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Carsten hatte länger gearbeitet als geplant und sich deshalb auf dem Heimweg eine Pizza gekauft, die er jetzt auf der Couch vor dem Fernseher aß. Schinken und Peperoni. Der Pizzabäcker hatte bei der Arbeit einen Mundschutz getragen, immer mehr Menschen trugen jetzt einen Mundschutz. Carsten ging dieser Anblick auf die Nerven. Er sah darin nur ein weiteres Zeichen für die überbordende Hysterie. Nach aller seriösen Berichterstattung war eine Tröpfcheninfektion mit Prionen ausgeschlossen, der Mundschutz war also sinnlos.

Er schaute sich die Nachrichten an; die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender sendeten schon seit Tagen nichts anderes mehr als Nachrichten und Sondersendungen. Mit einem Stück Pizza in der Hand betrachtete Carsten die neuesten Statistiken des Instituts für Risikobewertung: Die Zahl der Infektionsfälle habe sich in den letzten zwei Wochen erneut verdoppelt, hieß es. Die Krankenhäuser hätten ihre Kapazitätsgrenzen erreicht. In Italien und Frankreich seien landesweit die Schulen geschlossen worden. Auch in Deutschland gebe es Evakuationspläne, an denen zurzeit noch gearbeitet werde. Die Parteien seien weiterhin mit der Diskussion beschäftigt, ob man das Militär zur Kontrolle der Situation einsetzen dürfe. Es gebe immer mehr Berichte davon, dass Infizierte in Verwirrungszuständen andere Menschen mit massiver Aggressivität angreifen. Ärzte und Pflegepersonal beschwerten sich über mangelnde Sicherheitsmaßnahmen in den Kliniken.

Carsten wechselte den Sender auf der Suche nach ablenkender Unterhaltung, als jemand unrhythmisch gegen seine Wohnungstür hämmerte. Carsten stellte den Pizzakarton auf den Couchtisch und schaltete den Ton des Fernsehers ab. Das Hämmern hielt an.

Carsten ging durch den Flur auf die Tür zu und legte das Auge an den Türspion. Herr Pöhler, sein Nachbar. Er trug einen grünen Mundschutz vor dem Gesicht, hämmerte mit den Fäusten auf Carstens Tür ein, die Augenbrauen zusammengekniffen, der Blick wütend, geradezu hasserfüllt. Carsten kannte seinen Nachbarn kaum. Er hatte nur manchmal Pakete bei ihm abgeholt, die Herr Pöhler für Carsten angenommen hatte, und dabei kurze, belanglose Gespräche mit ihm geführt.

»Was ist denn?«, rief Carsten durch das Türblatt. Keine Antwort. Die Hiebe gegen die Tür wurden heftiger, Herr Pöhler musste sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen werfen. Mit jedem Stoß gab er einen unmenschlichen Laut von sich, etwas zwischen Keuchen und Brüllen. Carsten schreckte von der Tür zurück. Er suchte in der Hosentasche und fand seinen Schlüsselbund; er schloss die Tür ab, spürte das Schloss einrasten.

Carsten stand ratlos vor seiner Wohnungstür. Wie viel hält so eine Tür aus? Ist Herr Pöhler stark genug, um sie aus den Angeln zu drücken? Polizisten können das, jedenfalls im Fernsehen. Warum greift niemand ein? Das ganze Haus muss das Getöse mitbekommen.

Carsten trat wieder zur Tür und begann, auf Herrn Pöhler einzureden.

»Hören Sie auf!«, rief er und bemühte sich um eine feste Stimme. »Herr Pöhler, hören Sie auf damit!«

Seine Worte blieben ohne Konsequenz.

»Hören Sie sofort auf oder ich rufe die Polizei!«

Carsten lief durch den Flur zurück, schloss die Wohnzimmertür hinter sich, für die es keinen Schlüssel gab. Im Wohnzimmer suchte er das Telefon. Er fand es nicht, aber er entdeckte sein Handy auf dem Couchtisch neben dem Pizzakarton. Carsten begann, die Notrufnummer einzutippen, und merkte erst jetzt, wie sehr seine Hände zitterten. Notruf vom Handy mit oder ohne Vorwahl?

