25
Am nächsten Morgen klagte Miriam über Bauchschmerzen.
»Die hattest du gestern auch schon«, sagte Carsten und setzte sich neben ihren Schlafsack. »Wie schlimm sind sie denn?«
»Schlimmer als gestern.«
»Wir frühstücken erst mal«, sagte Carsten. »Vielleicht geht’s dir danach schon besser. Okay?«
Es ging ihr nicht besser. Carsten gab ihr Schmerzmittel.
»Ist es richtig schlimm?«, fragte Carsten. Miriam nickte.
»Zu schlimm, um weiterzugehen?«
Das Mädchen nickte nochmals.
»Okay, dann ruhst du dich heute besser aus.« Carsten fragte sich, ob Miriam krank war oder ob sie auf diese Art auf die vielen schrecklichen Bilder reagierte; es war erst zwei Tage her, dass er sie von ihrem Dachboden geholt hatte, und in diesen 48 Stunden hatte er sie schon durch so viel Furchtbares geführt.
Innerlich rang er mit sich, ob er einen ganzen Tag an Zeit aufgeben durfte. »Willst du einfach hier auf mich warten, und ich gehe schon mal Lebensmittel suchen?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ihre Augen wurden feucht.
»Nein?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Bitte lassen Sie mich nicht alleine, Herr Lemmner.«
Carsten nickte. »Ist okay. Ist nicht schlimm. Dann ruhen wir uns heute beide aus. So lange reichen auch unsere Vorräte noch. Und morgen geht’s dir bestimmt schon wieder besser.«
»Hoffentlich«, sagte Miriam leise.
Sie verbrachten den ganzen Tag auf dem Dachboden. Carsten holte ein paar von Miriams Büchern aus dem Rucksack und wollte ihr vorlesen in der Hoffnung, dass etwas Ablenkung ihr guttun würde. Doch Miriam kannte ihre Bücher so gut, dass es damit endete, dass sie ihm die Handlung erzählte. Carsten musste sich anstrengen, um mit den Gedanken bei der Sache zu bleiben und dem Mädchen wirklich zuzuhören. Es schien ihr tatsächlich gutzutun, sich an die Handlung der Bücher zu erinnern. Ihre Erzählung begann zögerlich und leise, wurde jedoch über die Zeit immer lebhafter, und als Carsten sich bemühte, sie mit absurden Zwischenfragen aufzuheitern, lachte sie sogar.
Carsten kam nicht umhin, darüber nachzudenken, ob es dem Mädchen besser gegangen wäre, wenn er sie nicht aus ihrem Versteck geholt hätte.
Am frühen Abend durchsuchte er das Haus nach brauchbaren Vorräten, fand aber nichts außer einer Tafel Schokolade und einer Dose gezuckerter Pfirsiche.
Als Carsten aus dem Schlaf hochschreckte, war es stockdunkel. Das Poltern, das ihn geweckt hatte, wiederholte sich. Etwas bewegte sich im Haus. Dann schepperten die Katzenfutterdosen und Stimmen zischten. Neben ihm funkelten Miriams Augen in der Dunkelheit. Carsten griff nach der Taschenlampe. Bevor er sie einschaltete, hielt er die Finger der linken Hand vor die Lampe, um das Licht zu dämpfen. Die Deckenluke war geschlossen, die Treppe eingefaltet. Er blickte zu Miriam herüber. Sie sah ihn ängstlich an, die Stirn gerunzelt, eine kleine Hand auf den Mund gepresst. Carsten legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dann setzte er seine Brille auf. Und lauschte.
Das Poltern hatte aufgehört. Er hörte Schritte. Er nahm die Pistole und setzte dazu an, zur Bodenklappe zu kriechen – doch schon seine erste Bewegung ließ die Dielen knarzen. Er stoppte in der Bewegung. Die Geräusche unter ihm waren verstummt. Carsten wartete. Bald hörte er Schritte auf der Treppe unter ihnen, sie kamen näher. Carsten schaltete die Taschenlampe ab.
