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»Wir sind immun … jeder sucht sich seine Aufgabe …«, die Worte der Tierärztin kreisten durch Carstens Gedanken, während er weiterwanderte. Und sie ärgerten ihn mit jeder Wiederholung mehr. Niemand war immun. Selbst die Tauben und die Ratten lagen tot in den Straßen. Er ärgerte sich über ihre Unbedarftheit, ihre Unvernunft. Naivität gepaart mit dieser überlegenen Haltung, seine Vorsicht so zu belächeln …
Er mochte diese Frau nicht. Die vielleicht letzte gesunde Frau in der Stadt, nach allem, was er wusste, vielleicht die letzte gesunde Frau auf der Welt, und er konnte sie nicht leiden. Was sagte das über ihn?
Was täte er wohl, wenn er nicht nach seinen Schülern suchen würde, erlaubte er sich für einen Moment, den Gedanken der Tierärztin zu folgen. Er kam zu keiner Antwort. Seine Kopfschmerzen wurden wieder stärker. In der nächsten Apotheke auf seinem Weg wollte er nach Schmerzmitteln suchen.
Noch etwas anderes an dem Treffen mit der Tierärztin hatte ihm ein schlechtes Gefühl gegeben. Es kam ihm vor, als hätte er sich durch ihre Augen zum ersten Mal seit Wochen wieder selbst gesehen – und das Bild vor seinem geistigen Auge hatte ihm gar nicht gefallen. Ein stoppelbärtiger Mann mit Wanderrucksack und fettigem, ungewaschenem Haar in abgetragener Kleidung, auf der die merkwürdigen Winkel, die er sich zum Schlafen gesucht hatte, ihre Spuren hinterlassen hatten. Er kam sich vor wie ein Schiffbrüchiger, der nackt und verwildert von einem Kreuzfahrtschiff voller Touristen gefunden wird.
Und das Treffen hatte Erinnerungen angestoßen, die er nicht haben wollte. Erinnerungen an seine letzten Erfahrungen mit Überlebenden.
Sie hatten sich zu zehnt in der Universität verbarrikadiert, in einer wilderen Zeit als jetzt, als die Kranken noch in aggressiven Horden durch die Straßen gejagt waren und die Gesunden in verzweifelter Flucht versucht hatten zu überleben. Sie waren eine zusammengewürfelte Gruppe gewesen, hatten sich irgendwie im Chaos gefunden und waren einer Frau mit einem Schlüssel zum höchsten Gebäude der Uni gefolgt.
Im obersten Stockwerk des höchsten Gebäudes hatten sie sich eingerichtet, alle Eingänge blockiert, den Fahrstuhlschacht und die beiden Treppenhäuser versperrt.
Vom Dach des Gebäudes hatten sie einen weiten Ausblick auf die Umgebung gehabt und wie entrückt aus der Ferne dem Chaos in den Straßen zugesehen. Später hatten sie sogar einen kleinen Generator zum Laufen gebracht, mit dem sie elektrisches Licht, Herdplatten und vor allem ein Radio und einen Fernseher betreiben konnten. Sie hatten ständig die aktuellen Meldungen verfolgt; bis der Fernseher nur noch Schnee zeigte und das Radio nur noch Rauschen von sich gab.
Hoch über der Stadt hatten sie sich einigermaßen sicher gefühlt. Von Zeit zu Zeit waren zwei oder drei von ihnen losgezogen, um Lebensmittel aus der Mensa und den Cafeterien der umliegenden Gebäude zu besorgen.
Die Schwierigkeiten hatten begonnen, als Walter, ein Elektroinstallateur um die fünfzig, der die ganze Elektrik ihrer kleinen Enklave versorgte, vergesslich wurde – und zunehmend aggressiv reagierte, wenn sie ihn darauf ansprachen. Erst hatte es sich nur um Kleinigkeiten gehandelt, die sich dann aber in auffallender Weise häuften. Er wiederholte Dinge, die er gerade erst gesagt hatte. Er verlor den Faden in Unterhaltungen. Und er ärgerte sich bei seinen Elektroarbeiten so sehr, dass er nach einem gescheiterten Reparaturversuch einen ganzen Deckenfluter durch das geschlossene Fenster aus dem zehnten Stock schleuderte. Nur wenige Tage später begann er dann, auch ganz entscheidende Dinge zu vergessen: er versäumte, sich abzumelden, wenn er das Stockwerk verließ, er ließ den gesicherten Zugang zu ihrem Lager offen stehen und verschlief die nächtliche Wache.
