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Dickleibige Fliegen hatten sich in der ganzen Stadt verbreitet. Zu Millionen ließen sie sich auf den Körpern der Toten nieder und legten ihre bleichen Eier auf das faulende Fleisch. Carsten hatte gelernt, ihr Summen als Warnung zu verstehen. Hier hörte er sie deutlich. Die Treppe hatte ihn in die ehemalige Gemüseabteilung geführt, und die Fliegen kreisten über verschimmeltem Obst und gärenden Zwiebeln. Als hätte die Katastrophe sich nicht angekündigt, hatte man das Tagesgeschäft bis zur letzten Minute aufrechterhalten. Vielleicht weil niemand gewusst hatte, was man stattdessen hätte tun sollen. Und am letzten Tag hatte man es nicht mehr geschafft, die verderblichen Waren einzulagern. Oder nicht mehr für wichtig gehalten.
Das Untergeschoss war nicht zu überblicken; überall versperrten Regale, Produktständer und Einkaufsbuchten die Sicht. Carsten bemühte sich, seine Ohren zu spitzen – er meinte, dass ihm diese bildliche Vorstellung tatsächlich half, auch kleinste Geräusche zu registrieren. Bis auf die Fliegen hörte er nichts.
Die Getränke befanden sich auf der anderen Seite der Rolltreppen, weit hinter den Regalen mit Nudeln, Reis, Tee und Schokolade. Früher hatte er hier oft eingekauft. Er ging langsam, die Axt fest in beiden Händen. Bemühte sich, die Schuhe geräuschlos auf den Boden aufzusetzen, und drehte den Kopf beständig von der einen Seite zur anderen, um nichts zu übersehen. Sein Herz schlug schneller.
Rechts von ihm öffnete sich eine Einkaufsbucht in die verwüstete Bio-Abteilung. Ein Regal war umgestürzt, Gewürzstreuer lagen über die Bodenfliesen verstreut. Über den Boden führte eine Schleifspur aus eingetrocknetem Blut hinter die Verkaufstheke. Fliegen mit glänzenden, prallen Hinterleibern kreisten hinter der Theke in der Luft, ihre frischgeschlüpften Nachkommen krabbelten überall umher. Carsten brauchte kaum einen Augenblick, um zu entscheiden, dass er nicht nachsehen würde. Er trug schon viel zu viele Erinnerungen an Dinge in sich, die er am liebsten nie gesehen hätte.
Er bemühte sich, mehr durch den Mund als durch die Nase zu atmen.
Er sah ihn, als er in den nächsten Gang bog: Ein Mann von enormer Statur saß auf einem umgestürzten Einkaufswagen. Das Drahtgeflecht hatte unter dem schweren Körper nachgegeben und ihm eine Sitzmulde geformt. Mit nacktem Oberkörper saß er schlaff in sich zusammengesunken, den Rücken an ein Regal gelehnt. Auf seinem breiten Nacken sah der Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar etwas zu klein aus. Seine Augen wirkten müde.
Blut klebte an seinen Lippen und seinem Kinn. In seinem Schoß lag ein menschlicher Arm, brutal aus dem Gelenk gerissen. Der Mann betastete ihn nachdenklich.
Carsten kamen Bilder von Gorillas in den Kopf, wie man sie aus Tierfilmen kennt. Ein nachdenklicher Silberrücken mit einem Bambuszweig im Schoß. Carsten schluckte.
Ganz langsam richtete der Koloss den Blick in Carstens Richtung. Er atmete schwer und langsam, mit jedem weiteren Atemzug etwas tiefer, etwas lauter, das Ausatmen jetzt ein hörbares Schnaufen.
Carsten war in der Bewegung erstarrt, zehn Schritte von ihm entfernt. Schnelle Bewegungen und Geräusche erregten ihre Aufmerksamkeit. Carsten bemühte sich, langsam und geräuschlos einen Schritt rückwärts zu machen.
Der Mann sah Carsten an, mehr tat er nicht. Ein dösender Hund, der die Ohren aufrichtet und überlegt, ob es sich lohnt, dem Geräusch nachzugehen, das ihn geweckt hat. Er entschied sich dafür.