Ein schwacher Lichtschein schimmerte am Rand der Falltür vorbei. Carsten hörte, wie Miriam sich hinter ihm bewegte. Dann Stimmen. Gedämpfte, menschliche Stimmen. Carsten hielt den Atem an und lauschte angestrengt.
»Pass auf«, hörte er eine Frauenstimme sagen. »Die Scheißlampe gibt den Geist auf.«
Überlebende. Was jetzt? Verstecken oder antworten? Auf keinen Fall durfte Carsten sie erschrecken, sie konnten wie er den Finger am Abzug haben. Er schaltete die Lampe wieder ein und hielt die ganze Hand davor. Die Lampe strahlte schwaches, rotes Licht durch sein Gewebe. Miriam war aufgestanden und sah ihn aufgeregt an, beide Hände zu kleinen Fäusten geballt, atmete sie schnell durch den Mund. Die Schritte waren jetzt im Flur, direkt unter der Falltür. Carsten stand auf, die Dielen unter ihm knarrten. Er nahm die Hand von der Lampe. Dann erhob er die Stimme.
»Hier oben ist es sicher«, sagte er auf die Bodenklappe zu. Es war, als könnte er die Überlebenden zusammenzucken hören. »Ich lasse die Leiter runter.« Er steckte die Pistole ein und trat auf die Bodenluke zu. Mit einiger Verzögerung hörte er die Antwort unter sich: »Oh … Okay.«
Miriam kauerte sich hinter dem Dachgepäckträger zusammen.
»Ist schon okay, hab keine Angst«, sagte Carsten. »Ich pass auf dich auf.« Das Mädchen nickte, blieb aber in seinem Versteck.
Carsten drückte die Klappe auf und sah in den Flur hinab. Im schwachen Schein einer glimmenden Taschenlampe standen zwei junge Frauen mit fettigem Haar und blickten unsicher zu ihm hinauf. Die eine Frau stützte die andere, deren linker Arm verbunden in einer Schlinge um ihren Hals lag.
Carsten nickte den beiden zu. Die unverletzte Frau bemühte sich um ein Lächeln.
»Mein Name ist Carsten Lemmner«, stellte er sich vor. »Hier oben ist es sicher. Sie können sich die Leiter runterziehen.«
Die Frau, die die andere stützte, streckte sich und zog an der untersten Treppenstufe. Die Treppe klappte herunter. Die verletzte Frau löste sich aus der stützenden Umarmung und begann, die schmalen Stufen heraufzusteigen. Die andere blieb mit der Taschenlampe in der Hand im Flur stehen, blickte abwechselnd ihrer Begleiterin hinterher und wachsam in alle Richtungen.
Carsten streckte die Arme aus, um der ersten Frau hinaufzuhelfen, doch er schreckte zurück, als er Blut an ihrem Verband entdeckte. Er machte einen Schritt zurück und ließ sie ohne seine Hilfe hinaufsteigen. Carsten schätzte sie auf etwas älter als zwanzig. Sie trug eine schmutzige, blassblaue Jeans und einen grauen Kapuzenpullover; ihr kastanienbraunes Haar war zu einem dicken Zopf nach hinten gebunden. Ein paar Strähnen fettigen Haars hatten sich gelöst und hingen in ihr blasses, fein gezeichnetes Gesicht. Sie schaute sich auf dem Dachboden um, während die andere Frau ihr folgte, doch außerhalb des Lichtkegels von Carstens Taschenlampe war in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen.
Die Frau, die als zweite den Dachboden erreichte, stellte sich zuerst vor. Sie war älter als ihre Begleiterin und wirkte weniger zerbrechlich. »Mein Name ist Ulrike Becker.« Sie streckte Carsten die Hand entgegen. Er bemühte sich um ein freundliches Lächeln, ohne ihre Hand zu ergreifen. Sie ließ den Arm wieder sinken. »Das ist meine Schwester Agnes«, stellte sie die verletzte Frau vor und stützte sie sofort wieder.
