20
Irgendwann löste sich ihre Umarmung wie von allein. Carsten sah in Miriams rotgeweinte Augen und ihm fiel nichts Besseres ein als zu fragen: »Geht es dir gut?«
Sie schüttelte den Kopf. Carsten setzte sich auf den Fußboden und streckte die Beine aus, die nach dem langen Hocken schmerzten. Eine dämliche Frage. Miriam blieb dicht neben ihm stehen.
Carsten sah aufgestapelte Bücher, ein paar wenige Konservendosen neben den Sprudelkästen. Auf dem Fußboden lagen Spielfiguren, die sich auf ihre brutal zerrissenen und zerbrochenen Gegenstücke stürzten und dabei immer noch ein ungerührtes Lächeln im Gesicht trugen.
»Haben meine Eltern Sie geholt?«, fragte Miriam.
»Seit wann sind deine Eltern weg?«, stellte Carsten eine Gegenfrage.
Miriam schlug die Augen nieder. »Schon lange«, sagte sie. »Sie haben gesagt, sie holen Hilfe.«
»Und dann haben sie dich hier eingeschlossen?«, fragte Carsten. Das Mädchen nickte. »Und seitdem bist du hier alleine?« Miriam nickte erneut. Carsten stand auf und durchschritt langsam den Raum.
»Ist wie eine Burg hier, was? Deine Eltern haben alles hergebracht, was du brauchst.«
»Ich wär lieber mit ihnen mitgegangen«, sagte Miriam leise, und ihr rollten neue stumme Tränen über das Gesicht.
»Sie hätten dich bestimmt auch lieber mitgenommen«, sagte Carsten. »Aber da draußen ist es jetzt sehr gefährlich.« Er zog eine Sprudelflasche aus einem der gestapelten Kästen. Sie war leer. Alle Flaschen in diesem Kasten waren leer. Und alle Flaschen in dem Kasten darunter. »Ist das alles leer?« Carsten zeigte auf die gestapelten Kästen.
Sie nickte.
»Hast du Durst?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Seit wann ist das leer?«
Sie sah ihn nur an.
»Schon länger?«
Sie nickte.
»Was hast du denn getrunken, Miriam?«
Sie sah zu Boden.
»Was hast du denn getrunken?«, wiederholte er.
»Im Bad«, antwortete sie. »Aus dem Kran.«
Carsten fiel. In seinem Inneren fiel er in einen tiefen, kalten Schacht. Wenn das Mädchen seit Tagen das Leitungswasser trank, war sie mit Sicherheit infiziert. Und es war nur eine Frage der Zeit, der unberechenbaren Inkubationszeit, wann die Prionen beginnen würden, ihr Hirn zu zerlöchern.
»Ich weiß, ich sollte nicht«, sagte sie schuldbewusst, die Augen immer noch niedergeschlagen. »Aber ich hatte so Durst.«
Carsten ging wieder zu ihr und hockte sich hin. »Sieh mich mal an«, sagte er und bemühte sich, hoffnungsvoll und beruhigend zu klingen und auszusehen. Es war unsicher, ob ihm das tatsächlich gelang. Sie schaute ihn an, und er lächelte, wahrscheinlich übertrieben, während er noch immer eine Faust in seinem Magen spürte. »Es ist nicht so schlimm«, sagte er, »Was solltest du anderes machen? Du wärst ja sonst verdurstet. Komm, zeig mir alles.«
Er streckte ihr die Hand entgegen, ohne vorher die Handschuhe auszuziehen. Sie führte ihn im Stockwerk herum, zeigte ihm ihren Schlafplatz im bunten Igluzelt (»Aber die Taschenlampe geht nicht mehr«), die aufgestapelten Bücher (»Ich hab sie alle schon durch, aber ich lese sie trotzdem noch mal«), die verbleibenden Konservendosen (»Aber ich habe selten Hunger«), die kleine Küche (»Aber der Kühlschrank geht nicht mehr und der Herd auch nicht«) und das kleine Bad (»Hier wasche ich jeden Tag meine Sachen und lasse sie trocknen«). Carsten drehte vorsichtig den Wasserhahn auf, und tatsächlich floss klares Wasser heraus, wenn auch mit vermindertem Druck. Er trat einen Schritt zurück und streckte den Arm weit vor, um den Hahn wieder abzudrehen.
»Haben Sie meine Eltern gesehen?«, fragte Miriam. Carsten wurde klar, dass er diese Frage unbeantwortet gelassen hatte. Er drehte sich zu Miriam um und ging wieder in die Hocke, um sie anzusehen. »Nein, Miriam. Ich habe deine Eltern nicht gesehen und weiß nicht, ob sie wiederkommen werden.«
»Aber sie haben gesagt, dass ich hier auf sie warten soll.«
»Deine Eltern hatten einen guten Plan, Miriam. Aber er hat nicht funktioniert. Wenn wir Glück haben, treffen wir deine Eltern unterwegs.«
»Gehen wir von hier weg?« Carsten nickte.
