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»›Dieses Haus enthält den Schlüssel, der Ihnen den Weg zu allem weist, was Sie erreichen möchten‹«, sagte Jack und reichte Alicia den Schlüssel. »Das könnte dieser Schlüssel sein. Haben Sie ihn schon mal gesehen?«
Sie kniete noch immer auf dem Boden, nicht weit von der Stelle entfernt, wo er sie zurückgelassen hatte. Sie betrachtete den Schlüssel, nahm ihn jedoch nicht an sich.
»Nein. Wo haben Sie ihn gefunden?«
»In einem Versteck im Wandschrank Ihres Vaters. Sie wissen nicht zufällig, bei welcher Bank er Kunde war?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Sie hielt das Fahrgestell eines Spielzeugautos hoch. »Sehen Sie mal, was ich gefunden habe. Ich habe das Rad eingesetzt.«
Kündigte sich etwa bei ihr so etwas wie ein Nervenzusammenbruch an? Was sollte dieser Unsinn mit dem reparierten Spielzeugauto?
»Prima. Sehen Sie, wir müssen unbedingt…«
»Und es fährt sogar noch«, sagte sie. »Schaun Sie mal.«
Sie betätigte einen kleinen Schalter, und die Räder begannen sich zu drehen. Sie stellte das Spielzeug auf den Fußboden. Es flitzte über die Bretter und prallte gegen die Wand. Dort verharrte es, mit der Kühlerhaube an der Wand und immer noch rotierenden Rädern.
»Wir nehmen es mit«, entschied Jack. Er machte sich Sorgen wegen der beiden Fleischberge, die draußen schnarchend im Wagen saßen. Durchaus möglich, daß sie gerade im Begriff waren aufzuwachen. »Sie können dann die ganze Nacht damit spielen.«
»Sie brauchen gar nicht so herablassend zu sein, Jack. Ich mag vielleicht ein wenig schreckhaft und seltsam sein, aber ich habe nicht den Verstand verloren. Ich kann immer noch ganz gut denken.« Sie kroch über den Fußboden und holte das Auto, dann kehrte sie wieder auf ihren alten Platz zurück. »Dieses Spielzeug gehört nicht hierhin. Dieser Mann hat sich niemals mit Spielzeug beschäftigt, und das hier ist in meinem Zimmer absolut fehl am Platze. Deshalb habe ich nach den restlichen Teilen gesucht. Und ich glaube, ich kann froh sein, daß ich es getan habe. Sehen Sie mal.«
Sie stellte das Auto wieder auf den Fußboden, diesmal aber so, daß es mit dem vorderen Ende nicht der Wand zugewandt war. Sobald die Räder den Fußboden berührten, vollzog es eine Wende um hundertachtzig Grad, rollte auf die Wand zu und prallte ungefähr zehn Zentimeter links von der Stelle dagegen, wo es zuerst stehengeblieben war.
Jack wollte ihr gerade erklären, daß sie keine Zeit für derartige Spielereien hätten, ganz gleich, ob das Spielzeug in ihr Zimmer gehörte oder nicht, aber irgend etwas an dem kleinen Auto, das ständig gegen die Wand fuhr, ließ ihn zögern.
»Das ist das siebte – nein, das achte Mal, daß es an der Wand hängenbleibt«, berichtete sie. »Ganz gleich, wo ich es auf den Fußboden gestellt habe, es ist immer auf die Wand zugefahren.«
»Tatsächlich?«
Jack bückte sich, hob das Auto auf und drehte es in seiner Hand hin und her. Es war nichts Auffälliges daran festzustellen: eine Fernsteuerung, die an einem Fahrgestell befestigt war, ein Motor, ein Lenkmechanismus, Batteriegehäuse und eine Antenne.
Die Räder drehten sich noch immer, daher stellte er das Auto auf den Boden mit Fahrtrichtung zu Alicia. Es wirbelte herum und landete erneut an der Wand.
»Das war das neunte Mal«, zählte Alicia mit.
Jacks Interesse war nun geweckt.
»Wo ist der Rest?«
»Da.« Sie reichte ihm die Plastikkarosserie.
»Nein«, sagte er. »Wo ist die Fernsteuerung, der kleine Kasten, mit dem es sich lenken läßt?«
»So etwas habe ich hier nirgendwo gesehen.«
Er untersuchte die Plastikkarosserie. Offenbar hatte jemand sie vom Chassis abgerissen, um nachzuschauen, ob darin irgend etwas versteckt war. Er setzte die beiden Teile wieder zusammen.
»Das sieht eher aus wie ein Jeep, nicht wie ein herkömmliches Auto«, stellte Alicia fest.
Jack entzifferte das winzige Logo auf der Heckklappe.
»Ein Sport- und Freizeitfahrzeug, wie sie gerne genannt werden. Aber das ist schon ein richtiger Jeep, und zwar ein Landrover.«
»Ein was?«
Jack schaute hoch. Alicia war aufgesprungen und starrte das Spielzeugauto mit großen Augen an.
»Ein Landrover. Sie werden in England hergestellt und …«
»Das Testament«, sagte sie. »Darin wird ein Wanderer, ein Rover, erwähnt – zweimal … und zwar in diesen völlig verrückten Gedichtzeilen.« Sie schnippte mit den Fingern und schaute zur Zimmerdecke. »Wie hieß es noch? ›Clay(ton) liegt still, aber das Blut es wandert – oder es ist ein Rover‹ lautete eine Zeile. Und die andere … die andere ging, ›Ziehe dahin, mein Wanderer, aber was suchest du?‹«
Jack spürte, wie seine Erregung zunahm, als ihm bewußt wurde, daß sich Stücke des Puzzles allmählich zu einem Bild zusammenfügten. Vielleicht war »der Schlüssel, der den Weg weist« überhaupt kein Schlüssel. Vielleicht war es etwas, das lediglich den Weg zeigte.
Er stellte das Spielzeugauto auf den Fußboden und verfolgte, wie es wieder sein Programm abspulte und mit der Motorhaube vor der Wand endete – und zwar an derselben Stelle wie vorher.
Dieser kleine »Rover« wies ganz eindeutig den Weg hin zu etwas.
»Was mag das Ziel deiner Suche sein«, meinte Jack. »Warten Sie hier.«
Er kehrte ins Schlafzimmer zurück, ergriff den Vorschlaghammer und eines der Brecheisen. Für einen kurzen Moment dachte er daran, ein Loch in eins der Bretter zu schlagen, die die Fenster verschlossen, um einen prüfenden Blick auf den Wächterwagen werfen zu können, aber er hielt es für besser, es nicht zu tun. Der Lärm könnte zuviel Aufmerksamkeit erregen.
»Was haben Sie jetzt vor?« fragte Alicia, als er zu ihr zurückkam.
»Irgend etwas in dieser Wand zieht unseren kleinen Freund magisch an. Halten Sie ihn fest, während ich herausfinde, was es ist.«
Er hob den Vorschlaghammer, holte damit aus und wuchtete ihn in einem seitlichen Schwung gegen die Wand.