»Hallo«, grüßte Agnes und zeigte ein geschwächtes Lächeln. Carsten nickte und sah auf den Arm in der Schlinge.
»Keine Angst«, sagte Ulrike. »Keine Bisswunde. Sie hat sich nur an einem Zaun verletzt beim Drüberklettern.«
Carsten nickte noch einmal. »Haben Sie unten den Schrank wieder vor die Haustür geschoben?«
Ulrike nickte. Carsten kniete sich auf die Dielen, um die Treppe wieder einzuholen und schloss die Bodenklappe. Ulrike half ihrer verletzten Schwester, sich auf einen der beiden Kinderschlitten zu setzen. Die beiden Taschenlampen konnten nur einen kleinen Teil des großen Raums erhellen. Ulrike setzte sich neben ihre Schwester auf den Boden.
»Haben Sie vielleicht was zu trinken?«, fragte Agnes und warf mit einer Kopfbewegung eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Stimme klang fester, als Carsten erwartet hatte.
Carsten dachte kurz darüber nach, wie begrenzt ihre Vorräte waren, und als er diesen Gedanken bemerkte, verurteilte er sich dafür. Er dachte an Herrn Kröpp: Hilfsbereitschaft war jetzt vielleicht wichtiger als je zuvor. Er nickte und ging zu seinem Rucksack.
»Hey«, sagte Agnes plötzlich sanft, »wer bist du denn?«
Sie hatte Miriam entdeckt. Carsten sah das Mädchen stumm hinter dem Dachgepäckträger kauern. Sie schaute die beiden Frauen mit ihren großen Augen an.
»Ist schon okay, komm ruhig raus«, sagte Ulrike zu dem Mädchen. Miriam reagierte nicht.
»Ihr Name ist Miriam. Sie spricht nicht viel«, erklärte Carsten und öffnete seinen Rucksack.
»Ist die Kleine Ihre Tochter?«, fragte Ulrike.
»Nein«, antwortete Carsten. Er sah, dass die Frauen auf eine ausführlichere Antwort warteten, doch er beließ es dabei.
»Seid ihr hungrig?«, fragte er die Frauen.
»Ja, sehr«, antwortete Ulrike. »Aber bitte geben Sie uns nur, was Sie selbst nicht brauchen.«
Carsten holte eine Wasserflasche, eine Tüte Salzstangen, eine Packung Schwarzbrot und eine Dose Frühstücksfleisch aus seinem Rucksack, außerdem den Beutel mit Teelichtern. Die Bodendielen knarrten, als er zu den Frauen herüberging.
»Hier, bitte schön«, sagte er und stellte die Lebensmittel vor ihnen auf den Boden. Die Wasserflasche gab er Agnes in die Hand. Dann verteilte er eine Hand voll Teelichter auf dem Boden und zündete sie an. »Batterien sparen«, sagte er und schaltete seine Taschenlampe aus.
»Gute Idee«, antwortete Ulrike und stellte ihre schwach glimmende Lampe ebenfalls ab.
»Ich hab auch noch Batterien in meinem Rucksack, ich kann euch welche für eure Lampe geben. Müssten passen.«
»Das wär super«, nickte Ulrike.
Agnes öffnete die Wasserflasche und gab sie an ihre ältere Schwester weiter, ohne selbst zu trinken. Carsten beobachtete einen schnellen Seitenblick der älteren Schwester, bevor sie die Flasche nahm.
Er setzte sich wieder auf seine Wolldecke und streckte die Beine vor sich aus. Er sah auf die Uhr; es war kurz nach drei. Ulrike hatte ein gutes Drittel aus der Flasche getrunken und gab sie dann an ihre verletzte Schwester weiter. Dann öffnete sie das Paket Salzstangen und begann zu essen. »Wohnen Sie hier?«, fragte sie zwischen den Bissen.
Carsten war überrascht, dann wurde ihm klar, dass diese Überlegung gar nicht so abwegig war. Er schüttelte den Kopf.
