19
Im Fernsehen hatte Carsten einmal einen amerikanischen Soldaten gesehen, der gefragt wurde, wie man die Schrecken des Krieges ertragen könne und wie die Armee ihn darauf vorbereitet habe.
»Da gibt es keinen Trick«, hatte er geantwortet. »Du machst einfach immer weiter. Du siehst all diese Dinge, diese … unvorstellbaren Dinge, und du denkst nicht darüber nach. Du hast einen Job zu tun, und du machst diesen Job. Und wenn du wieder zu Hause bist, dann musst du damit leben. Du hast keine andere Wahl. Irgendwie lebst du einfach damit.«
Carstens Körper war schwer, als er am nächsten Morgen aufwachte. Er lag in seine Wolldecke gewickelt auf einem harten Estrichboden in einem abgeschlossenen Raum, der nur von seiner Taschenlampe erhellt wurde. Er hatte sie wieder die ganze Nacht brennen lassen. Es roch nach Benzin und Reifengummi. Er lag in einer Garage, hinter dem Heck des darin geparkten Autos.
Er hatte noch lange dort im Flur gekauert, bis er wieder zu sich gekommen war. Der Lärm hatte niemanden angelockt. Dann hatte er ein frisches Magazin aus dem Rucksack in die Waffe geladen und sich dem Ziel seiner Wanderung gewidmet: Reginas Zimmer mit den bunten Buchstaben an der Tür. Die Erinnerung an das, was er in diesem Zimmer gesehen hatte, würde er für den Rest seines Lebens von sich fernzuhalten versuchen.
Viel zu spät hatte er das Haus verlassen, um einen Platz zum Übernachten zu suchen; es hatte bereits angefangen zu dämmern, und Schmerz und Erschöpfung hatten ihn müde und unaufmerksam gemacht. Die Garage war kein gutes Versteck. Eine Sackgasse ohne einen zweiten Ausgang. Eine Todesfalle. Er hatte sich damit begnügt und sich darauf verlassen, dass sie nicht mehr in der Lage sein würden, ein Garagentor zu öffnen.
Er war beinahe sofort eingeschlafen, doch in der Nacht mehrfach hochgeschreckt, ohne zu wissen, ob ihn Geräusche oder seine Träume geweckt hatten.
Er setzte sich auf und streckte den Rücken durch. Schaltete die Lampe ab. Durch die Ränder des Garagentors schien das Sonnenlicht herein. Mit der Pistole in der Hand öffnete er das Tor. Das Blech fuhr ratternd nach oben. Geblendet blinzelte er dem neuen Tag entgegen. Es gab keine Anzeichen von Gefahr in dem Hof vor der Garage, keine Anzeichen von Leben.
Carsten holte den Rucksack hinter dem Auto hervor und wuchtete ihn auf die Motorhaube des Wagens. Sein Knöchel schmerzte bei jedem Schritt. Er zog das Handy hervor, schaltete es ein und las Nathalies SMS. Sie war so gelogen wie jeden Tag, und wie jeden Tag wusste er, dass sie gelogen hatte, um ihn zu beruhigen.
Carsten würde nicht noch einmal in Gefahr geraten, weil er keine Munition in der Waffe hatte. Er nahm ein Ersatzmagazin aus dem Rucksack und steckte es in eine Tasche der Kapuzenjacke. Allzu sicher schien es ihm da nicht, er würde es bei der ersten schnellen Bewegung verlieren. Also steckte er es stattdessen in eine der rückwärtigen Taschen seiner Hose, dahin, wo er früher sein Portemonnaie getragen hatte.
Er setzte sich auf die Motorhaube und kramte eine Rolle Gewebeband aus dem Rucksack, schnitt mit dem Taschenmesser ein Stück ab und ersetzte damit das ausgeleierte Klebeband an seinem Brillengestell. Dann zog er vorsichtig den rechten Schuh und seinen Socken aus, um den schmerzenden Knöchel in Augenschein zu nehmen. Das Gelenk war stark geschwollen, die Schwellung hatte sich über Nacht rot und blau verfärbt. Carsten tastete vorsichtig mit zwei Fingern den Knöchel ab, doch er zog die Hand schnell wieder zurück, denn das Einzige, was er durch das Abtasten erreichte, war, den Schmerz zu verstärken. Kühlung wäre sicherlich das Richtige für sein Gelenk, doch in einer Welt ohne Strom war das eine schwierige Aufgabe. Vorsichtig, um nichts zu vergeuden, goss er etwas Mineralwasser über seinen Socken und wickelte ihn um das Gelenk. Das brachte ein wenig Linderung.
