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Carsten betrat den Elektromarkt durch einen Seiteneingang. Auch hier waren die Glastüren zerschmettert und unzählige Splitter über den Fußboden verstreut. Seit es keine Alarmanlagen und keine Polizei mehr gab, war das Einschlagen zum einfachsten Weg geworden, eine verschlossene Tür zu öffnen.

Das Licht der Vormittagssonne schien durch den Eingang auf zwei Beinpaare unter umgerissenen Warenständern. Fliegen summten. Carsten presste seine Nase wieder in die Ellenbogenbeuge, um sich vor dem Gestank zu schützen. Er kannte diese Leichen; er selbst hatte sie bei seinem letzten Besuch hier hinterlassen. Zwei weitere Menschen, denen er das Leben genommen hatte. Er wandte die Augen ab und konzentrierte sich auf seine Aufgabe: Batterien finden.

In diesem Gebäude gab es keine Notbeleuchtung; je weiter er sich vom Eingang entfernte, umso diffuser wurde das Licht. Er stellte den Rucksack ab und zog die Taschenlampe hervor, deren schwaches Glimmen kaum noch gegen die Dunkelheit helfen wollte. Es hatte ihn schon immer gestört, dass es in Kaufhäusern kein Tageslicht gab; die volle Tragweite dieses Umstands war ihm erst klar, seit das elektrische Licht ausgefallen war.

Er setzte den Rucksack wieder auf und gab seinen Augen Zeit, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Er lauschte.

Ein entferntes Scharren. Dann wieder Stille. Ein dumpfes Poltern, gefolgt vom Stöhnen einer entstellten Stimme. Die Geräusche schienen durch den Rolltreppenschacht aus dem Untergeschoss nach oben zu dringen.

Seine Suche nach Batterien führte ihn noch tiefer in die Dunkelheit des Gebäudes, die Konturen begannen vor seinen Augen in einem unscharfen Grau zu verschwimmen. Endlich fand er das richtige Regal, griff einige Pakete und stopfte sie in seinen Rucksack. Wieder ein Geräusch in der Dunkelheit. Noch einmal hielt er inne, um zu lauschen. Er war dem Haupteingang jetzt näher als dem Seiteneingang, durch den er hereingekommen war. Er entschied sich für den kürzesten Weg zurück ins Tageslicht, und schon nach wenigen Schritten wurde es heller.

Der Haupteingang des Elektromarkts befand sich in einem Zustand völliger Verwüstung. Die Türen waren zerschmettert, Teile der Deckenverkleidung heruntergestürzt, die Wände von schwarzem Schmauch verschmiert. Gips- und Betonbrocken hatten sich mit den Scherben der Glastüren zu einem wirren Trümmerfeld vermischt. Eine Explosion war die einzige Erklärung, die Carsten sich vorstellen konnte. Wie hingeworfen lagen Dutzende Exemplare der letzten jemals gedruckten Werbebeilage über den Trümmern verteilt. Auf einer aufgeschlagenen Doppelseite bewarben sie DVDs mit Zombiefilmen zu Tiefstpreisen: die Romero-Filme, ein paar Fulcis, die Romero-Remakes, die modernen Varianten, in denen Zombies rennen können, die Komödien und eine Vielfalt von C- und D-Movies, die in beliebigsten Kombinationen das Wort »Zombie« im Titel trugen. Carsten schüttelte den Kopf. Die Rückseite der Werbung zeigte die Sissi-Trilogie.

Carsten hatte Zombie-Filme nie gemocht. Trotzdem hatte er sie angesehen – zumindest die wichtigen, genreentscheidenden –, denn seine Freunde waren Zombiefans, allen voran Markus, sein bester Freund aus Schulzeiten. So hatte er einige Abende mit Bier und Romero-Filmen verbracht. Er hatte dabei oft gedacht, dass es zwei Arten von Menschen gibt: Die einen mögen Vampire, die anderen Zombies. Ähnlich wie es Hundefreunde und Katzenliebhaber gibt. Sich selbst hätte er zu den Vampirfreunden gezählt. Die Vorstellung, in ewiger Melancholie rastlos und blutdurstig durch die Schatten der Nacht zu streifen, durchsetzt mit erotischen Allegorien, gefiel ihm deutlich besser, als in einer postapokalyptischen Welt voller schlurfender Untoter um sein Leben zu kämpfen. Vampirgeschichten lassen Raum für Sympathie mit dem Ungeheuer – in Zombiefilmen kann man sich nur mit den Opfern identifizieren; auf der Flucht vor einer Übermacht mit der einzigen Hoffnung, noch etwas länger auf einer menschenleeren Welt zurückzubleiben.