»Wir sind seit gestern hier. Wir wollten eigentlich nur für eine Nacht bleiben. Es schien sicher genug, um hier zu übernachten. Ich bin mit dem Rucksack unterwegs.« Er deutete auf sein Gepäck.
»Und wohin?«, fragte Agnes und bediente sich ebenfalls an den Lebensmitteln.
»Das … ist noch nicht ganz klar. Im Moment suche ich noch jemanden hier in der Stadt. Und ihr?«
»Wir waren nicht weit von hier in einem Bunker unter dem Schulzentrum«, antwortete Ulrike.
»Da gibt’s einen Bunker?«, fragte Carsten.
»Wir waren drin«, nickte Agnes. »Sechs Wochen.«
»Und dann?«
»Ist uns das Trinkwasser ausgegangen«, antwortete wieder die ältere Schwester. »Wir mussten raus und neues finden. Und seitdem … ist irgendwie alles schiefgegangen.«
»Wart ihr alleine unterwegs?«
»Nein«, antwortete Ulrike, und die Antwort schien ihr die Kehle zuzuschnüren. Sie ließ die Hand mit den Salzstangen sinken. Agnes legte ihr die Hand auf das Haar.
Carsten spürte eine vorsichtige Berührung am Arm und sah Miriam neben sich. Er lächelte sie an. Sie kniete sich neben ihn auf die Decke.
»Hier in der Nähe ist ein Supermarkt«, sagte Agnes bald darauf. »Da gehen wir morgen hin, vielleicht gibt’s da noch was zu trinken. Wir wollten nicht rein, solange es dunkel ist.«
»Klingt vernünftig«, meinte Carsten. »Und dann zurück in den Bunker?«
Agnes schüttelte den Kopf. »Wir gehen nicht zurück.«
»Warum nicht?«
Ulrike hob den Kopf und antwortete. »Es hat sich herausgestellt, dass nicht alle im Bunker gesund sind. Wir gehen nicht zurück.«
»Habt ihr schon einen anderen Plan?«
Die Schwestern antworteten nicht. Agnes kaute langsam auf ihren Salzstangen. Dann fragte sie: »Haben Sie einen?«
Carsten antwortete ebenfalls nicht.
»Woher haben Sie die?«, fragte Agnes und zeigte auf die Pistole im Holster an Carstens Gürtel.
Carsten überlegte kurz. »Von einem Polizisten.« Das war nicht ausführlich, aber auch nicht gelogen.
»Haben Sie so eine für uns übrig?«
»Nein. Habt ihr nichts, um euch zu verteidigen?«
»Wir hatten so einen Elektro-Schocker«, antwortete Agnes, »so ein Selbstverteidigungs-Teil. Ist aber verloren gegangen.«
»Ich fürchte, man braucht Waffen, so wie es draußen aussieht. Man kann sich nicht immer verstecken oder wegrennen. Ohne werdet ihr nicht weit kommen. Ihr solltet euch zumindest so was besorgen, aus dem Baumarkt oder so.« Er zeigte auf die langstielige Axt neben seiner Decke.
»Hier gibt’s bestimmt ein paar Messer in der Küche«, nahm Agnes an.
»Wenn man ein Messer braucht, sind sie schon zu dicht dran«, gab Carsten zu bedenken. Agnes nickte.
»Tut mir leid, mir fallen schon dauernd die Augen zu«, mischte sich Ulrike wieder ein. »Ich glaube, ich muss ganz dringend schlafen. Wir sind schon verdammt lange auf den Beinen.«
Carsten nickte. »Kein Problem, wir sollten alle noch ein bisschen schlafen.«
»Ich sehe mal in den Kartons nach, ob’s was zum Zudecken gibt«, sagte Ulrike.
Miriam trug ihren Schlafsack näher zu Carstens Decke und krabbelte hinein. Carsten löschte alle Teelichter bis auf eins, nahm die Brille ab und wickelte sich dann wieder in seine Decke. Die Pistole wollte er diesmal nicht offen liegen lassen. Er versteckte sie griffbereit unter dem Rucksack. Die beiden Schwestern bereiteten sich Lager aus dicken Winterjacken und deckten sich mit Pullovern zu.
