26

Sie mussten weder weit laufen noch lange suchen, um den Supermarkt zu entdecken. Eine flache Halle, direkt an die Hauptstraße gebaut, davor ein großer Parkplatz, auf dem jetzt kein einziges Auto stand. Carsten und Miriam näherten sich vorsichtig dem Eingang. Das Sicherheitsgitter vor den Türen war hochgestemmt und ruhte auf zwei Einkaufswagen, die sich unter dem Gewicht schon verformt hatten. Die Glastüren hinter dem Gitter waren zerschlagen.

Carsten duckte sich unter dem Gitter hindurch, Miriam folgte ihm. »Vorsicht mit dem Glas«, warnte er sie.

Im Durchgang versperrte ein Sicherheitsbügel den Weg in die Halle, der im Betrieb nach innen aufgeschwungen wäre, jetzt aber starr blieb. Carsten schwang sein Bein hoch und kletterte darüber; das Mädchen krabbelte unter dem Bügel her.

Es roch weder nach verwesendem Fleisch noch nach fauligem Gemüse; wer immer diesen Supermarkt zum letzten Mal hinter sich geschlossen hatte, hatte ihn besser vorbereitet als das Kaufhaus in der Innenstadt.

Als sie die Verkaufshalle betraten, hörte Carsten eine schwache Stimme »Hilfe« stammeln. Sie blieben stehen. Nochmals »Hilfe, Hilfe«; eine Frau, zu schwach, um zu schreien. Carsten erkannte die Stimme: Ulrike war nicht weit gekommen.

Er hatte sie gewarnt, hatte versucht, sie aufzuhalten. Sie hatte nicht auf ihn gehört. Hieß das, dass er sie jetzt auf dem kalten Boden eines Supermarkts sterben lassen durfte?

Er musste vor allem an Miriams Sicherheit denken. Er wandte sich zum Ausgang.

Die Stimme wiederholte wieder und wieder ihr einziges Wort. Neben Ulrikes flehender Stimme machte Carsten Laute von Knurren, Kauen und Schmatzen aus.

Er hätte sie aufhalten sollen, hätte sie nicht gehen lassen dürfen. Er fluchte, drehte sich doch wieder um und zog die Pistole.

Er sah Miriam an und flüsterte: »Bleib hier stehen, genau hier. Wenn irgendwas passiert, dann ruf nach mir. Okay?«

Sie wurde blass und sah ihn mit angsterfüllten Augen an. Er musste schnell handeln. »Hast du mich verstanden?«, flüsterte er dringend. Das Mädchen nickte.

Die Waffe vor sich ausgestreckt durchschritt Carsten die Gänge zwischen den Warenregalen, stieg über Konservendosen und Pappkartons. Der Versuch, ihre Schwester zu retten, hatte Ulrike ins Verderben geführt. Hatte sie ihre Schwester am Ende sogar gefunden? Schreckliche Bilder formten sich in seiner Vorstellung; in seinem Kopf sah er Agnes’ zartes Gesicht, vollgeschmiert mit dem Blut ihrer Schwester. Beging er gerade den gleichen Fehler wie Ulrike?

Er stand jetzt vor einem hüfthohen Tiefkühlregal und konnte hören, dass die Geräusche direkt dahinter ihren Ursprung hatten. Zwei große Schritte brachten ihn um das Regal herum. Es war nicht Agnes, die sich über Ulrikes Körper hermachte. Es war ein Mann in Jeans und schmutzigem Hemd, der sein Gesicht und die linke Hand in Ulrikes Bauchhöhle vergraben hatte. Carsten verlor die Kontrolle über sein Gesicht. Er hätte nie gedacht, dass ein einziger Mensch so viel bluten konnte. Ulrikes Augen fanden seine.

»Hilfe«, hauchte sie.