Carsten hatte das Trümmerfeld vorsichtig überquert und trat wieder ins Tageslicht. Er blickte die Einkaufsstraße hinauf, dann hinab. Was immer im Eingang des Kaufhauses explodiert war, hatte offenbar auch die Schaufenster der umliegenden Geschäfte eingedrückt. Zwischen den Scherben des Schaufensters der Parfümerie gegenüber entdeckte er eine zusammengekauerte Gestalt. Carstens Körper spannte sich. Ein ausgezehrter Mann hockte dort mit dem Rücken zu ihm. Ein hellblaues Freizeithemd hing ihm um knochige Schultern. Seine nackten Füße berührten mit der ganzen Sohle den Boden. Er nagte an etwas, das er in beiden Händen vor die Brust hielt, wie ein Eichhörnchen eine Nuss nagt. Was es war, konnte Carsten nicht erkennen. Abscheu stieg in ihm auf; er versuchte, seine Phantasie in Zaum zu halten.

Carsten machte zwei Schritte rückwärts, sehr bemüht, kein Geräusch dabei zu verursachen. Rückwärts zu gehen war nie eine gute Idee, das hatte er in zu vielen Horrorfilmen gelernt. Doch noch bevor er sich umdrehen konnte, ruckte der Kopf des Mannes hoch, er wirbelte herum und starrte Carsten mit trüben Augen direkt ins Gesicht. Das hagere Gesicht war bleich trotz seiner bronzenen Hautfarbe. Der Mann presste einen heiseren Laut durch die fahlen Lippen, ließ fallen, woran er genagt hatte, und schnellte aus der Hocke in den Stand. Er warf sein ganzes Gewicht nach vorn, raste mit vorgelehntem Rumpf und einem rohen Gurgeln auf Carsten zu, das Gesicht zu einer gierigen Maske verzerrt.

Carsten hatte keine Zeit zu denken: Er riss die Waffe hoch und feuerte, verfehlte, schoss noch einmal. Den Mann riss es von den Füßen, er fiel ungebremst auf den Rücken. Carsten hatte ihm durch den Hals geschossen. Helles Blut schäumte aus seinen Mundwinkeln und sickerte in den blauen Hemdkragen. Seine Beine bewegten sich weiter, schabten über den Asphalt, als könnte sein Hirn nicht begreifen, dass er gestürzt war. Carsten schluckte. Seine Ohren rauschten. Wenige Schritte entfernt sah er, woran der Mann genagt hatte: Es war ein Kohlkopf. Ein welker Kopf Rotkohl. Die Beine des Mannes vollführten unablässig ihre sinnlosen Bewegungen: ein ferngesteuerter Roboter, umgekippt. Für den Augenblick war das Reiben von Jeans über Asphalt das einzige Geräusch auf der Welt.

Dann ein kehliger Klagelaut, und aus einem Hauseingang in der gegenüberliegenden Gasse erschien das ausdruckslose Gesicht einer Frau mit einem dichten Schopf aus kastanienbraunen Locken. Carsten hatte wieder zu viel Lärm verursacht, hatte nicht nachgedacht. Er tadelte sich stumm. Sie trat aus dem Schatten hervor, nackt, schmutzig, fleischig, mit schweren Brüsten und üppigen Hüften. Die Nase in ihrem runden Gesicht war gebrochen und von violett geschwollenem Gewebe umgeben. Carsten streckte ihr die Pistole entgegen, da erschien neben ihren Knien ein kleines Gesicht, ein Kindergesicht. Das Kind fauchte, sprang behände vorwärts und rannte mit schnellen Schritten auf Carsten zu. Carsten ließ die Waffe sinken. Ein kleiner Junge. Hinter dem Kind strebte auch die Frau in seine Richtung, offenbar nicht mehr zu solcher Schnelligkeit in der Lage wie der Junge.

Carsten drehte sich um, sprang über die Trümmer und lief zurück durch die dunklen Gänge des Elektromarkts den Weg, den er gekommen war. Er rannte die Schritte bis zum Ausgang, vorbei an den umgekippten Warenständern und den Leichen darunter. Aus Angst, der nächsten Gefahr in die Arme zu rennen, blieb er im Ausgang stehen. Er warf einen Blick zurück; im Dunkel des Elektromarkts konnte er nichts erkennen, und über seinen viel zu lauten Atem konnte er auch keine Schritte hören. Er lehnte sich vorsichtig vor und spähte nach rechts und links die Straße entlang. Ein lebloser Körper lag zusammengesunken am Fuß einer Telefonzelle zwischen den Gebäudefronten; Carsten war sicher, der hatte schon auf seinem Hinweg da gelegen. Er versuchte, sich schnell und trotzdem leise zu bewegen, und überwand die Meter bis zur nächsten Häuserecke mit weiten, federnden Schritten – zurück in die Gasse entlang der Kirchenwand, durch die er gekommen war. Hinter der Ecke blieb er stehen. Seine Hände zitterten.

