6

Alicia hatte keinen Hunger, daher verzichtete sie auf das Mittagessen. Sie liebte diese stille Phase, wenn keine IV-Therapien in der Ambulanz angesetzt waren und die Kinder in der Tagesstätte ihr Mittagessen einnahmen. Das Personal und die freiwilligen Helfer, die nicht bei den Kindern waren, hatten das Haus verlassen, um in einem der Schnellrestaurants in der Nachbarschaft eine Kleinigkeit zu essen. Gewöhnlich blieb sie im Büro und versuchte, den dringendsten Papierkram zu erledigen. Aber heute war sie von einer seltsamen inneren Unruhe erfüllt.

Sie verließ ihren völlig überladenen Schreibtisch und machte einen Spaziergang durch die leeren Flure, tief in Gedanken versunken und überlegend, was sie als nächstes tun sollte. Auf Jack warten oder gezielt weitersuchen? Sie hatte sich den Namen von jemand anderem besorgt. Sollte sie …?

Sie hielt inne. Sie hatte einen Laut gehört … es klang fast wie ein Wimmern. Sie stand stocksteif da, ihr ganzer Körper zitterte, während sie lauschte.

Und dann hörte sie es wieder, schwächer. Eine leise Stimme, die etwas flüsterte … von irgendwoher um die Ecke herum …

Indem sie sich auf Zehenspitzen vorwärts tastete und froh darüber war, daß sie Turnschuhe trug, warf Alicia einen Blick um die Ecke und sah …

Einen leeren Flur.

Sie glaubte schon, sie hätte sich die Laute nur eingebildet, als sie das Flüstern erneut hörte … es kam aus einem Flurschrank, der nur ein paar Schritte weit entfernt war. Die Tür stand einen Spalt breit offen, und die Stimme war eindeutig männlich …

»Siehst du? Hab’ ich dir nicht versprochen, daß es nicht weh tut? So … ist das nicht ein schönes Gefühl?«

Während sie krampfhaft die hochsteigende Galle hinunterschluckte, an der sie beinahe erstickte, streckte Alicia die Hand nach der Tür aus. Sie betrachtete ihre Hand wie einen fremden Gegenstand, nahm zur Kenntnis, daß sie zitterte wie ein Blatt im Wind, als sie sich dem Knauf näherte. Sie zwang sich, ihn zu ergreifen und daran zu ziehen.

Und dann sah sie die beiden wie einen mit einem Blitzlicht fixierten Schnappschuß: ein weißer Mann mittleren Alters – ein freiwilliger Helfer, den sie in letzter Zeit öfter gesehen hatte, dessen Namen sie aber noch nicht kannte –, der, vom grellen Lichtschein geblendet, blinzelte. Seine Hand steckte in der Unterhose eines kleinen schwarzen Mädchens – Kanessa Jackson hieß das Kind –, das höchstens vier Jahre alt war.

Und dann explodierte das Licht um sie herum, als ob ihre Welt sich plötzlich in ein überbelichtetes Video verwandelt hätte, in dem sie ihre Stimme rufen, schreien hörte, mit grellem Licht überall, während sie herumwirbelte, ein paar Schritte rannte und bei einem Feuerwehrschlauch und einem Feuerlöscher stehenblieb, die sich in einer in die Wand eingelassenen Nische befanden. Ihre Hände rissen die Glastür auf, packten den Feuerlöscher, holten damit gegen den Mann aus, der sich nicht schnell genug duckte, und sie erwischte ihn seitlich am Kopf, beobachtete, wie er in die eine Richtung davontaumelte, während Kanessa in die andere Richtung rannte, und Alicia folgte ihm, schlug auf seinen Kopf, seinen Rücken, schlug und schlug und schlug auf ihn ein, bis …

»Alicia! Alicia, mein Gott, Sie bringen ihn um!«

Sie spürte, wie Hände ihre Arme packten, sie zurückhielten, aber sie wollte nicht aufhören. Sie wollte ihn nicht nur bestrafen. Sie wollte seinen Tod!

»Alicia, bitte!«

Raymonds Stimme. Sie hörte auf, sich zu wehren. Sie starrte hinunter auf den blutenden Mann, der sich winselnd vor ihr duckte. Und plötzlich wurde ihr speiübel. Sie stolperte zurück, ließ aber den Feuerlöscher nicht los.

»Rufen Sie 911!« keuchte sie.

»Warum?« fragte Raymond. »Was ist passiert?«

Sie blickte zu Raymond und sah den Schock und die Sorge in seinen Augen. Er hatte sie noch nie in einem solchen Zustand gesehen. Natürlich nicht. Niemand hatte das. Sie war auch noch nie in einem solchen Zustand gewesen. Und es war noch nicht vorbei. Der Blutrausch dröhnte in ihren Ohren wie eine Kriegstrommel. Alicia wußte nicht, wer sich in diesem Moment mehr fürchtete – die menschliche Ratte auf dem Fußboden, Raymond oder sie selbst.

»Rufen Sie die Cops!« befahl sie. »Ich will, daß dieses Schwein von hier weggebracht und eingesperrt wird! Und zwar auf der Stelle!«

»Okay!« sagte Raymond und wich zurück. »Seien Sie ganz ruhig, Alicia, okay? Ganz ruhig.«

»Und suchen Sie Kanessa Jackson. Eine unserer Schwestern soll sie untersuchen. Sie soll sich vergewissern, daß sie unversehrt ist.«

Während Raymond sich entfernte, fuhr sie zu dem Kinderschänder herum. Die Übelkeit verflog, als die rasende Wut erneut hochloderte.

»Und Sie«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, wobei sie ihre gesamte Energie aufwenden mußte, um sich davon abzuhalten, erneut auf ihn einzuschlagen, »Sie bleiben, wo Sie sind, sonst bringe ich Sie um, so wahr mir Gott helfe!«

Handyman Jack 02 - Der Spezialist
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