Carsten schluckte. Er zielte auf den Rücken des Mannes, der über Ulrike hockte. Doch er musste befürchten, dass seine Kugel den Körper des Mannes durchschlagen und dann sie treffen würde. Vorsichtig umrundete er die Blutlache, die die beiden umgab, und stellte sich hinter Ulrikes Kopf. Der Mann war zu beschäftigt mit Fressen, um Carsten zu bemerken. Der Ekel über das Gurgeln und Schmatzen drohte Carsten zu übermannen; er ließ es nicht zu. Er streckte die Waffe vor und feuerte, einmal, zweimal aus kürzester Entfernung. Der Mann keuchte, röchelte und sank leblos auf Ulrike zusammen.

Carsten wollte Ulrike von der Last der Leiche befreien, doch er schreckte davor zurück, den Körper des toten Mannes zu berühren. Er zog die Axt aus dem Gürtel und hakte das Axtblatt unter die Schulter des Toten. Als er ihn von Ulrike herunterzog, drehte sich der tote Körper und kippte mit dem Rücken in die Blutlache.

Jetzt lagen Ulrike und ihr Mörder Schulter an Schulter nebeneinander, und ihr Blut vermischte sich auf den Bodenfliesen des Supermarkts. Carsten stand über ihnen, die Axt in der einen, die Pistole in der anderen Hand. Er blickte auf die verletzte Frau hinab, die ihn vor nicht mehr als einer Stunde dafür angebrüllt hatte, dass er ihre kranke Schwester hatte gehen lassen. Ihr Atem hechelte flach und ihr Blick trübte sich. Dunkles Blut pumpte aus ihrer zerrissenen Bauchdecke. Warum starb sie nicht?

Carsten sah die Anstrengung in ihren Augen, als sie versuchte, den Kopf zu heben. Es schien ihm, als wollte sie mit der Stirn auf etwas zeigen. Carsten sah auf die Waffen in seinen Händen. War es das, worauf sie zeigen wollte? Wollte sie, dass er ihr Leben beendete?

Ein Schlurfen aus einem der benachbarten Gänge ließ Carsten zusammenfahren. Er versuchte auszumachen, wo das Geräusch herkam und richtete die Waffe auf eins der Regale hinter Ulrike. Mit nackten Füßen trat eine ältere Frau in einem verdreckten Nachthemd um das Regal herum, einen Arm vor sich ausgestreckt, der andere hing schlaff von ihrer Schulter. Carsten legte an und zielte auf ihren Brustkorb, als es hinter ihm polterte. Carsten wirbelte herum, doch seine Augen konnten niemanden entdecken.

Dann hörte er Miriams Stimme: »Herr Lemmner, da kommen ganz viele!«

Carstens Herz hämmerte. Es passierte zu viel auf einmal. Er wandte sich wieder um und zielte über Ulrike hinweg auf die alte Frau, die inzwischen drei Schritte näher gekommen war, und schoss, einmal, zweimal in ihre Brust. Sie stürzte rückwärts und schlug lang hin. Die Schüsse ließen seine Ohren dröhnen, Miriam rief wieder seinen Namen. Für eine Sekunde trafen seine Augen Ulrikes flehenden Blick, dann sprang er über die Kühltruhen, um dem Mädchen zu Hilfe zu kommen. Er rannte einen Gang entlang, um ein Regal herum und sah Miriam, zusammengekauert auf dem Boden vor dem Eingang, als ihn eine kräftige Hand von hinten packte und zu Boden riss. Carsten stürzte rückwärts auf seinen Rucksack, im Fallen verlor er die Pistole, ein Schuss löste sich und schlug irgendwo ungezielt ein. Ein kräftiger Mann mit struppigem Vollbart stellte sich über ihn; er trug einen mächtigen Bauch vor sich her. Dunkles Blut war an seinem Kinn und im dichten Haar auf seiner Brust getrocknet. Carsten hatte ihn nicht kommen sehen. Miriam kreischte. Carsten riss die Axt aus seinem Gürtel und brachte den Stiel quer vor seinen Körper, gerade bevor der schwere Mann sich auf ihn warf. Mit aller Kraft seiner beiden Arme streckte er die Axt vor sich aus, um den Angreifer von sich fernzuhalten. Der packte mit seinen großen Fäusten jetzt ebenfalls den Axtstiel.

