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Tag der Toten, alles wird vergeben sein
Niemand schläft allein

Tag der Toten, Day of the Dead, Day of the Dead

Tocotronic

Als sie auf ihren Fahrrädern wieder zurückfuhren, konnte Carsten den Gestank der Wohnung immer noch riechen. Er hatte sich in seiner Kleidung, den Haaren und auf der Haut festgesetzt. Carsten wollte sich waschen und frische Kleidung anziehen.

Ein plötzliches Scheppern von hinten ließ ihn abrupt bremsen. Sabine schrie seinen Namen. Er riss das Fahrrad herum und ließ es beim Absteigen fallen. Sabine lag auf dem Boden, halb auf, halb unter ihrem Fahrrad, hielt die Arme schützend über den Kopf und schob sich mit den Beinen rückwärts. Eine junge Frau war über ihr, eine Teenagerin in Trainingshose und Kapuzenjacke. Sie hatte mit knochigen Händen Sabines Unterarme gepackt. Carsten riss die Axt aus dem Gürtel und sprang auf sie zu. Die Angreiferin hielt den Blick auf Sabine gerichtet.

Er schwang die Axt und schlug der jungen Frau die Schneide in die Seite. Sie keuchte. Dann drehte sie sich zu Carsten um, das Axtblatt steckte unter ihren Rippen. Carsten zerrte noch an der Axt, um sie freizubekommen, da war Sabine schon wieder auf den Beinen und hackte der Teenagerin ihre Machete in den Hals. Das Mädchen röchelte, Blut blubberte aus der Wunde an ihrem Hals über die Klinge. Die junge Frau fiel rückwärts, riss Carsten den Axtstiel aus den Händen. Sie blieb auf dem Rücken liegen, blutete stoßweise auf die Straße, doch noch immer bewegten sich ihre Augen, die Hände, die Füße. Sabine stellte sich über sie und holte mit der Machete aus, Carsten drehte sich weg. Er hörte das dumpfe, feuchte Geräusch, mit dem Sabine dem Mädchen das Leben nahm.

»Ich hab die überhaupt nicht gesehen«, keuchte Sabine. »Ich weiß gar nicht, wo die herkam. Die war plötzlich einfach da.«

»Hat sie dich gebissen?«

Sabine schüttelte den Kopf.

»Bist du okay?«

»Ich bin voll auf den Ellenbogen gefallen.« Sie öffnete und schloss die rechte Faust. »Der ganze Arm tut weh. Sonst ist alles okay.«

»Was ist mit deinem Knie?«

Sabines Hose war am rechten Knie aufgeschlagen. Blutige Haut schaute unter dem Stoff hervor. Sabine schaute überrascht auf ihr eigenes Hosenbein.

»Das hab ich gar nicht bemerkt …«

»Tut’s weh?«

»Jetzt schon, wo ich ’s gesehen hab.«

Carsten nickte. »Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen. Wer weiß, wie viele hier noch lauern.«

Außer Atem fluchte Sabine halblaut vor sich hin.

Carsten zog seine Waffe aus dem toten Körper. Dann hob er sein Rad auf. Die Batterien waren aus der Halterung gefallen, die Walter ihm an das Navigationsgerät gelötet hatte. Er legte das Rad noch einmal hin und sammelte die Batterien ein.

»Meine Kette ist abgesprungen«, hörte er Sabine sagen. »Ich versuche mal, das wieder hinzukriegen.«

Carsten hatte auch die letzte Batterie gefunden, drückte sie wieder in die Halterung am Navigationssystem und schaltete das Gerät ein.

»Carsten!«, rief Sabine.

Er fuhr zu ihr herum. Sie hatte einen Fuß in den Bügel ihrer Armbrust gestemmt und spannte mit beiden Armen die Sehne. Carsten suchte nach ihrem Ziel; ein Mann wankte nur wenige Meter entfernt aus einem Hauseingang, verlangsamt und steifbeinig nahm er Kurs in ihre Richtung.

»Da muss das Mädchen auch hergekommen sein«, meinte Sabine. Sie zog einen Pfeil aus dem Futteral an ihrem Oberschenkel und legte ihn ein. »Wer weiß, wie viele noch in diesem Haus sind.«

Sie legte an und zielte. Carsten lief zu ihr, beugte sich über ihr Fahrrad und versuchte mit den Fingern, die ölige Kette wieder auf die Übersetzung zu bringen.

»Er kommt näher«, sagte Sabine.