Carsten löschte die getippten Ziffern wieder und begann, neu zu tippen, als er die Wohnungstür knirschen und brechen hörte. Carsten zuckte zusammen, ihm wurde übel. Mit dem Handy in der Faust rannte er ins Badezimmer, den einzigen abschließbaren Raum in seiner Wohnung, und verriegelte die Tür. Wenn Herr Pöhler die Wohnungstür kleinkriegt, wird ihn die Badezimmertür nicht lange aufhalten. Carsten rückte einen Badezimmerschrank von innen gegen die Tür. Sein Herz pochte bis in seinen Rachen. Er ließ das Handy die Notrufnummer wählen und kauerte sich in der Wanne zusammen. Jetzt hörte er Stöße und Schläge gegen die Wohnzimmertür – Herr Pöhler müsste nur die Klinke drücken, um sie zu öffnen. Er hörte Sirenen von der Straße und dachte für einen Augenblick, sie seien seinetwegen da, doch sein Anruf war ja noch gar nicht entgegengenommen worden. Das Besetztzeichen ertönte. Carsten drückte die Wahlwiederholung – mit dem gleichen Ergebnis. Ein letzter heftiger Stoß gegen die Wohnzimmertür, dann schnelle Schritte in der Wohnung, Poltern im Wohnzimmer. Herr Pöhler hatte es geschafft. Aber er konnte nicht wissen, in welchem Zimmer Carsten sich versteckt hatte. Carsten wählte die nächste Nummer, die ihm in den Sinn kam: die Handynummer von Markus, seinem engsten Freunde seit der Schulzeit. Markus nahm schon beim dritten Freizeichen ab.

»Hey Carsten, was gibt’s?«

»Pass auf, hör zu, ehm …«, flüsterte Carsten und überlegte, wie er seine Lage schnell und einfach erklären konnte. »Markus, pass auf, ich steck in der Klemme.«

»Was ist los?«

»Mein Nachbar … mein Nachbar ist in meiner Wohnung, er ist – eingebrochen, und ich bin jetzt im Badezimmer.«

»Was?«

»Ja, er ist total durchgedreht.«

»Ach du Scheiße, ähm – ruf die Polizei!«

»Ist besetzt.«

»Was? Die Polizei ist besetzt? Versuch’s noch mal!«

»Hab ich schon.«

»Oh Mann, okay, hast du die Tür abgeschlossen?«

»Ja.«

»Kannst du durchs Fenster raus?«

»Ich glaube … Nee, das geht nicht, das ist viel zu hoch.«

»Scheiße. Such dir was, womit du dich verteidigen kannst.«

»Was?«

»Such dir irgendwas, eine Waffe, such dir irgendwas, womit du zuschlagen kannst.«

»Was? Ich … ich kann doch nicht meinen Nachbarn schlagen.«

»Du musst! Carsten, du musst deinen Nachbarn schlagen! Das ist dieser Virus! Das passiert jetzt überall, es ist in den Nachrichten. Menschen werden umgebracht, Carsten, draußen auf der Straße. Einfach umgebracht von durchgedrehten Kranken.«

Carsten suchte den Raum mit den Augen ab. Er hörte Herrn Pöhler durch die Wohnung toben.

»Hier ist nichts, ich hab hier nichts.«

»Eine Eisenstange oder so? Die Stange vom Duschvorhang?«

»Das geht nicht, glaub ich, die ist nur aus Alu.«

»Haarspray? Haarspray und Feuerzeug, das geht jedenfalls in Filmen.«

»Ich hab doch kein Haarspray!«

»Keine Ahnung, du musst irgendwas finden. Pass auf, ich bin jetzt schon im Auto. Ich komm sofort zu dir rüber und versuch unterwegs noch mal Polizei und Feuerwehr und alles. Und wenn’s nicht anders geht, dann guck noch mal, ob du durchs Fenster kannst.«

»Nein«, flüsterte Carsten, »Markus, ich glaub, der ist wirklich gefährlich. Komm nicht her, das ist zu gefährlich.«

»Ich komme jetzt, Carsten. Halt durch.«

Es war soweit: Der erste Stoß gegen die Zimmertür war so heftig, dass Carstens Badezimmerschrank klapperte. Die Schranktür. Besser als nichts. Carsten packte die Tür des Badezimmerschranks und trat mit zwei kräftigen Tritten die Scharniere aus dem Holz. Er packte die kleine Holztür fest an den Kanten und führte zwei langsame Probeschläge durch die Luft aus. Herr Pöhler brach durch die Tür in den Raum. Carsten schlug zu, schlug zu, so fest er konnte.