Das Gewicht des Mannes presste Carsten die Luft aus den Lungen. Mit den Beinen versuchte er, sich hochzudrücken, irgendwie freizukommen, doch unter dem Gewicht konnte er sich kein Stück bewegen. In verzweifelter Anstrengung begann Carsten zu schreien, dann hörte er wieder Miriams Stimme: »Hier, hier, hier drüben, hier, komm her!«, rief sie und machte mit irgendetwas Klimperndem Lärm dazu. Der schwere Mann wandte tatsächlich den Kopf zu ihr, und Carsten presste noch einmal mit aller Kraft den Axtstiel von sich weg.

Gerade als er hoffte freizukommen, wandte der Mann sich Carsten wieder zu, und statt weiter um den Axtstiel zu ringen, senkte er seine Zähne in die Finger von Carstens rechter Hand. Carsten schrie vor Schmerz, als er die Zähne auf seinen Knochen spürte. Dann traf etwas den Kopf des Mannes wie ein Knüppel und ließ ihn keuchen. Heißer Speichel spritzte in Carstens Gesicht. Ein zweiter Schlag folgte, dann ein dritter, ein vierter. Der Mann hob den Kopf, und Carsten konnte Miriam sehen, wie sie mit einer Weinflasche in der Hand auf den Schädel des Mannes einschlug. Der Bärtige erhob sich schwerfällig, gab Carsten endlich frei, drehte sich zu Miriam um, die schnell vor ihm zurückwich. Die Weinflasche rutschte ihr aus den Fingern und zerplatzte auf den Fliesen.

Carsten kam über die Knie in den Stand, holte in einem weiten Bogen aus und schmetterte dem Mann die Axt gleich über dem Gürtel ins Rückgrat. Der keuchte und fiel auf die Knie. Das Axtblatt steckte fest in seinem Rücken, und Carsten hielt den Axtstiel so kräftig umklammert, dass es ihn mit auf die Knie riss. Der Mann kippte wie ein gefällter Baum vorwärts, sein Gesicht schlug ungebremst in die Scherben der Weinflasche zu Miriams Füßen. Carsten stemmte sich gegen das Gewicht des Rucksacks wieder hoch, riss die Axt frei, holte weit über den Kopf aus und hieb sie noch einmal in den Rücken des Mannes. Dann blieb er schwer atmend und nassgeschwitzt über der Leiche stehen, die Hände am Axtstiel, und blickte zu Miriam. Die sah ihn an, das Gesicht tränenüberströmt, die Lippen aufeinandergepresst. Ihre Schultern bebten. Carsten streckte seine rechte Hand vor sich aus. Das eigene Blut tropfte ihm von den Fingerspitzen; in den tiefen Bisswunden konnte er seine Knochen erkennen.

»Herr Lemmner«, sagte Miriam außer Atem, »da kommen noch ganz viele.« Sie zeigte auf den Eingang.

Carsten versuchte, seine schmerzende Hand zur Faust zu ballen und zog mit der linken die Axt aus dem Leichnam. Dann schleppte er sich zu den Türen und spähte durch das Stahlgitter: Eine ganze Horde war auf dem Weg zum Eingang. Carsten schätzte fünfzehn oder zwanzig, die schnellsten rannten vorneweg und hatten bereits den leeren Parkplatz erreicht. Carsten steckte die Axt in den Gürtel und suchte mit der Hand nach der Pistole, aber das Holster war leer, er erinnerte sich. Er fluchte, dann rief er: »Miriam, du musst die Pistole finden!« Fünf von Gier und Hunger entstellte Gesichter rasten auf ihn zu. Er schüttelte über sich selbst den Kopf und rief schnell hinterher: »Miriam, du darfst die Pistole aber nicht anfassen! Sag mir nur, wo sie ist!« Dann trat er mit aller Kraft gegen die Einkaufswagen, die das Sicherheitsgitter vor der Tür stützten, doch sie wollten sich nicht rühren, das Gitter grub sich nur noch tiefer in das verbogene Drahtgestell der Wagen. Er fluchte – sie kamen so schnell näher. Er hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an die Griffe der Wagen, um sie zur Seite umzureißen, doch das schwere Stahlgitter hielt sie fest. Carsten gab auf. Er rannte zurück in die Halle und rüttelte an einem Verkaufsregal, bis es ihm gelang, es von innen gegen den Eingang zu schieben.