Dann löste sich mit einem plumpen Geräusch die Sehne ihrer Armbrust. Carsten hörte den Einschlag. Wie in ein Polster. Er blickte auf. Der Pfeil steckte dem Mann in der Brust, an einer Stelle, wo nicht das Herz saß. Mit dem Pfeil in der Brust machte er einen weiteren schlurfenden Schritt in ihre Richtung. Sabine spannte noch einmal die Armbrust. »Da kommt noch eine«, sagte sie.

Carsten gab auf.

»Hauen wir ab«, sagte er. »Lass das Fahrrad. Nimm meins, ich laufe.«

Er stand auf. Sabine schoss. Ihr Pfeil traf den Mann in den Bauch; er kippte vorwärts auf die Knie. Jetzt bewegte er sich auf den Knien weiter, seine Kiefer schnappten in ihre Richtung.

»Okay, hauen wir ab«, meinte Sabine. »Nimm mich auf den Gepäckträger.«

Carsten stellte sein Rad auf.

Als sie sich dem Zoogelände näherten und er das Rad auf den Zaun zulenkte, wunderte er sich über das Gefühl, dass sich dabei einstellte. Ihm war, als käme er nach einer langen und anstrengenden Reise nach Hause.

Miriam erwartete sie auf dem ersten Hauptweg hinter dem Zaun. Sie lief ihnen aufgeregt entgegen. Sie warf Carsten die Arme um den Bauch.

»Herr Lemmner, ich bin so froh, dass Sie wieder da sind«, sagte sie und schmiegte den Kopf an seinen Körper. Dann wich sie angewidert zurück. »Sie stinken aber, Herr Lemmner.«

Carsten nickte. »Ich weiß.«

»Habt ihr Jakob gefunden?«, wollte das Mädchen wissen.

»Nein«, log Sabine. »Wir waren bei ihm zu Hause. Er war schon weg.«

»Weg? Wohin weg?«, wollte Miriam wissen.

»Das wissen wir leider nicht«, antwortete Sabine und zuckte die Schultern.

Carsten wusch sich im Duschraum mit Wasser aus dem Trinkwasservorrat. Er benutzte reichlich Shampoo und Duschgel, um den Verwesungsgeruch aus der Haut zu tilgen. Er trocknete sich ab, ging in seine Schlafkammer und zog frische Kleidung an, die Sabine ihm gegeben hatte; eine etwas zu weite Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »I ❤ Zoo«.

Er setzte sich auf die Liege und holte das Klassenbuch aus dem Rucksack, schlug es auf, legte die Liste vor sich hin und nahm den Rotstift in die Hand. Er wischte sich das nasse Haar aus der Stirn. Er las noch einmal jeden einzelnen der durchgestrichenen Namen, und zu jedem Namen stiegen ihm Bilder in den Kopf. Er erinnerte sich an die Kinder in seinem Unterricht, auf dem Schulhof, bei Ausflügen. Er sah die leeren Wohnungen und Häuser ihrer Eltern vor sich. Die Leichen der Eltern. Die Kinderleichen. Reginas zerrissenen Körper. Das vor Gier entstellte Gesicht des kleinen Dominik hinter der Fensterscheibe. Jakobs eingefallenes Gesicht im Bett neben der Leiche seiner Mutter.

Er zog die Kappe von seinem Rotstift, setzte ihn auf das Papier und zog eine feine rote Linie durch den letzten verbleibenden Namen. Er faltete das Blatt in der Mitte, legte es zwischen die Seiten des Klassenbuchs. Diese Liste hatte keine Aufträge mehr für ihn. Er klappte das Klassenbuch zum letzten Mal zu und steckte es in den Rucksack.

Vielleicht hatte Sabine Recht, und er hatte jetzt die Freiheit, zu tun, was er wollte. Aber was gab es in dieser Welt noch zu wollen? Und was hatte er früher gewollt?

Er schaltete das Handy ein, las Nathalies SMS. Wo mochte sie jetzt sein? Er sah sie in einem spanischen Museum, wie sie Kunstwerke gegen Plünderer und Kranke verteidigte. Die Vorstellung ließ Carsten kurz lächeln, und gleich darauf schnürte sie ihm die Kehle zu. Er versuchte, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Es gelang ihm nur schwer; er förderte eher die Idee ihres Gesichts zutage als ein Abbild. War das normal? Oder waren das die ersten Zeichen dafür, dass Prionen sich in seine Hirnrinde fraßen? Er versuchte, sich an andere Gesichter zu erinnern; Markus, Luisa. Thomas. Carla. Seine Eltern. Das Ergebnis war das gleiche.