7
Ein eisiges Frösteln rieselte über Alicias Rücken und konzentrierte sich am unteren Ende ihrer Wirbelsäule, während sie einen grauen Wagen beobachtete, der in zweiter Reihe auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Er stand dort, von ihrem Beobachtungsplatz ein Stück die Straße hinauf, mit laufendem Motor.
War es derselbe Wagen wie heute morgen? Sie war sich nicht sicher. Beobachtete der Fahrer den Eingang des Centers, oder wartete er auf jemanden, der in einem der Warenhäuser war? Woher sollte sie das wissen? Zum Teufel, bei der grellen Sonne und den getönten Scheiben konnte sie noch nicht einmal feststellen, wie viele Leute darin saßen.
Verdammt, das war unheimlich. Worauf warteten sie? Auf eine Explosion?
Sie erschauerte. Sie hatte Tiffany befohlen, ihr die gesamte Post und sämtliche Lieferungen von UPS zu zeigen, ehe sie geöffnet wurden. Aber was würde sie tun, wenn sie auf ein Päckchen stieß, das keine Absenderadresse trug? Die Bombenspezialisten der Polizei alarmieren? Glücklicherweise brauchte sie sich heute darüber nicht den Kopf zu zerbrechen – sämtliche Sendungen kamen von den üblichen Lieferanten des Centers.
Sie zwang sich dazu, sich abzuwenden.
Dies war nun schon ihr fünfter – oder war es gar ihr sechster? – Abstecher zur Eingangstür seit ihrem Eintreffen heute morgen. Tiffany fing schon an, ihr seltsame Blicke zuzuwerfen.
Sie führte Jack Niedermeyer zurück in ihr Büro. Vielleicht bildete sie sich auch nur etwas ein. Weshalb sollte jemand sie verfolgen? Welchen Sinn hätte das? Sie tat jeden Tag die gleichen Dinge: von ihrem Apartment im Village zum Center und vom Center zu ihrem Apartment. Ein Muster an Vorhersehbarkeit.
Entspann dich, sagte sie sich. Du machst dich nur verrückt. Bleib ganz ruhig und überlege, was du als nächstes tun solltest.
»Nehmen Sie Platz«, sagte sie, während sie ihr Büro betraten.
Raymond kam vorbei, um einige Papiere auf ihren Schreibtisch zu legen. Sie machte die beiden Männer miteinander bekannt, äußerte sich aber nicht darüber, weshalb Mr. Niedermeyer im Center war.
Als Raymond gegangen war und sie sich einander gegenüber hingesetzt hatten, betrachtete sie eingehend diesen sehr durchschnittlich aussehenden braunhaarigen Mittdreißiger in Jeans und einem rötlichen Flanellhemd.
Das soll der Mann sein, der die Spielsachen wiederbeschafft, hatte Alicia gedacht, als sie ihm einen Sessel angeboten hatte. Oh, das bezweifle ich, und zwar ganz entschieden.
»Nun, Mr. Niedermeyer …«
»Nennen Sie mich einfach Jack.«
»Okay, Einfach Jack.« Und Sie können mich Dr. Clayton nennen. Nein, das würde sie nicht sagen. »Ms. DiLauro erzählte mir, Sie könnten uns vielleicht helfen. Sind Sie ein Freund von ihr?«
»Nicht ganz. Ich habe mal für sie gearbeitet. Habe ihr aus gewissen Schwierigkeiten herausgeholfen.«
»Was für Schwierigkeiten?«
Er beugte sich vor. »Ich dachte, es ginge um verschwundene Spielsachen.«
Ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen. Gut versteckt, aber Alicia hatte es bemerkt. Etwas Persönliches zwischen den beiden? Oder ging es sie ganz einfach nichts an?
Als er sich vorgebeugt hatte, hatte er die Hände auf die Schreibtischplatte gelegt. Alicia fiel die Länge seiner Daumennägel auf. Seine Hände waren sauber, seine Fingernägel gepflegt … bis auf die Daumennägel. Sie ragten fast einen halben Zentimeter über die Fingerkuppen hinaus. Sie wollte sich danach erkundigen, hatte aber keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, ohne aufdringlich zu erscheinen.
»Ich wollte Sie nicht ausquetschen«, sagte sie. »Ich möchte bloß wissen, wie es möglich sein soll, daß ein einzelner Mann diese Spielsachen noch vor dem gesamten New York Police Department finden will.«
Jack zuckte die Achseln. »Zuerst einmal wird es wohl nicht das gesamte Department sein. Vielleicht nur ein oder zwei Detectives aus dem Raubdezernat – wenn Sie Glück haben.«
Alicia nickte. Er hatte recht.
»Zweitens«, fuhr er fort, »glaube ich, daß man mit einiger Sicherheit annehmen kann, daß die Kerle, die Sie beraubt haben, keine Familienväter sind, die sich Weihnachtsgeschenke für ihre eigenen Kinder beschaffen wollten. Und den Spuren an der Tür nach zu urteilen, waren es keine Profis. Ich tippe eher auf einen schnellen, spontan ausgeführten Raubzug. Ich wette, sie haben noch nicht einmal einen Hehler, bei dem sie ihre Beute loswerden können, was bedeutet, daß sie einen suchen. Ich kenne Leute …«
Er beendete den Satz nicht. Was für Leute? fragte sie sich. Leute, die gestohlene Weihnachtsgeschenke aufkaufen? War er vielleicht auch eine Art Krimineller?