Wenn er es allein bewegen konnte, würde es sie nicht lange aufhalten.

Carsten taumelte zu Miriam, die auf dem Boden hockte und unter ein Regal zeigte: »Herr Lemmner, ich hab sie gefunden, da ist sie!«

»Sehr gut.« Carsten legte sich neben sie auf den Boden und erblickte die Pistole unter dem Verkaufsregal. Er streckte den rechten Arm aus und versuchte, sie zu greifen, aber er konnte seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen. Sie war taub vor Schmerz und fühlte sich an, als wäre sie zu doppelter Größe angeschwollen. Er fasste mit der Linken unter das Regal, streckte den Arm, bekam endlich die Pistole zu packen und zog sie unter dem Regal hervor.

»Komm«, sagte er und stand auf, »wir müssen einen anderen Ausgang finden.« Carsten suchte nach Notausgangsschildern und rannte mit Miriam zu einer blauen Stahltür – sie war abgeschlossen. Er schlug einhändig mit der Axt auf sie ein, doch die Tür rührte sich nicht. Hinter ihnen hörte Carsten das Regal, mit dem er den Eingang versperrt hatte, über den Boden rutschen. Tränen schossen ihm unkontrolliert in die Augen. Die Situation war aussichtslos, sie saßen in der Falle, gleich würden sie sich über sie hermachen. Er war schon gebissen, der Mann hatte ihn gebissen, jetzt hatte er die Pest im Körper. Carsten hörte sich selbst schluchzen und hörte, wie das Regal weggeschoben wurde. Er streckte den Kopf hoch und nahm von irgendwoher neue Kraft. Es musste andere Türen geben. Ein Büro. Einen Zugang zum Lager.

»Komm!«

Er rannte mit Miriam um die Kühltruhen herum zur gegenüberliegenden Wand, hier lag Ulrike leblos in ihrer viel zu großen Blutlache. Carsten entdeckte eine große, zweiflüglige Stahltür in der Wand, vor die jemand ein Regal gewuchtet hatte. Das Lager. Ein Fluchtweg.

»Da!«, rief er aus und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Regal, Miriam bemühte sich, ihm zu helfen. Mit einem lauten Poltern warfen die Angreifer von draußen das Regal vor dem Eingang um, und Carsten hörte sie mit schnellen Schritten über die Fliesen rennen, gerade als er das Regal weit genug geschoben hatte, um die Tür einen Spalt weit zu öffnen. Er packte Miriam am Oberarm und zog sie mit sich in den Raum dahinter.

Carsten schlug die Tür hinter ihnen zu und schob das erste Hindernis dagegen, das sich anbot: ein Stapel Holzpaletten. Er legte den Finger auf die Lippen, bedeutete Miriam, still zu sein. Vielleicht hatten sie nicht gesehen, wohin er und das Mädchen verschwunden waren. Dann würden sie sich über die Leichen in der Halle hermachen, über Ulrikes Körper, und sie konnten hier versteckt bleiben. Er sah sich um. Es fiel nur wenig Licht durch drei vergilbte Dachfenster in den großen, gestreckten Lagerraum. Kartons waren auf Holzpaletten abgestellt, in hohen Regalen lagerten Waren, die nie verkauft werden würden, und in einer Ecke stand ein kleiner gelber Gabelstapler. Eine Wasserlache hatte sich auf dem Boden ausgebreitet. Carsten erschrak, als er erkannte, dass sie nicht alleine im Raum waren: Menschen lagen hier.