»Leckt mich am Arsch mit euern Scheiß-Regeln, ich kann hier eh nichts richtig machen, das hab ich auch schon gemerkt!«, war seine Reaktion, als Tanja, die Frau, die sie hergeführt hatte – die Frau mit dem Schlüssel –, ihn um mehr Sorgfalt gebeten hatte.
So begannen sie, hinter seinem Rücken zu beratschlagen: Natürlich war es normal, ab und zu mal etwas zu vergessen. Und unter den Umständen, unter denen sie zu leben gezwungen waren, war es mehr als normal, dass man die Nerven verlor oder einem mal der Kragen platzte – und gerade Walter, der im Schlaf immer wieder nach »Andrea« schrie, über die er sich weigerte zu sprechen, schien besondere Nachsicht zu verdienen.
Und doch lag ein anderer schrecklicher Verdacht nahe, und den vertrat vor allem Eva, die in einer Nachbarstadt klassischen Gesang studiert hatte und deren oberstes Interesse darin bestand, ihren kleinen Sohn Jannik zu schützen. Sie begann, Stimmung gegen Walter zu machen, suchte nach Verbündeten und bezeichnete ihn immer mehr als ein untragbares Risiko und eine tickende Zeitbombe. Und dann war es ausgerechnet der dreijährige Jannik gewesen, der die Situation endgültig hatte eskalieren lassen.
Rückblickend glaubte Carsten, sich daran zu erinnern, dass der Junge ein paar Tage lang kaum noch gesprochen und die meiste Zeit geschlafen hatte, aber darin hatte niemand ein Anzeichen der Infektion erkannt. So kam es völlig unerwartet, dass er sich nachts im Gesicht seiner Mutter festbiss und mit seinen kleinen Kiefer so festhielt, dass Eva ihn nicht loswerden konnte, ohne sich das eigene Gesicht vom Schädel zu reißen. Sie schrie das ganze Stockwerk zusammen, und bald kamen sie alle aus den Büros, in denen sie geschlafen hatten, und sahen den kleinen Jungen mit blutverschmiertem, von Hass verzerrtem Gesicht in seine Mutter verbissen, und keiner wusste, was zu tun war.
Während sie unentschlossen um Mutter und Sohn herumstanden, war es dann Walter gewesen, der ohne lange zu zögern auf die beiden zustapfte, Jannik mit seinen großen Händen packte, von seiner Mutter losriss und in eine Ecke des Büros schleuderte. Der kleine Junge kam schnell wieder auf die Füße und starrte gierig in die Runde, den herausgerissenen Fetzen aus der Wange seiner Mutter immer noch zwischen die Zähne geklemmt. Eva presste sich die flache Hand auf die Wunde, dunkles Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor und lief ihr die Schulter herunter. Sie weinte und keuchte, schrie Walter drohend an und redete beschwörend auf den kleinen Jannik ein.
Carsten erreichte eine Apotheke. Er war inzwischen bis in den nächsten Vorort gelaufen und froh über einen Anlass, seinen inneren Film zu beenden, bevor er noch schlimmer wurde.
Es war schon jemand vor ihm hier gewesen; die Tür war aufgebrochen, und die langen Schubläden der Apothekerschränke waren herausgezogen. Tablettenschachteln lagen über den Boden verstreut. Carsten prüfte misstrauisch, ob der Raum leer war, hielt dabei die Pistole bereit. Er lauschte und stellte sich vor, wie er seine Ohren spitzte. Er hielt den Atem an, um auch nicht das kleinste Geräusch zu verpassen. Er konnte nichts hören. Vorsichtig näherte er sich dem hinteren Raum. Schritt für Schritt schlich er durch einen schmalen Durchgang. Hier hinten befand sich alles in bester Ordnung – sinnlos gewordene Computer und gut sortierte Aktenordner erweckten den Eindruck, als könnte hier schon morgen wieder jemand arbeiten.
Er ging zurück in den Verkaufsraum. Dank der alphabetischen Ordnung der Präparate fand er schnell etwas gegen die Kopfschmerzen, außerdem Tabletten gegen seinen Heuschnupfen. Er steckte noch ein paar Nahrungsergänzungsmittel ein – Vitamintabletten und ein Zinkpräparat, weil er irgendwo aufgeschnappt hatte, dass Zink gut fürs Immunsystem sein sollte. Er setzte den Rucksack ab, um alles zu verstauen, und zog eine Wasserflasche hervor, schluckte gleich zwei Kopfschmerztabletten.
Bilder vom kleinen Jannik und dem Zimmermannshammer in Walters kräftiger Faust spukten weiter durch seinen Kopf.