Sie musterte ihn und erkannte, daß seine freundlichen braunen Augen nichts enthüllten … absolut nichts.
»So … Sie ›kennen Leute‹ … Leute, so nehme ich an, die Sie vielleicht zu den Dieben führen. Und was dann?«
»Und dann werde ich sie dazu bringen, daß sie die Geschenke zurückgeben.«
»Und wenn Sie sie nicht ›dazu bringen‹ können? Was dann? Rufen Sie die Polizei?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist eine der Bedingungen für meine Mithilfe: kein Kontakt zu offiziellen Organen. Wenn die Polizei die Spielsachen herbeischafft, okay Ende gut, alles gut. Wenn ich sie zurückhole, dann ist es ein glücklicher Zufall, ein weihnachtliches Wunder. Sie wissen nicht, wer dafür verantwortlich ist, aber Gott segne alle Beteiligten. Sie haben mich nie gesehen, noch nicht einmal von mir gehört. Wenn man Sie fragen sollte, gibt es mich gar nicht.«
Alicia wurde mißtrauisch. War das vielleicht irgendeine Gaunerei? Man raubt die Spielsachen und läßt sich anschließend dafür bezahlen, daß man sie »wiederfindet«. Vielleicht erhält man sogar noch eine Belohnung.
Aber nein. Gia DiLauro würde bei so etwas niemals mitmachen. Ihr Zorn an diesem Morgen war einfach zu echt gewesen.
Aber dieser Mann, dieser »Einfach Jack«, der könnte an dem Einbruch beteiligt gewesen sein, ohne daß Gia etwas davon ahnte.
»Ich verstehe«, sagte sie. »Und was verlangen Sie für …?«
»Das wird schon geregelt.«
»Ich verstehe nicht. Hat Gia …?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles erledigt.«
»Es wird eine Belohnung geben.«
Man hatte sich bei ihr gemeldet – Firmen und Einzelpersonen, die Spenden als Belohnung für eine erfolgreiche Suche nach den Tätern bereitstellten. Die Gesamtsumme wuchs ständig.
»Behalten Sie’s. Geben Sie es für die Kinder aus.«
Alicia entspannte sich innerlich. Alles klar, es war keine Gaunerei.
»Was ich brauchte, wären ein paar Informationen über die gestohlenen Stücke – irgend etwas Typisches über sie, damit ich schon frühzeitig erkennen kann, ob ich auf der richtigen Spur bin.«
»Nun, sie waren allesamt in Geschenkpapier eingewickelt. Wir haben nur neue Kleider und Spielsachen angenommen – alles ohne Verpackung –, und dann haben wir sie selbst verpackt, als sie bei uns eintrafen. Sie haben das Papier bereits gesehen, das wir benutzt haben. Ansonsten – was soll ich sagen? Es war ein ganzer Haufen Geschenke, eine wunderschöne, großzügige Kollektion …«
Alicia spürte, wie erneut namenlose Wut in ihrer Kehle hochstieg und ihr die Luft raubte.
Und alles ist weg!
Der Mann stand auf und streckte ihr über den Schreibtisch hinweg die Hand entgegen. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Alicia ergriff seine Hand und hielt sie fest. Sollte sie ihm von Thomas und dem Testament und dem Haus erzählen, oder von der Bombe, die Leo Weinstein getötet hatte, und daß der Diebstahl der Spielsachen vielleicht damit in Verbindung stand? Nein, sie wollte diesen Mann nicht in diese Dinge einweihen. Außerdem sprach alles dafür, daß der Einbruch nichts damit zu tun hatte.
»Wie stehen unsere Chancen?« fragte sie. »Ehrlich. Sie brauchen mich nicht zu schonen.«
»Ehrlich?« fragte er. »Die Chancen für eine Wiederbeschaffung sind gleich Null, wenn die Täter die Spielsachen bereits verhökert haben. Mager sind die Chancen, wenn sie noch keinen Käufer gefunden haben. Wenn wir das Diebesgut bis, sagen wir, Sonntag nicht aufgestöbert haben, dann schätze ich, daß die Spielsachen für immer weg sind.«
»Tut mir leid, daß ich gefragt habe.« Sie seufzte. »Aber ich denke, so läuft es hier nun mal. Diese Kinder werden unter einem denkbar schlechten Stern geboren. Ich weiß nicht, weshalb ich erwarten sollte, daß sie diesmal vom Schicksal verschont werden.«
Er drückte ihre Hand noch einmal und ließ sie dann los.
»Man kann nie wissen, Dr. Clayton.« Er lächelte flüchtig. »Selbst die schlimmsten Verlierer haben ab und zu auch mal Glück.«
Vielleicht war es das Lächeln. Es hatte seine Schutzhülle aufgerissen. Für einen kurzen Moment blickte Alicia in diesen Jack hinein – es war der winzigste Bruchteil einer Sekunde, mehr nicht –, und plötzlich keimte Hoffnung in ihrem Herzen auf. Wenn es überhaupt möglich war, die gespendeten Spielsachen zu finden und zurückzuholen, dann war dieser Mann anscheinend davon überzeugt, daß er es schaffen würde.
Und nun begann auch Alicia daran zu glauben.