Sie lagen und saßen an Wände und Kartons gelehnt. Carsten ließ die Augen über jeden Einzelnen wandern. Waren sie tot? Oder waren ihre Hirne so zerfressen, dass sie gelähmt dem Sterben nah waren? Hatte jemand sie hier eingesperrt, und sie waren verhungert, oder hatte die Krankheit sie einfach dahingerafft? Im dämmrigen Licht erkannte Carsten eine abgemagerte Frau in einem schmutzigen Sommerkleid, einen Mann mit eingefallenem Gesicht in einem gelben Regenmantel, eine Frau in einem Patientenkimono und einen Mann mit schwarzer Jacke. Sein Skalp war ihm halb vom Schädel gerissen und hing ihm wie ein blutiger Lappen vor einem Auge. Bewusstlos, gelähmt oder tot stellten sie keine Gefahr dar. Auf sie zu schießen, würde nur ihr Versteck preisgeben.

Carstens Blut tropfte von seiner Hand in die Wasserlache auf dem Boden. Er sah sich um und fand ein Putztuch, das er sich um die blutenden Finger wickelte. Aus der Verkaufshalle hörte er die Missklänge ihrer Verfolger, ihre schnellen Schritte und chaotisches Poltern. Carsten schauderte beim Gedanken daran, wie sie sich gerade über Ulrikes Körper hermachten. Er musste einen Weg aus diesem Raum finden, bevor sie einen Weg hinein fänden.

Er entdeckte ein Dachfenster nahe der Außenwand, direkt über einem hohen Stapel aus Kisten und Kartons.

»Da oben gehen wir durch.«

Miriam nickte.

»Komm.« Er fasste sie mit beiden Händen, der unverletzten und der verbundenen, unter den Achseln. Er hob sie hoch über seinen Kopf und setzte sie oben auf die Kartons. Miriam stand auf und kletterte auf den Gipfel des Stapels. Sie streckte ihre Arme so hoch sie konnte, doch sie war zu klein, um das Fenster zu erreichen.

Mit lautem Getöse wurde das Regal vor der Tür geschüttelt. Sie wussten, wo sie sich versteckt hatten. Oder witterten es. Miriam kreischte plötzlich auf, Carsten fuhr herum. Das Mädchen zeigte entsetzt auf die Frau im Sommerkleid; sie hatte die Augen geöffnet und streckte ihren abgemagerten Arm nach vorne. Die Hand vollführte ungezielte Greifbewegungen. Ihre Zunge fuhr wild im Mund herum. Carsten schnürte sich die Kehle zu. Wieder rasselte das Regal auf der anderen Seite der Tür. Keine Zeit zu verlieren. Raus und weg über das Dach.

Carsten kletterte auf den Stapel aus Kartons und streckte sich, oben angekommen, nach dem Bügel, mit dem das Dachfenster gesichert war. Er entriegelte die Mechanik und stieß das Fenster auf; der Weg aufs Dach war frei, doch außer Reichweite. Am Boden bewegte sich jetzt auch der Mann mit dem eingerissenen Skalp, umständlich mühte er sich auf die Beine.

»Schnell!«

Carsten ging in die Knie, griff Miriam um die Schenkel und stemmte sie hoch. Zusammen waren sie groß genug. Miriam bekam die Kante des Oberlichts zu fassen, Carsten griff unter ihre Schuhe und schob sie von unten an. Das Mädchen kletterte aufs Dach. Sie war sicher. Für den Moment.

Die Frau im Sommerkleid hatte sich auch erhoben und bewegte sich jetzt mit unsicheren Schritten auf den Kartonstapel zu. Der Mann mit dem eingerissenen Skalp kam schneller voran. Mit grobschlächtigen Bewegungen bemühte er sich, Carsten zu folgen und die Kartons zu erklimmen.

Gedanken rasten schneller durch Carstens Kopf, als er sie begreifen konnte. Er überlegte zu schießen, doch er hatte auf den Kartons keinen sicheren Stand, er war ein lausiger Schütze, konnte die rechte Hand nicht gebrauchen und zitterte vor Angst. Er dachte daran, den Rucksack abzuwerfen, doch die Munition und seine wenigen Habseligkeiten, das Handy mit Nathalies Nachricht, das kleine schwarze Tagebuch und sogar das Klassenbuch schienen ihm plötzlich so wertvoll, dass er sie nicht zurücklassen wollte.