Er nahm das Klassenbuch hervor und schaute auf den Computerausdruck mit Namen und Adressen. Er zog eine rote Linie durch Reginas Namen, die zehnte rote Linie. Die nächste Adresse auf der Liste war kaum zwanzig Wegminuten entfernt. Die Adresse von Miriam Klapczyk.
Das Handy konnte kein Netz finden, Carsten schaltete es wieder ab.
Hunger hatte er nicht. Er sah das gierige, blutverschmierte Gesicht des jungen Mannes vor sich; des Mannes, dem er die Axt in den Hals geschlagen hatte. Im Kopf versuchte er, dieses Gesicht zu überführen in das Antlitz, das es einmal gewesen sein mochte. Er sah blondes Haar, einen Dreitagebart und stellte sich ein verschmitztes Lächeln vor. Vielleicht ein Informatiker. Oder ein Architekturstudent. Vielleicht ein angehender Kinderarzt. Oder ein junger Fotograf, dem die Frauenwelt zu Füßen lag.
Carsten wurde übel, und er begann zu würgen, doch er erbrach sich nicht. Er fasste in den Rucksack und fand die Whiskeyflasche, stopfte sie dann aber zurück. Er ließ sich auf die Motorhaube sinken und starrte aus dem Eingang der Garage in den völlig leeren Himmel.
In Miriam Klapczyk sah Carsten einen seiner größten pädagogischen Erfolge. Das kleine Mädchen hatte sich zur Überraschung seiner Eltern schon vor der Einschulung das Lesen beigebracht und seitdem Bücher verschlungen. Miriam war hochintelligent, gleichzeitig aber sehr still und so schüchtern, dass sie im Unterricht nichts sagte und kaum Anschluss bei ihren Mitschülern fand. Carsten hatte lange daran gearbeitet, das kleine Mädchen selbstsicherer zu machen, und dabei auch ihre Eltern eingebunden. Die hatten sich beide ständig in großer Sorge um ihr kleines Mädchen befunden und sich sehr bemüht, alles richtig zu machen.
Der Weg zu ihrem Haus führte Carsten durch einige Nebenstraßen in ein ruhiges Wohnviertel aus Einfamilienhäusern mit kleinen Vorgärten. Ein grauer Dauerregen beherrschte den Tag, Carsten trug seinen Regenponcho.
Quer auf der Einmündung von Miriams Straße stand ein Auto mit eingedrückter Windschutzscheibe. Die Leiche des Fahrers lag auf der Motorhaube, durch die Windschutzscheibe geschleudert oder aus dem Auto gezerrt; in jedem Fall musste das schon einige Zeit her sein. Eine Frauenleiche lehnte neben der offen stehenden Beifahrertür. Beide waren verstümmelt und stark verwest, an vielen Stellen lagen ihre gelben Knochen frei. Der Körper des Fahrers sah aus, als wäre er auf der Motorhaube geschmolzen. Er hatte sich breiig über das Blech verteilt, in der Sonne eingetrocknete Blasen geworfen und war mit den Resten der zerrissenen Kleidung zu einer ekelhaften Masse verbacken, die sich jetzt im Regen wieder auflöste. Carsten legte unbewusst die Hand vor den Mund. Vor seinem inneren Auge spielten sich Szenen ab, die ihm zeigten, was hier passiert sein konnte, wie das Auto zum Stehen gekommen war und wie gierige Arme die beiden aus ihrem Wagen gerissen hatten. Carsten wandte die Augen ab und ließ das Auto schnell hinter sich.
Als er vor dem Haus der Klapczyks stand, sah er sich in alle Richtungen um. Der hohe Giebel schien auf ihn herunterzublicken. Der Vorgarten war von einer hohen Hecke umgeben, die nur durch ein Gartentor durchbrochen war. Ein metallisches Klappern drang durch das Rauschen des Regens an sein Ohr. Carsten zog die Pistole unter dem Regenponcho hervor und ging auf das Gartentor zu. Über das Tor hinweg sah Carsten in den Vorgarten, und er entdeckte sofort einen Hund, nass vom Regen, in einem Haufen aufgetürmter Konservendosen am Fuß der Hauswand. Und der Hund entdeckte ihn. Er fixierte Carstens Blick und baute sich drohend auf dem nassen Rasen auf. Seine Schulterblätter zeichneten sich deutlich unter dem kurzen, braunen Fell ab.
An Hunden soll man vorbeiblicken, erinnerte sich Carsten, den Blick nicht erwidern, um sie nicht zu provozieren. Er lenkte seinen Blick auf die Pfote des Tiers. Der Hund begann zu knurren und machte einen Schritt auf ihn zu. War er infiziert? Oder war er ein Streuner, weil seine Besitzer gestorben waren? Hunde waren von RSD genauso betroffen wie Menschen, und nicht wenige Menschen waren durch unerwartete Bisse ihres treuen vierbeinigen Freundes Opfer der Infektion geworden.
