Jack gewartet. Er war am Vorabend so aufgeregt gewesen, nachdem er dieses Geheimzeichen in der Lobby des Hand Building gefunden hatte. Er hatte dann von Gebäudehackern erzählt – was immer sie auch sein mochten – und von jemandem namens Milkdud. Er hatte sie nach Hause gebracht, ihre Wohnung kontrolliert, um sicher sein zu können, daß sich kein Eindringling darin befand, und hatte sich dann verabschiedet und versprochen, sie am Morgen anzurufen.
Nun, er hatte nicht angerufen. Und sie hatte ein paar sehr unruhige Momente gehabt, als sie an diesem Morgen zum Krankenhaus gegangen war. Sie hatte sich sorgfältig in der Mitte des Bürgersteigs gehalten, hatte jeden Lieferwagen am Bordstein, jeden Passanten mißtrauisch beäugt und war jedesmal, wenn sie eilige Schritte hinter sich hörte, unwillkürlich erstarrt. Sie war noch nie so erleichtert gewesen, den Wächter am Krankenhauseingang zu sehen.
Ihre Erleichterung hatte sich in Bestürzung verwandelt, als sie den Befund von Hectors Blutuntersuchung las: Candida Albicans, dieser hinterlistige Pilz, der Aids-Patienten meistens im Gefolge anderer Infektionen heimsuchte. Sie hatte eine Einheit Amphotecerin B dem Medikamentenmix beigefügt, der Hector bereits intravenös verabreicht wurde, und sich aufs Daumendrücken verlegt.
Seine Pflegemutter hatte ihm wahrscheinlich auch nicht das Didlucan zur Prophylaxe verabreicht. Zumindest hoffte Alicia, daß dies die Ursache der Infektion war. Wenn nicht, dann bedeutete es, daß er einen resistenten Ableger aufgefangen hatte, und das konnte schlimm sein. Sehr schlimm sogar.
Sie nahm einen Bissen von ihrem Sandwich. Sie hatte am Vortag nicht zu Abend gegessen und an diesem Morgen keinen Krümel zum Frühstück hinunterbekommen. Es hatte bis Mittag gedauert, ehe sie wieder an Essen gedacht hatte. Und nun, gerade als sie im Begriff war, am Schreibtisch ihr Mittagessen einzunehmen, rief Jack an.
»Gordon Haffner«, sagte Jack. »Wo genau auf der Etage liegt sein Büro?«
Sie schluckte. »Ich weiß es nicht genau.«
»Es ist wichtig, Alicia.«
»Na schön. Dann lassen Sie mich mal nachdenken.«
Sie rief sich den Nachmittag noch einmal ins Gedächtnis zurück, schritt zusammen mit Leo Weinstein durch die Glastür im einundzwanzigsten Stock, saß ein paar Minuten am Empfang und wurde dann durch einen Flur in Haffners Büro geführt. Sie entsann sich, durchs Fenster geschaut und die blaue Markise über dem Eingang zum Chemist’s Club auf der anderen Straßenseite gesehen zu haben.
»Er sieht auf die Forty-fifth Street hinunter.«
»Das ist doch schon ein Anfang. Aber ich muß es ganz genau wissen. Ist es ein Eckbüro?«
»Nein. Aber es liegt direkt neben einem Eckbüro – und zwar an der Ostecke.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Ich kann mich daran erinnern, gedacht zu haben, daß Thomas wohl nicht den besten Mann in der Firma, aber zumindest jemanden hat, der ziemlich weit oben steht.«
»Das Büro neben der östlichen Ecke, das auf die Forty-fifth hinausgeht«, sagte Jack. »Verstanden.«
»Was ist los?« fragte sie.
»Sie werden sich am Montag mit Mr. Haffner treffen, und Sie werden ihm mitteilen, daß Sie bereit sind, das Haus zu verkaufen.«
Sie verschluckte sich beinahe an einem Mundvoll Truthahnfleisch. Sie hustete und schluckte es hinunter.
»Einen Teufel werde ich tun.«
»Ganz ruhig. Hören Sie doch erst mal zu. Sie werden eine völlig absurde Summe verlangen, sagen wir, zehn Millionen.«
»Das zahlen die doch niemals.«
»Natürlich nicht. Die Forderung ist nicht der Punkt. Es ist das Treffen, das wir wollen. Ich erkläre Ihnen die Einzelheiten später. Im Augenblick sollten Sie nur dafür sorgen, daß Sie am Montag frei sind, um dort zu sein. Ein Mann namens Sean O’Neill wird Sie heute nachmittag anrufen. Er wird am Montag als Ihr Anwalt mitkommen.«
»Mein Anwalt? Aber er weiß doch gar nichts über …«
»Das braucht er auch nicht, und glauben Sie mir, er will es auch gar nicht. Seans größtes Vergnügen besteht darin, andere Anwälte in den Wahnsinn zu treiben. Er arrangiert das Treffen für Sie.«
Sie schaute auf den Kalender. Montagvormittag – sie müßte sich dann bei der monatlichen Besprechung der Abteilung für Infektionskrankheiten entschuldigen –, aber ansonsten gab es nichts Dringendes.
»Okay. Das schaffe ich. Aber je früher, desto besser.«
»Gut. Dann sind wir schon zu zweit.«
»Das ist alles sehr merkwürdig, Jack. Ich möchte gerne wissen, was los ist.«
»Ich erläutere Ihnen alles am Sonntagabend, wenn wir unsere Probe veranstalten.«
»Eine Probe?«
»Ja. Sie, ich und Sean. Aber wichtig ist im Augenblick für Sie, daß Sie wissen, daß Ihnen die Verabredung zu dem Treffen mit den Anwälten ein wenig Luft verschafft. Niemand wird sich erneut an Ihnen vergreifen oder Ihnen drohen, wenn sie glauben, daß am Montag vielleicht eine Einigung erzielt werden kann. Das heißt, Sie brauchen nicht mehr ständig über die Schulter zu blicken – zumindest für die Dauer des Wochenendes nicht.«
»Das ist beruhigend.«
»Für uns beide ist es das. Ich muß jetzt los. Wir reden später.«
Und dann hatte er auch schon aufgelegt.
Alicia legte ebenfalls auf und widmete sich mit wiedererwachtem Appetit ihrem Sandwich. Sie hatte das Gefühl, als wäre eine schwere Last aus ihrer Magengrube entfernt worden: Sie brauchte die nächsten beiden Tage nicht wie ein verfolgter Flüchtling zu leben.
Aber was, um alles in der Welt, plante Jack? Und wie zuverlässig war er? Klar, er schien, was den Einsatz von Brachialgewalt betraf, Außerordentliches zu leisten, aber dies hier war etwas anderes: er würde es mit einer bedeutenden Anwaltskanzlei und einigen enorm intelligenten Gegnern zu tun haben. Könnte ein ganz normaler Durchschnittsmensch die Harvard-Absolventen im einundzwanzigsten Stockwerk überlisten?
Sie hatte keine Ahnung, aber hätte sie eine Wette abschließen müssen, dann hätte Alicia ihr Geld nicht für diese Sache riskiert.