Das Knarren der Bodendielen weckte Carsten auf. Er blickte sich um und sah Agnes vorsichtig zur Bodenklappe schleichen. Neben Carsten brannte noch das Teelicht, durch die Fenster fiel das weiche Licht der Morgendämmerung.
Carsten setzte sich auf, griff nach seiner Brille. Agnes hielt in ihrer Bewegung inne und wandte sich zu ihm um. Sie sah ihn an und legte den Finger auf die Lippen. Carsten runzelte die Stirn. Ulrike und Miriam schienen fest zu schlafen. Carsten stand vorsichtig auf und schlich zu Agnes herüber. Sie hockte sich über die Luke und strengte sich sichtlich an, sie möglichst lautlos zu öffnen.
»Was haben Sie vor?«, flüsterte Carsten ihr zu, als er sie erreicht hatte.
»Ich gehe«, war die Antwort der jungen Frau.
»Was?«, fragte Carsten verständnislos.
Agnes gab ihm durch eine Geste erneut zu verstehen, dass er schweigen sollte. Vorsichtig öffnete sie die Klappe und ließ die Treppe herunter, die sich mit einem leisen Knarren auffaltete. Carsten stand unschlüssig neben der Frau und wusste nicht, ob er sie aufhalten sollte oder nicht.
Agnes trat durch die Luke auf die erste Treppenstufe, dann sah sie noch einmal zu ihrer Schwester zurück. Sie drückte Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand an die Lippen und warf ihrer schlafenden Schwester einen Kuss herüber. Dann stieg sie die Treppenstufen hinab in den Flur.
Carsten ging ihr nach. »Was haben Sie vor? Wo wollen Sie hin?«, fragte er flüsternd, als er neben ihr im Flur stand.
»Weg von Uli. Und weg von euch.«
»Wieso?«
Agnes atmete aus.
»Sie hat euch belogen«, antwortete sie und zeigte auf den Verband an ihrem Unterarm. »Das war kein Zaun.« Ihre Stimme klang belegt. »Das waren Zähne.« Sie schluckte. »Ich bin gebissen worden.«
Carsten wusste nicht, was er sagen sollte. »Deshalb haben Sie Ihre Schwester zuerst aus der Flasche trinken lassen«, sagte er schließlich.
»Das ist Ihnen aufgefallen?«, fragte Agnes überrascht. Carsten nickte.
»Uli wollte mich nicht gehen lassen. Sie hat schon immer versucht, mich zu beschützen. Aber ab jetzt muss ich sie schützen. Vor mir.«
»Und deshalb wollen Sie sich in der Nacht davonschleichen?«
»Sie würde mich nicht gehen lassen. Und wenn sie bei euch ist, ist sie wenigstens nicht allein.«
»Sie werden nicht lange überleben da draußen, alleine und ohne Waffe.«
»Ich werde sowieso nicht lange überleben, das wissen wir beide. Ich werde den Verstand verlieren. Und dann werde ich gefährlich. Dann gehöre ich zu denen, werde einer von ihnen.« Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte langsam den Kopf. »Das will ich nicht. Und ich will nicht enden wie mein Vater.«
»Wie ist er geendet?«
Agnes zögerte. »Übel.«
Carsten sah sie lange an. In seinem Kopf rasten die Gedanken. »Sie scheinen sich das gut überlegt zu haben«, sagte er schließlich.
Agnes nickte. »Wenn Sie mir helfen wollen, dann geben Sie mir Ihre Pistole.«
»Das kann ich nicht machen.«
»Na dann«, sagte Agnes in einem Tonfall, als hätte sie Carsten gerade etwas bewiesen. »Grüßen Sie meine Schwester von mir.«
Carsten nickte. »Alles Gute«, wünschte er der jungen Frau.