Der Hund machte einen plötzlichen Satz vorwärts, Carsten schoss. Die Wucht des Schusses riss das Tier rückwärts. Blut floss über sein nasses Fell. Ein weiterer Mord.
Carsten sah den Haufen leerer Konservendosen an. Ravioli in Tomatensoße. Kartoffeleintopf mit Würstchen. Erbseneintopf. Mindestens zwei Dutzend leerer Konserven. Er ließ seinen Blick aufwärts über die Fassade wandern, erst zu einem Fenster im ersten Stock, dann entdeckte er noch höher eine Konserve in der Dachrinne des Hauses. Regentropfen trommelten auf die Folie vor seinem Gesicht, als er nach oben schaute. Der Dachboden also. Der sicherste Ort eines Hauses. Carstens Herz begann zu hämmern.
Quer über die Haustür waren vier starke Kanthölzer geschraubt. Ein Akkuschrauber und eine Hand voll langer Holzschrauben lagen noch im Blumenbeet vor dem Haus.
Carsten klopfte zwischen den Kanthölzern gegen die Tür und wartete auf eine Reaktion. Vergeblich. Er hob den Akkuschrauber auf und setzte ihn an einen Schraubenkopf an. Dieses Haus war nicht gegen Menschen gesichert worden, die noch Werkzeug benutzen konnten. Zwei lange Schrauben quälte der Schrauber aus dem Holz, bevor sein Akku aufgab. Carsten ließ das Werkzeug ins Blumenbeet fallen. Er setzte die Axt an und hebelte die restlichen Schrauben aus dem Türrahmen, riss eine Latte nach der anderen herunter. Eine stabile Haustür lag jetzt vor ihm. Von ihr würde er sich nicht aufhalten lassen. Er sah sich noch einmal in alle Richtungen um, dann packte er den Axtstiel fest mit beiden Händen und schlug mit aller Kraft auf die schwere Tür ein, nah beim Schloss. Wieder und wieder, bis sie endlich unter seinen Hieben nachgab. Sein Herz hämmerte jetzt umso mehr, und die Anstrengung brachte ihn außer Atem. Die Regenfolie vor seinem Gesicht war beschlagen. Er sah noch einmal zurück, um sicherzugehen, dass der Lärm niemanden angelockt hatte. Dann betrat er das Haus.
Er setzte den Rucksack ab und zog den Poncho vom Kopf. Es war dunkel im Flur, vor allen Fenstern waren Rollläden heruntergelassen. Die Luft war abgestanden, aber frei vom Gestank verwesender Körper, und Carsten konnte auch keine Fliegen summen hören. Das waren alles gute Zeichen, doch sie mussten nicht mehr bedeuten, als dass die Klapczyks sich bemüht hatten, ihr Eigentum zu schützen, bevor sie geflohen waren, wohin auch immer. Allein die Konservendosen vor dem Haus hielten seine Hoffnung aufrecht, dass in diesem Haus noch jemand lebte. Mit wachsamen Blicken in jede Richtung kramte er im Rucksack, bis er die Taschenlampe gefunden hatte und begann, die Räume abzusuchen, Lampe und Pistole vor sich ausgestreckt.
Wohnzimmer, Küche, Bad, alles war in bester Ordnung, makellos eingerichtet und penibel sauber gehalten. Carsten kam sich vor, als schleiche er durch die Ausstellung eines Möbelhauses. Er stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf, und auch hier fand er niemanden. Ein ordentliches Schlafzimmer und Miriams Kinderzimmer; ein Raum mit wenig Spielzeug und vielen Büchern. Die nächste Treppe musste ins Dachgeschoss führen, und Carstens Aufregung wuchs, als er auf der Treppe eine weitere Sicherung entdeckte: eine große Holzplatte war über die Stufen geschraubt und verwandelte die Treppe in eine abschüssige, glatte Fläche. Eine gute Art, ein Stockwerk zu sichern, dachte Carsten. Er traute sich zu rufen.
»Hallo? Ist jemand da oben?« Er wartete. Dann setzte er einen Fuß auf die Platte und lehnte sich vor. Das Material gab unter seinem Gewicht nach. Es war dünn, vielleicht die Rückwand eines Schranks, mutmaßte Carsten. Als er mehr Gewicht auf sein Bein lehnte, bog sich die Platte durch und brach. Die Idee war gut, doch offenbar war das richtige Material nicht zur Hand gewesen. Er hielt sich am Geländer fest, machte einen großen Schritt und trat ein weiteres Loch in die Platte, um sicheren Stand zu gewinnen. Sein schmerzender Knöchel protestierte.
