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Grundschullehrer klingt lustiger, als es ist, dachte Carsten und tastete nach seiner Pistole. Trotzdem hatte er seinen Beruf gemocht. Er fand die Waffe neben sich auf dem Fliesenboden; es tat ihm gut, sie bei sich zu wissen. Er hatte sie einem sterbenden Polizisten im Hauptbahnhof abgenommen. Viel Munition war nicht mehr übrig.
Vom Schlaf noch benommen, rieb er sich die Augen. Er hatte von der Schule geträumt, vom Unterricht in seiner Klasse. Träume, in denen alles war wie früher, waren die schlimmsten.
Er hatte im Sitzen geschlafen, neben der Toilette in seine graue Wolldecke gewickelt, den Rücken an die weiß gekachelte Wand gelehnt. In seinem Schoß lag die Taschenlampe. Sie musste ihm im Schlaf aus der Hand gerutscht sein. Nur ein orangefarbenes Glimmen gab sie noch von sich, so schwach waren die Batterien. Er hatte schon wieder den gleichen Fehler gemacht, tadelte er sich stumm. Hatte die Tür angeleuchtet, bis ihm die Augen zugefallen waren. Jetzt brauchte er neue Batterien.
Carsten schaltete die Lampe aus; der Raum wurde dämmrig vom vergilbten Licht der Notbeleuchtung ausgeleuchtet. Bis auf das leise Surren der Neonröhren war es vollkommen still. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Notstromversorgung des Kaufhauses nachlassen und auch das Notlicht verlöschen würde.
Er griff nach der Whiskeyflasche, die neben ihm auf dem Toilettendeckel stand. Er hatte zum Einschlafen daraus getrunken, jetzt nahm er einen Schluck, um wach zu werden. Der Alkohol ließ ihn besser funktionieren. Beruhigte ihn. Nahm der Todesangst die Spitzen. Und desinfizierte Fleisch- und Seelenwunden.
Wenn der Alkohol ihn müde machte, kaute er Espressobohnen, um wach und aufmerksam zu bleiben. Kaffee getrunken hatte er zuletzt, bevor flächendeckend der Strom ausgefallen war. Espressobohnen und Whiskey, das war jetzt der Geschmack der Welt.
Er streckte den Rücken durch; die Nacht auf dem harten Fliesenboden hatte seinem Körper nicht gutgetan. Er fühlte sich verspannter und steifer als vor dem Schlafen. Carsten stand auf und wischte sich Schweiß von der Stirn. Er hatte in seinen Schuhen geschlafen. Seine Haut klebte, die schmutzige Kleidung fühlte sich klamm an. Es war heiß und stickig hier oben unter dem Dach. Die Klimaanlage lief schon seit Wochen nicht mehr. Sein eigener Schweißgeruch stieg ihm säuerlich in die Nase.
Die Behindertentoilette war ein guter Ort zum Übernachten – man konnte sie abschließen, sie war geräumig und bot nichts, was irgendjemanden hätte anlocken können. Es war die dritte Nacht in Folge, die er hier im obersten Stockwerk des Kaufhauses hoch über dem Zentrum seiner Heimatstadt verbracht hatte.
Die Armbanduhr verriet ihm, dass er sechs Stunden geschlafen hatte. Es war jetzt neun Uhr morgens, und damit konnte er sicher sein, dass es draußen hell war. Er kramte die letzte PET-Flasche mit Mineralwasser aus seinem Rucksack, nahm ein paar Schlucke und goss sich etwas Wasser in die Hände, um sich über dem Waschbecken das Gesicht zu waschen. Den Blick in den Spiegel vermied er. Neben dem Waschbecken klebte eine Anleitung zum richtigen Händewaschen. Und zum hygienischen Niesen: in die Armbeuge, nicht in die Hand. Das hatte auch niemandem geholfen.
Carsten lehnte sich mit dem Rücken gegen die Fliesen, legte den Hinterkopf an die Wand und verharrte so für drei langsame Lidschläge. Er hatte Zahnschmerzen; er neigte zu nächtlichem Zähneknirschen in stressigen Lebensphasen. Der Schmerz zog aus den Kiefermuskeln bis hoch unter den Schädel und kündigte Kopfschmerzen an; die Art, die über den Tag immer stärker wird.
Carsten ging wieder zu seinem Schlafplatz, zog die Jacke an und hob seine Brille auf; das Gestell war neben dem rechten Bügel gebrochen, er hatte es mit Paketklebeband notdürftig repariert. Aus einer Jackentasche zog er eine Schachtel mit Schmerztabletten, es waren nur noch drei übrig. Mit einem Schluck Whiskey spülte er eine herunter, um den aufsteigenden Kopfschmerzen vorzubeugen.
Er überdachte seinen Plan für heute: Trinkwasser besorgen, das war das erste. Die angebrochene Flasche in seiner Hand würde ihn nicht mehr weit bringen. Dann Batterien. Kopfschmerztabletten, wenn er welche finden konnte. Und anschließend die Liste weiter abarbeiten.