Sie nickte. »Ihnen auch. Passen Sie gut auf das Mädchen auf.«
Carsten nickte. Agnes wandte sich zur Treppe und stieg langsam und vorsichtig die Stufen ins Erdgeschoss hinunter.
Carsten blieb im Flur stehen und lauschte. Er glaubte an den Geräuschen zu erkennen, dass Agnes in die Küche ging, sich ein Messer aussuchte und anschließend über den Schuhschrank kletterte, mit dem er die Tür blockiert hatte. Er stellte sich vor, wie sie im weichen Licht der Morgendämmerung verschwand.
Carsten stieg die Leiter wieder hinauf und schloss die Luke mit unvermeidlichen Geräuschen hinter sich. Ulrike atmete vernehmlich im tiefen Schlaf, Miriam saß, die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen, in ihrem Schlafsack. Sie blickte Carsten stumm entgegen. Er legte den Finger auf den Mund und bemühte sich, sie anzulächeln. Er schlich zu seiner Wolldecke, streichelte dem Mädchen kurz über den Kopf und legte sich dann wieder hin, wickelte die Decke um seinen Körper. Es dauerte lange, bis er wieder einschlief.
Bald nachdem er eingeschlafen war, mischte sich Ulrikes Stimme in seinen Traum. Sie wiederholte den Namen ihrer Schwester wieder und wieder, immer lauter. Als Carsten davon aufwachte, sah er noch schlaftrunken, wie Ulrike die Bodenklappe aufstieß und den Namen ihrer Schwester ins Haus brüllte.
»Ruhe!«, herrschte er sie an und setzte sich auf. Schnell sah er sich nach Miriam um und entdeckte sie wieder zusammengekauert hinter dem Dachgepäckträger. Ulrike rief noch einmal in die Leere des Hauses unter ihnen.
Carsten stand auf, ging zu ihr herüber und fasste sie an die Schulter. »Hören Sie auf! Seien Sie ruhig. Das ist gefährlich, Lärm lockt sie an«, sagte er fest.
Ulrike drehte sich zu ihm um und starrte ihn bestürzt an. »Meine Schwester ist weg, ich bin eben aufgewacht und sie ist weg!«
Sie zeigte auf Agnes’ zerwühlte Schlafstätte. Carsten rieb sich die Stirn mit der Handfläche und suchte nach Worten. »Beruhigen Sie sich erst mal. Und dann machen wir die Klappe wieder zu.« Er bückte sich nach der Falltür.
»Aber wenn Agnes da runter ist – wo soll sie denn sonst sein?«
Carsten zog die Klappe hoch. Er stellte sich vor Ulrike und zögerte, bevor er ihr in die Augen sah. »Sie ist weggegangen.«
»Was?!«
»Agnes ist weggegangen. Sie ist gegangen, als Sie geschlafen haben.«
Ulrike starrte ihn wortlos an. Ihre Augen funkelten.
»Sie hat mir gesagt, dass sie gebissen wurde«, erklärte er schließlich. Ulrikes Kiefer begannen zu mahlen. Sie schlug die Augen nieder. »Sie wollte uns schützen«, erklärte Carsten. »Uns und Sie.«
Ulrike begann, langsam mit dem Kopf zu schütteln. »Sie hätten sie nicht gehen lassen dürfen«, presste sie leise hervor. Dann sah sie ihm wieder in die Augen, und Wut stand in ihrem Blick. »Sie hätten sie nicht gehen lassen dürfen!«, schrie sie ihn an und stieß ihm mit beiden Handflächen gegen die Brust, dass Carsten einen Schritt rückwärts taumelte. Sie stapfte wutentbrannt zu ihrem Schlaflager.
»Wieso sollte ich darüber entscheiden, was Ihre Schwester tut?«
»Sie hätten mich zumindest wecken müssen. Sie hätten sie nicht einfach gehen lassen dürfen.«
»Sie ist erwachsen und hat eine klare Entscheidung getroffen.«
»Sie weiß nicht, was sie tut!«, schrie Ulrike ihn an.