Drei Atemzüge später ging er den Weg zurück zum Platz von Hiroshima, als es direkt neben seinem Kopf knallte. Er fuhr vor Schreck zusammen, warf beide Arme in einer ungezielten Abwehrbewegung über den Kopf. Die entstellte Beauty-Queen hinter der Drogeriemarktscheibe, er hatte sie vergessen, und in einer Geste, deren Unvernunft er hinterher nur durch den Schreck erklären konnte, ließ er den Griff seiner Pistole gegen die Scheibe donnern, direkt neben das schmutzige Gesicht der Frau, und schrie ihr wutentbrannt durch das Glas direkt ins Gesicht so laut er konnte. Hinter ihm erhoben sich mit rauschenden Flügelschlägen die Vögel von der Leiche neben der Hiroshima-Skulptur. Die Scheibe hielt.

Er wich zurück, kopfschüttelnd über … alles. Über seine eigene Dummheit. Über die Frau, die sich immer noch gegen die Scheibe presste, ohne die Unsinnigkeit ihrer Handlung zu erkennen, und darüber, dass er gerade noch mit dem Leben davongekommen war. Er beugte den Oberkörper vor, stützte die Hände auf die Knie, atmete tief und warf einen Blick zurück – er wurde nicht verfolgt.

Er stand jetzt direkt vor dem Seitenportal der Kirche. Unter den vollgeschriebenen Tapetenbahnen strahlten die jahrhundertealten Sandsteinmauern eine erhabene Ungerührtheit im umgebenden Chaos aus.

Carsten war außer Atem und nassgeschwitzt. Er hoffte auf einen Moment der Ruhe – und folgte dem Impuls, das Portal zu öffnen. Es gab nach.

Das Gebäude empfing ihn mit dem sakralen Duft nach Stein und Feuchtigkeit, den es nur in Kirchen gibt. Carsten war kein religiöser Mensch; trotzdem konnte er sich der Ehrfurcht nicht erwehren, die sich beim Betreten heiliger Orte einstellt.

Er schloss die schweren Flügel des Kirchenportals hinter sich und trat in die kühle Stille des Gotteshauses. Die Stille, die allgegenwärtige Stille, die die Welt draußen so gespenstisch färbte, hier hatte sie ihren Platz. Hier durfte sie sein, sollte sie sein; hier fühlte sie sich behütend an.

Carsten machte wenige Schritte in die Mitte des Raums. Das hohe Gewölbe antwortete mit einem Nachhall seiner Bewegungen.

Es war weder hell noch dunkel im Innern der Kirche. Die Buntglasfenster brachen das Licht und ließen es in blassen Farben auf die weißverputzten Wände rieseln. Nichts hatte die Ordnung in der Kirche gestört. Alles war an Ort und Stelle, wie vorbereitet für den nächsten Gottesdienst; es stand sogar ein Rest Weihwasser in den Steinbecken. Nur die Kerzen waren längst ausgebrannt.

Carsten sah sich dem geschnitzten Altarbild gegenüber; die Flügel waren geschlossen. Die Stufen am Fuß des Altars waren übersät mit Fotos, Briefen und welken Blumen. Die Altarstufen waren zur Gedenkstätte für die vielen Opfer geworden, die gläubige Menschen an die Infektion verloren hatten. Viele hatte die Katastrophe zum Glauben zurückgeführt. Gerettet hatte er sie nicht.

Carsten hatte zuletzt als Kind gebetet. Angeleitet. Jetzt blieb er stumm, auch in Gedanken. Er setzte sich auf eine der vordersten Kirchenbänke und ließ etwas von der Ruhe in sich sinken, die in diesem Ort gespeichert war.

Er streifte die schweißnassen Fetzen seiner Latexhandschuhe ab, zog seine Jacke aus und legte sie neben sich auf die Kirchenbank. Dann öffnete er seinen Rucksack und griff nach der Whiskeyflasche. Als er den Deckel abschraubte, spürte er einen inneren Widerstand – es fühlte sich nicht richtig an, in einer Kirche Schnaps zu trinken. Er steckte den Whiskey wieder ein, zog stattdessen eine Wasserflasche hervor und trank.

Hier schien die Zeit angehalten; ohne die Erinnerungsstücke auf den Stufen hätte nichts verraten, was außerhalb dieser Mauern vor sich ging.

Carsten fragte sich, wie lange das so bleiben würde – wie lange diese Kirche hier stehen würde, unberührt, unverändert, wenn schon längst niemand mehr da war, um hier zu beten und Gottesdienste zu besuchen.

Er sah auf die Uhr. Sein Puls hatte sich beruhigt. Es war Zeit weiterzumachen.