Sonntag
1
»Wie geht’s, Hector?«
Der kleine Hector Lopez blickte aus seinem Krankenhausbett zu Alicia hoch, lachte aber nicht.
Sie hatte ihn wegen hartnäckigen Erbrechens am Freitag in die medizinische Kinderabteilung verlegt, aber seit dem Nachmittag des Vortags behielt er flüssige Nahrung bei sich. Er sah ein wenig besser aus, hatte jedoch immer noch Fieber. Das Ergebnis seiner Rückenmarkspunktion war negativ gewesen, aber die Kultur mußte noch untersucht werden. Desgleichen die Blut- und Urinkulturen. Sie hoffte, daß es sich als ein simpler gastrointestinaler Virus entpuppte, aber sein praktisch nicht vorhandener CD-4-Wert bereitete ihr große Sorgen. Nur um auf Nummer Sicher zu gehen, hatte sie ihm einige Gamma-Globulin-Infusionen verordnet.
»Wie fühlst du dich?«
»Das tut weh«, sagte er und deutete auf seinen linken fixierten Arm, wo die Kanüle des Tropfs in einer antekubitalen Vene lag.
»Wir nehmen sie heraus, sobald es dir besser geht.«
»Heute?« fragte er, und seine Miene hellte sich auf.
»Vielleicht. Zuerst muß dein Fieber runtergehen.«
»Oh.«
Alicia wandte sich an Jeanne Sorenson, die Schwester, die sie heute auf ihren Rundgängen begleitete. Die hochgewachsene Blondine war kaum fünfundzwanzig Jahre alt, aber bereits eine schlachtenerprobte Veteranin im Krieg gegen Aids.
»Wer hat ihn bis jetzt besucht?« fragte sie mit leiser Stimme.
Sorenson zuckte die Achseln. »Niemand, soweit ich weiß. Seine Pflegemutter hat angerufen – einmal.«
»Na schön«, meinte Alicia. »Wer ist Hectors Pate in dieser Schicht?«
»Wir haben ihm noch keinen zugeteilt.«
Alicia unterdrückte eine ärgerliche Reaktion. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, daß alle meine Kinder einen Paten pro Schicht haben«, sagte sie ruhig.
»Wir hatten dazu noch keine Zeit gehabt, Dr. Clayton«, erwiderte Sorenson mit betretener Miene. »Es war hier ziemlich hektisch, und wir dachten, daß er ja in ein paar Tagen schon wieder rauskommt, daher …«
»Auch wenn es nur ein einziger Tag ist, möchte ich, daß ein Pate zugeteilt wird. Wir haben das doch schon ausführlich besprochen, Sorenson.«
»Das weiß ich«, gab die Schwester mit schuldbewußter Miene zu.
»Aber offenbar ist davon nichts hängengeblieben. Sie wissen, wie furchteinflößend ein Krankenhaus schon für einen Erwachsenen ist. Nun stellen Sie sich einmal vor, Sie wären ein Kind, und müßten an einem Ort in einem Bett liegen, wo ein Haufen Fremder Ihnen die Kleider und die Schuhe weggenommen hat und ständig mit Nadeln in Sie hineinsticht und Ihnen vorschreibt, was Sie essen müssen und wann Sie die Toilette aufsuchen dürfen. Die meisten Kinder können sich wenigstens darauf verlassen, daß die Mutter oder der Vater oder sonst irgendeine vertraute Person sie besucht und ihnen ein wenig Trost spendet. Aber bei meinen Kindern ist das nicht so. Sie haben niemanden, auf den sie sich verlassen können, niemanden, der sie in dieser Situation unterstützen würde. Können Sie sich vorstellen, wie man sich dabei fühlt?«
Sorenson schüttelte den Kopf. »Ich hab’s versucht, aber …«
»Richtig. Sie können es nicht. Aber glauben Sie mir, es ist furchtbar.«
Alicia wußte Bescheid. Während ihres ersten Jahres am College hatte sie nach ein paar Wochen ins Krankenhaus gemußt – wegen Austrocknungsgefahr infolge einer infektiösen Gastroenteritis, einem Zustand, der dem von Hector sehr ähnlich war. Sie war nur zwei Tage dort gewesen, aber es war eine schlimme Erfahrung gewesen. Kein Freund, keine anderen nahen Bekannten, niemand, der sie besucht oder sich auch nur nach ihrem Wohlergehen erkundigt hätte, und sie hätte um keinen Preis der Welt ihre Eltern angerufen. Sie würde niemals dieses Gefühl der totalen Hilflosigkeit und Isolation vergessen.
»Deshalb brauchen sie in jeder Schicht jemanden, der einmal in der Stunde zu ihnen kommt, sich mit ihnen unterhält, sie anlächelt und ihnen die Hand hält; jemanden, auf den sie sich verlassen können, damit sie sich nicht so verdammt allein fühlen. Das ist fast genauso wichtig wie die Medikamente, die wir in sie hineinpumpen.«
»Ich werde mich sofort darum kümmern«, versprach Sorenson.
»Gut. Aber tun Sie es nicht für mich. Tun Sie es für ihn.« Sie drehte sich um und fuhr mit der Hand über Hectors stoppeligen Kopf. »Hey, Freundchen. Diese Igelfrisur sieht absolut wahnsinnig aus.«
Jetzt wurde sie mit einem Lächeln belohnt. »Ja. Sie …« Er hustete. Er versuchte es ein zweites Mal, wurde jedoch erneut von einem heftigen Husten geschüttelt.
»Immer mit der Ruhe, Hector«, sagte Alicia.
Sie half ihm, sich hinzusetzen, und schob die hinteren Hälften seines Krankenhausnachthemds auseinander. Sie drückte die Muschel ihres Stethoskops gegen die Rippen und horchte nach dem zellophanartigen Knistern, das auf eine Lungenentzündung hingewiesen hätte. Sie hörte nichts als ein deutliches Pfeifen.
Alicia warf einen Blick auf Hectors Krankenkarte. Die Röntgenaufnahme des Brustkorbs hatte nichts Auffälliges zutage gefördert. Sie veranlaßte eine erneute Untersuchung sowie die Entnahme einer Speichelprobe zum Ansetzen einer Kultur und zur Analyse der Gram-Färbung.
Sie schaute besorgt auf seinen knochigen kleinen Körper hinunter. Dieser Husten gefiel ihr ganz und gar nicht.