Er löste einen Karton aus der Palette unter sich und stellte ihn als Trittstufe vor sich hin. Er stieg auf die Pappe, doch sie gab unter ihm nach. Er ging in die Knie und legte alle Kraft in einen Sprung, riss die Arme hoch, um das Dachfenster zu erreichen.

Es gelang ihm. Mit dem Brustkorb schlug er gegen den Rahmen, die Unterarme und Ellenbogen brachte er auf das Dach und klammerte sich mit der linken Hand und der wunden rechten Faust fest. Seine Beine baumelten unter ihm im Lagerraum. Er spürte Miriams kleine Hände, die ihm gar nicht helfen konnten. Mit aller Kraft versuchte er, sich hochzustemmen, sein Gewicht und das des Rucksacks zogen ihn abwärts, er hasste sich dafür, dass er nicht stärker war und den kiloschweren Rucksack nicht abgeworfen hatte.

Miriam kreischte seinen Namen. Finger krallten sich in seine Waden und ein furchtbares Gewicht riss ihn in die Tiefe. Carsten stürzte rücklings auf seinen Rucksack und begrub den Mann mit dem eingerissenen Skalp unter sich. Wie eine Schildkröte lag er mit dem schweren Rucksack auf seinem Angreifer. Der Mann griff mit zu Klauen geformten Händen um den Rucksack herum und riss hart an Carstens Schulter. Vor sich sah Carsten den abgemagerten Mann im gelben Regenmantel, auch er war auf die Beine gekommen und näherte sich mit unsicheren Schritten wie ein ungeübter Stelzenläufer. Carsten suchte mit der linken Hand nach der Pistole an seinem Gürtel und zog sie aus dem Holster. Der Mann unter dem Rucksack bekam Carstens rechten Arm zu packen und riss ihn mit überlegener Kraft nach hinten. Carsten heulte vor Schmerz auf, als der Mann seine Zähne in Carstens Oberarm schlug. Carsten schrie, die Welt explodierte.

Ohne nachzudenken, warf er sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorn, kam irgendwie auf die Füße, doch das Gewicht des Rucksacks schleuderte ihn gleich vornüber auf den Boden. Im Sturz verlor er die Pistole, sie schlitterte vor ihm über die Fliesen, und die Brille fiel ihm aus dem Gesicht. Keuchend rollte er sich auf den Rücken, schlüpfte endlich aus den Schulterriemen und zog gerade noch die Axt aus seinem Gürtel, als der Mann mit dem eingerissenen Skalp schon wieder über ihm war. Es blieb keine Zeit, die Axt umzudrehen, Carsten stieß dem Angreifer den stumpfen Axtstiel in die Zähne. Er taumelte zurück. Carsten versuchte, auf die Füße zu kommen, schaffte es aber nur auf die Knie, als er von hinten gepackt wurde und sich harte, kalte Zähne in seine Schulter gruben. Carsten heulte auf und griff mit dem verletzten Arm nach hinten, krallte sich in die Kleidung des unsichtbaren Angreifers und drückte ihn von sich. Er warf sich herum, kam in der gleichen Bewegung auf die Füße und zerriss dabei das Sommerkleid, in das er seine Hand gekrallt hatte. Das Fleisch der abgemagerten Frau sah aus, als wäre es zu straff über ihr Skelett gespannt. Carstens Blut lief ihr vom Kinn. Er holte mit dem linken Arm aus und schmetterte ihr ungelenk die Breitseite des Axtblatts gegen den Kopf. Die Wucht seines Hiebes schleuderte die ausgemergelte Frau zu Boden.

Vor Carsten stieg der Mann im Regenmantel mit einem unsicheren Schritt über den Körper der Frau, von hinten ergriffen große Hände Carstens Schultern und drückten ihn erneut zu Boden. Hart stürzte er mit dem Gesicht auf die Bodenfliesen. Mit ungezielten Bewegungen schlug er mit der Axt hinter sich über seinen Rücken und traf irgendetwas. Vor sich sah er die Füße des Mannes im Regenmantel näher kommen, und auch die abgemagerte Frau kam wieder auf die Beine, das Kleid hing ihr in Fetzen vom Körper. Hinter ihren Füßen sah Carsten die Pistole auf dem Boden liegen, einen Meter außerhalb seiner Reichweite.