Mit drei weiteren ausholenden Schritten hatte er die Treppe überwunden und stand auf einem kleinen Treppenabsatz unter der Dachschräge vor einem altmodischen Schrank. Hinter dem schweren Möbelstück konnte Carsten den Rahmen einer Tür sehen, die durch den Schrank versperrt war. Abdrücke auf dem Fußboden verrieten, dass der Schrank vor Kurzem noch links neben der Tür gestanden hatte. Carsten griff von der Seite hinter das Möbelstück und wuchtete es beiseite, bis die Tür frei wurde.
In seinem Kopf entstanden Bilder von dem, was ihn hinter dieser Tür erwarten mochte. Carsten schluckte. Selbst wenn sich hier jemand verbarrikadiert und von Konserven ernährt hatte, konnte er längst der Infektion erlegen sein.
»Hallo? Ist jemand da?«, fragte er und horchte. Er streckte die Hand aus und drückte die Klinke herunter. Wie er erwartet hatte, war die Tür verschlossen. Er klopfte.
»Herr Klapczyk? Frau Klapczyk? Sind Sie da drin? Ich bin der Lehrer Ihrer Tochter, Carsten Lemmner.«
Keine Antwort.
»Miriam?«, fragte er dann. »Bist du da drin?«
Carsten meinte, ein Geräusch aus dem Zimmer zu hören. Er hielt den Atem an.
»Falls Sie da drin sind, gehen Sie bitte von der Tür weg. Ich werde sie jetzt aufbrechen. Miriam, falls du da drin bist, geh bitte weit weg von der Tür, okay?«
Carsten versetzte der Tür einen kräftigen Tritt gleich neben dem Schloss, doch das Türblatt rührte sich nicht, auch nicht beim zweiten Versuch. Carsten nahm die Axt und schlug zu, fünfmal, bis die Tür splitterte und aus dem Schloss brach.
Carsten blickte in einen kurzen Flur, der in einen großen Raum führte. Er ging vorsichtig hinein. Rechts und links vom Flur lagen eine Küche und ein kleines Bad. Nasse Kinderkleidung hing im Bad an der Stange für den Duschvorhang.
»Miriam?«, fragte Carsten erneut. Er betrat den großen Wohnraum, der sich über den Rest des Stockwerks erstreckte. Carsten sah Sprudelkästen aufgestapelt, Spielzeug über den Boden verteilt und ein kleines, buntes Igluzelt, das auf dem Teppichboden aufgestellt war.
Dann entdeckte er sie: Halb versteckt hinter einer grauen Couch sah er die zusammengekauerte Form der kleinen Miriam, die ihn vorsichtig und stumm beobachtete.
Carsten hatte das Gefühl, als würde er tief fallen. Er legte die Axt auf den Boden und ging mit ruhigen, langsamen Schritten auf das Mädchen zu.
»Miriam«, sagte er und streckte die Hände aus. Zwei Schritte entfernt von ihr blieb er stehen. Das Mädchen war so abgemagert, dass sich ihr Kinderschädel unter dem blassen Gesicht abzeichnete. Ihr helles Haar stand in spröden, struppigen Locken vom Kopf ab. In dem ausgezehrten Gesicht waren ihre Augen riesig.
»Herr Lemmner …«, sagte sie schließlich.
Carsten nickte. Er hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Er ging in die Hocke, um mit dem Kind auf Augenhöhe zu kommen.
»Bist du allein hier?«, fragte er das Mädchen.
Sie nickte.
»Wie lange schon?«
»Ganz lange«, sagte sie leise. »Herr Lemmner?«
»Ja?«
»Warum sind Sie hier?«
Und dann sagte Carsten einen Satz, von dem er nie gedacht hatte, dass er ihn jemals aussprechen würde. »Ich bin hier, um dich zu retten.«
Miriam stand auf und lief zu ihm, warf die Arme um seinen Hals und krallte sich mit ihren knochigen Fingern in seine Jacke. Sie vergrub das Gesicht an seiner Brust und nach kurzem Zögern schloss Carsten die Arme um das Mädchen. Er spürte jede Rippe des abgemagerten Kindes, und seine Hände kamen ihm furchtbar groß und grob vor. Sie gab kaum einen Laut von sich, aber Carsten fühlte, dass sie weinte. Er hielt sie fest, und er spürte, wie sich in ihm etwas öffnete. Es war, als löse sich ein straffes Band um seinen Brustkorb, etwas in ihm wurde weit, offen und durchlässig, und er spürte seine eigenen Tränen über sein Gesicht laufen.