Carsten bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Ich habe mit ihr gesprochen, und sie war vollkommen vernünftig. Sie hat sich das gut überlegt. Und ehrlich gesagt, ist die Entscheidung auch nicht unvernünftig. Agnes wollte Sie schützen. Vor sich.«
»Sie wird sterben!«, schrie Ulrike, und eine Träne lief ihr über das Gesicht. Sie tat nichts, um sie wegzuwischen.
Carsten schluckte. »Das können wir nicht verhindern«, sagte er ernst.
Ulrike hob ihre Jacke und ihre Taschenlampe auf. »Ich gehe sie suchen«, sagte sie entschlossen. Ihre Lippen bebten, als sie ihn ansah. Eine weitere Träne lief ihr über die Wange, blieb an ihrem Kinn hängen.
»Ich gehe mit Ihnen. Ich werde Ihnen helfen, Sie zu retten. Es tut mir so leid. Ich werde alles tun, was ich kann.« – diese Sätze lagen Carsten so nah, und er war kurz davor, sie auszusprechen. Und sei es nur, um die verzweifelte Frau zu beruhigen. Doch er sagte nichts.
Sie würde sich in größte Lebensgefahr begeben, um jemanden zu retten, der nicht gerettet werden wollte. Der nicht zu retten war. Und wenn er mit ihr ging, würde er sich selbst, und vor allem Miriam, in die gleiche Gefahr bringen. Carsten sagte nichts.
Ulrike blickte ihn noch einmal an. Verzweiflung, Wut und Angst standen ihr ins Gesicht geschrieben. Dann ging sie zur Bodenklappe und stieß sie mit dem Fuß auf. Die Klapptreppe krachte herunter.
Sollte Carsten sie aufhalten? War es seine Verantwortung, ihr klarzumachen, dass sie in ihren sicheren Tod aufbrach? Oder war sie genau wie ihre Schwester eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen treffen durfte?
Ulrike ging die Stufen hinunter in den Flur des ersten Stocks. Carsten sagte nichts. Er zog die Bodenklappe hoch.
Miriam weinte stumm hinter dem Dachgepäckträger. Carsten hockte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. »Ist schon gut«, sagte er und überlegte, was dieser Satz gerade bedeuten sollte. Trotzdem wiederholte er ihn.
Sie hörten Ulrike lautstark das Haus verlassen, um draußen auf der Straße gleich den Namen ihrer Schwester zu rufen. Auf diese Weise würde sie nicht weit kommen.
»Wie sind deine Bauchschmerzen?«, fragte er das Mädchen.
»Bisschen besser.«
»Gut genug, dass wir weitergehen können?«
Das Mädchen nickte.
»Okay, dann lass uns packen. Wir sollten hier weg. Nach dem ganzen Lärm ist es hier nicht mehr sicher. Frühstücken müssen wir woanders.« Er bemühte sich, das Mädchen anzulächeln; und sah, dass sie sich anstrengte zurückzulächeln.
Carsten rollte seine Wolldecke auf und sammelte die Lebensmittel ein, die noch zu gebrauchen waren. Die Flasche, aus der Agnes getrunken hatte, ließ er stehen. Dann zog er das Handy aus dem Rucksack und schaltete es ein. Miriam rollte ihren Schlafsack zusammen. Carsten las Nathalies SMS. Das Handy fand kein Netz. Carsten schaltete es ab.
»Heute suchen wir Jakob.«
»Jakob? Schäfer?«, fragte Miriam. »Aus der Klasse?«
Carsten nickte. »Er ist der Letzte auf meiner Liste.«
»Der Letzte? Und wo sind die anderen?«
Carsten antwortete nicht auf die Frage, weil ihm keine Antwort einfiel. »Bevor wir Jakob suchen, gehen wir in den Supermarkt, von dem die beiden erzählt haben. Wir brauchen mehr zu essen. Danach frühstücken wir, okay?«
Miriam nickte.
Er schulterte den Rucksack.
»Fertig?«, fragte er das Mädchen.
»Fertig.«