Er schraubte den Whiskey zu und verstaute die Flasche in seinem großen Trekkingrucksack. Am Boden stand noch seine Alarmanlage, eine leere Konservendose auf jeder Seite der Tür, mit einer Schnur verbunden. Er wickelte den Faden auf, steckte die Dosen in den Rucksack und stopfte die graue Wolldecke hinterher. Aus einer zerknickten Spenderbox in seinem Rucksack zog er ein Paar gepuderter Latexhandschuhe und streifte sie über die Hände. Dann schulterte er das Gepäck und hob seine Waffen auf. Carsten Lemmner, der Kriegsdienstverweigerer. Der Primarstufenpädagoge. Die Pistole steckte er in das Holster an seinem Gürtel. Die langstielige Axt trug er in der Rechten, ließ die flache Seite des Axtblatts beim Laufen gegen sein Knie tippen. Aus einer Jackentasche zog er ein paar Espressobohnen und steckte sie in den Mund. Er biss zu, es wurde bitter. Er horchte an der Tür – vielleicht etwas länger als nötig –, öffnete dann das Schloss und spähte hinaus auf den engen, schlecht beleuchteten Flur. Nichts zu sehen, nichts zu hören.
Vierter Stock: Haushaltswaren, Glas und Porzellan. Kundenrestaurant und Toiletten. Die verließ er jetzt, schlich durch den schmalen Gang am Kartentelefon vorbei und hielt mit dem Rücken zur Wand an. Vorsichtig spähte er an der Zwischenwand vorbei, die den Toilettenflur vom Rest des Stockwerks abtrennte. Fahles Notlicht spiegelte tausendfach aus Besteckkästen, von Kristallgläsern und Teekannen zurück. Alles schien sich in bester Ordnung zu befinden – keine umgestürzten Regale, keine Scherbenberge. Ein deutliches Zeichen dafür, dass hier niemand mehr hergekommen war, seit es ernst geworden war. Gegenüber des Toilettenflurs stand noch eine Menütafel, gekonnt mit Kreide beschriftet: »Seelachs mit Salzkartoffeln und Gemüse der Saison.« Im Zentrum des Gastronomiebereichs lag eine große Theke im Halbdunkel, die Hebel einer Zapfanlage ragten darüber auf. Brauchen Zapfanlagen Strom? Carsten suchte in seinem Gedächtnis, fand verschwommene Bilder aus Kneipen und Partykellern. Fässer wurden angeschlossen, das hatte immer mit Schläuchen und Kohlensäure zu tun. Aber mit Strom? Er machte wenige Schritte aus dem Toilettenflur ins Kundenrestaurant. Nur der saure Geruch der verdorbenen Lebensmittel verriet, dass hier heute niemand bewirtet werden würde. Carsten zog den Zapfhahn für Mineralwasser. Ein kurzes Zischen und ein enttäuschender Sprühnebel war alles, was er hergab. Er probierte auch die anderen Hähne: Cola, Fanta und drei verschiedene Sorten Bier. Das Ergebnis war genauso frustrierend; die Zapfhähne für Bier zischten nicht einmal. Also doch die Lebensmittelabteilung, fünf Stockwerke tiefer. Untergeschoss.
Die Rolltreppen waren seit Wochen nicht mehr gelaufen und knarzten viel zu laut unter seinen Füßen. Auf der halben Treppe ging er in die Knie und versuchte, einen Überblick über die nächste Etage zu gewinnen. Er lauschte. Nichts zu hören, nichts zu sehen. Er stieg weiter abwärts: Bettwaren, textiles Werken und Tischwäsche. In der nächsten Etage Herrenbekleidung und Reisegepäck. Je tiefer er kam, desto stärker wurde der Gestank.
Erste Etage: Damenbekleidung, Damenwäsche und Bademoden. Umgestürzte Kleiderständer, eine eingerissene Zwischenwand. Die Scherben einer großen Dekovase, grünlackierte Bambusstäbe waren überall hingerollt. Eingetrocknete Blutspritzer auf fliederfarbenen Dessous. Keine erkennbare Veränderung seit gestern.
Weiter ins Erdgeschoss: Parfümerie, Reisebüro, Uhren und Schmuck. Und große, offene Türen zur Außenwelt. Die meisten von ihnen waren nicht mehr in der Lage, Treppen hinaufzusteigen. In höheren Stockwerken war es deshalb sicherer. Herunterstolpern konnten sie.
Schon auf halbem Weg ins Erdgeschoss hörte er die ersten Missklänge von der Straße hereindringen. Das metallische Klappern eines Sicherheitsgitters. Rohe, unartikulierte Laute aus wunden Kehlen. Er wischte sich mit dem Ärmel Schweiß von der Stirn. Stufe für Stufe ging er weiter, auf der letzten blieb er stehen und sah sich um. Die Geräusche kamen von draußen. Im Gebäude war es still.
Die nächste Treppe führte ins Untergeschoss. Lebensmittel, Delikatessen. Eine Sackgasse. Carsten blickte die Treppe hinab; der Weg war frei. Er schaute über die Schulter zurück zu den zerschmetterten Eingangstüren. Er rückte seine Brille zurecht, atmete tief ein und schloss beide Fäuste fest um den Stiel der Axt. Dann begann er hinabzusteigen; Stufe für Stufe, Schritt für Schritt, immer tiefer ins Untergeschoss.