Mit großer Kraft wurde Carsten von hinten zu Boden gedrückt. Er verlor die Axt, und der Schmerz ließ ihn keuchen, als der Mann auf seinem Rücken ihm in den Nacken biss.

Dann hörte er Miriams hohe Kinderstimme: »Hier, hier, hier bin ich, kommt her! Kommt her!« Miriam hörte nicht auf zu rufen. Die Ablenkung wirkte: Der Mann auf Carstens Rücken befreite die Kiefer aus seinem Fleisch und erlöste ihn von seinem Gewicht. Der Mann im Regenmantel drehte sich und streckte die Arme hoch, dem unerreichbaren Fenster entgegen, auch die Frau im zerrissenen Kleid drehte sich von Carsten weg.

Carsten sah selbst zu Miriam auf, sie hatte die Sprossen einer Stahlleiter wie ein Gitter über das Fenster gelegt und klatschte in die kleinen Hände, um noch mehr Lärm zu machen. Der Mann im Regenmantel stand jetzt unter dem Fenster, Miriam rief: »Herr Lemmner!«, kippte die Leiter und ließ sie in die Fensteröffnung rutschen. Die Leiter traf den Mann und schmetterte ihn zu Boden, ihre Holme blieben auf seiner Brust stehen.

Carsten kroch der Pistole entgegen. Es polterte gegen die Tür; die Angreifer aus dem Verkaufsraum mussten die Tür schließlich vom Regal befreit haben. Die Holzpaletten, mit denen er die Tür von innen blockiert hatte, sprangen unter ihren heftigen Stößen gegen die Türflügel. Der Mann mit dem eingerissenen Skalp bemühte sich unterdessen grobschlächtig, die Leiter zu erklimmen und trieb mit seinem Gewicht dem Mann im Regenmantel die Stahlholme in den Brustkorb.

Carsten robbte weiter vorwärts, streckte den linken Arm vor und angelte die Pistole zwischen den Füßen der mageren Frau hindurch, die immer noch zu dem Mädchen hochstierte. Er hob den Arm und feuerte der Frau zwei Kugeln in den Körper, sie kippte zu Boden. Immer noch am Boden zielte Carsten mit der linken Hand auf den großen Mann, der die Leiter hochstieg; zwei Schüsse verfehlten, zwei Kugeln trafen in seine Seite und rissen ihn von der Leiter. Mit einem tiefen Grölen stürzte er auf den Fliesenboden und blieb liegen.

Carsten kämpfte sich auf alle viere, krabbelte zum Rucksack und hakte einen Schulterriemen um seinen linken Unterarm. Er stand auf und schleppte sich die Leiter hoch, Sprosse für Sprosse in Richtung des Oberlichts. Miriam hatte aufgehört zu schreien und blickte ihm stumm mit ihren riesigen Augen entgegen. Er hatte den Aufstieg zur Hälfte geschafft, als die an der Stahltür aufgestapelten Holzpaletten umkippten und den Eingang zum Lagerraum freigaben. Wie gehetzte Raubtiere stürzte die Meute aus der Einkaufshalle in den Lagerraum. Sie machten sich über die frischen Leichen her, bevor sie Carsten überhaupt bemerkt hatten. Carsten schaffte die letzten Sprossen, wuchtete den Rucksack aufs Dach und rollte sich selbst hinterher. Außer Atem kämpfte er sich auf die Knie und kippte die Leiter so, dass sie abrutschte und in den Lagerraum fiel. Dann klappte er das Dachfenster zu, spürte die Mechanik des Schlosses einschnappen. Das Fenster dämpfte das Reißen und Schmatzen aus dem Lagerraum. Carsten kippte erschöpft vor und lag mit dem Bauch über dem Fenster, schnappte nach Luft. Heiße Tränen liefen ihm aus den Augen.