»Und dann?«, fragte das Mädchen.
Carsten hatte keine Ahnung. Tagelang hatte er nach den Kindern gesucht, für die er die Verantwortung übernommen hatte. Wieder und wieder hatte er dabei sein Leben riskiert. Und jetzt endlich hatte er ein Mädchen gefunden. Ein Mädchen, das bereits infiziert war. Und er hatte keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. Weiter hatte er nie geplant. Und diese Tatsache erschien ihm gerade äußerst armselig. Vor ihm stand das kleine Mädchen mit den struppigen blonden Locken und wartete auf eine Antwort ihres Lehrers. »Erstmal kriegst du von mir was zu essen und gutes Wasser. Dann packen wir ein paar Sachen für dich ein. Und danach sehen wir weiter.«
»Aber ist es hier noch sicher? Sie haben die Tür eingeschlagen.«
»Stimmt«, antwortete Carsten. »Darum kümmere ich mich als Erstes. Ab jetzt passe ich auf dich auf, Miriam. Ich achte darauf, dass es sicher ist und dass dir nichts passieren kann. Aber dafür musst du mir ein paar Sachen versprechen, in Ordnung?«
»Was denn?«
»Du musst bei mir bleiben und nirgendwo hingehen, wo ich dich nicht sehen kann.« Miriam nickte. »Und du musst tun, was ich dir sage, okay? Sonst ist es zu gefährlich. Und versuch, nichts anzufassen. Auf gar keinen Fall darfst du was anfassen, wo Blut dran ist. Und nichts essen oder trinken, bevor du mich gefragt hast. In Ordnung?« Das Mädchen nickte. »Erklär mir noch mal, was wir jetzt vereinbart haben.«
»Ich esse nichts und trinke nichts, ohne zu fragen. Ich fasse nichts an. Ich tue, was Sie sagen, und ich laufe nicht weg.«
»Genau. Und ich pass auf dich auf.«
Miriam nickte. Und begann wieder zu weinen. Carsten strich ihr die struppigen Locken aus der Stirn und wischte vorsichtig mit dem behandschuhten Daumen die Tränen von ihren Wangen. »Ich geh jetzt runter und sichere die Haustür. Dann essen wir was und dann packen wir, okay?«
Das Mädchen aß wenig, dafür trank es umso mehr. Carsten dagegen aß mit so viel Appetit wie lange nicht mehr und nahm sich vor, seine Ausrüstung bei der nächsten Gelegenheit um einen Campingkocher zu erweitern. Ein Kind braucht warme Mahlzeiten.
Während sie sich stärkten, formulierte Carsten in seinem Kopf seine eigenen Regeln für den Umgang mit dem kleinen Schützling. Vermeide Kontakt mit ihrem Blut und ihrem Speichel. Benutze nicht das gleiche Besteck, trink nicht aus der gleichen Flasche. Iss nichts, was sie mit ihrer Gabel berührt hat. Und beobachte sie ganz genau, damit du jede Veränderung an ihr rechtzeitig bemerkst.
Nach dem Essen begann Miriam, alles aufzutürmen, was sie mitnehmen wollte, und währenddessen zog Carsten das Klassenbuch aus dem Rucksack. Er nahm den roten Stift und zog einen Rahmen um Miriams Namen. Auf der Liste standen zwei weitere Namen, die er noch nicht durchgestrichen hatte. Dominik Preis wohnte noch weiter im Osten der Stadt, Jakob Schäfer südlich von ihrer aktuellen Position.
Nachdem er Miriam gefunden hatte, konnte er seine Suche nicht abbrechen. Das Mädchen selbst war der Beweis dafür, dass seine Mission sich lohnte. Und wenn er sie jetzt aufgab, könnte es zwei kleine Jungen geben, die verbarrikadiert auf einem Dachboden oder in einem Keller versteckt verhungerten, weil er nicht nach ihnen suchte.
»Ich bin fertig mit Aussuchen«, erklärte Miriam.
»Gut.« Carsten sah sich den Gepäckstapel an. »Willst du dir Bücher mitnehmen?«
»Die wichtigsten habe ich.«
»Anziehsachen?«
»Hab ich.«
Carsten half ihr, einen kleinen Rucksack zu packen und steckte den Rest zu seinem Gepäck. »In Ordnung, wir gehen jetzt raus, und sobald wir auf der Treppe sind, gelten unsere Spielregeln. Okay?«
Miriam nickte. »Wo gehen wir denn hin?«
»Dominik retten.«
»Dominik aus der Klasse?«
Carsten nickte.
»Wird das nicht gefährlich?«
»Es ist ein Abenteuer«, sagte Carsten und lächelte.
»Ich mag keine Abenteuer.«
»Ich auch nicht.«