Schwerfällig erhob er sich von dem zerbeulten Einkaufswagen. Carsten schloss beide Fäuste noch fester um den Axtstiel. Sein Herz pochte. Der Riese machte einen hinkenden Schritt auf ihn zu; er trug nur einen Schuh. Carsten wich zurück. Der Mann war zu gefährlich für die Axt. Zu groß, zu kräftig, noch zu koordiniert. Selbst wenn er ihn abwehren könnte – ein Biss reichte für die Infektion. Noch ein Schritt rückwärts, Carsten schob den Axtstiel unter seinen Gürtel. Der Mann kam weiter auf ihn zu, bei jedem Schritt pendelte sein massiger Rumpf seitwärts und der Atem rasselte aus seiner Kehle. Noch ein Schritt, Carsten zog die Pistole aus dem Holster. Der Unterkiefer des Mannes klappte herunter, und er grölte Carsten einen rauen Laut entgegen. Carsten stieß mit dem Rücken an ein Regal.
Er streckte die Pistole mit beiden Händen vor, spannte die Muskeln seiner Arme und Schultern und versuchte, die Waffe ruhig zu halten. Fünf Schritte war der Mann noch entfernt. Carsten sah den Lauf entlang, über Visier und Korn hinweg. Sein Atem ging zu schnell, und seine Arme zitterten. Er bemühte sich, genau die Stelle auf der Brust des Mannes zu fixieren, die er treffen wollte. Er sah seine Opfer nie an, bevor er schoss, sah nie ins Gesicht. Er fixierte genau sein Ziel. Er tötete Körperteile, nicht Menschen. Jetzt tötete er Brust.
Carsten zog den Abzug durch, der Schuss löste sich mit einem viel zu lauten Knall. Er traf sein Ziel. Der massige Mann taumelte schwerfällig drei Schritte rückwärts, stieß einen groben Laut aus. Dann lehnte er seinen breiten Oberkörper vor und setzte zu einem weiteren Schritt in Carstens Richtung an, bevor er doch auf die Knie stürzte, kurz kniend verharrte und dann vornüber kippte. Ungebremst klatschte er mit dem Gesicht auf den Fliesenboden.
Carsten atmete aus.
Jetzt musste es schnell gehen – ein Schuss konnte Dutzende von ihnen anlocken. Er setzte einen Fuß an der kolossalen Leiche vorbei und ließ den Rucksack von der Schulter gleiten, um Getränke einzupacken. Schnelle Schritte im Erdgeschoss über ihm. Sie hatten ihn gehört. Sie kamen.
Carsten ließ den Rucksack stehen und stellte sich hinter ein Regal gegenüber der Rolltreppe – gerade rechtzeitig, denn jetzt hörte er sie schon die Stufen herunterpoltern; dann ein Geräusch, als ob jemand stürzte und die restlichen Stufen herunterfiel. Stille. Carstens Herz hämmerte. Er atmete zu laut. Er versuchte, seinen Atem zu beruhigen; es gelang ihm nicht. Die Schritte setzten nicht wieder ein. Stattdessen drang ein schabendes, kratzendes Geräusch von der Rolltreppe herüber. Carsten traf eine Entscheidung. Er sog noch zweimal tief die Luft ein. Dann streckte er die Waffe vor und trat aus seiner Deckung.
Eine hagere junge Frau stand auf der letzten Stufe der Rolltreppe. Sie trug einen schmutzigen weißen BH und einen schwarzen Rock; eine Schulter war von einem großen Bluterguss dunkel verfärbt. Blut war in ihrem Gesicht und über ihren Bauch verschmiert. Ihr Atem ging schnell und flach. Sie blickte wie fasziniert auf einen jungen Mann herunter, der bäuchlings vor ihr über den Fliesenboden kroch. Das eine Bein zog er wie leblosen Ballast in einem unmöglichen Winkel hinter sich her; der gebrochene Oberschenkelknochen hatte sich durch seine Jeans gebohrt und kratzte über die Fliesen. Das war das schabende Geräusch, das Carsten gehört hatte. Die blutgetränkte Hose hinterließ eine schmierige Spur auf den Fliesen. Carstens Gesicht verzog sich unwillkürlich.
Langsam, langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, richtete Carsten die Pistole mit beiden Händen aufs Ziel aus. Er blickte über den Lauf der zitternden Waffe auf den schmutzigen BH. Eine Schweißperle löste sich aus seinem Haar und rann seine Schläfe herunter. Er schluckte. Zog den Abzug. Der Kopf der jungen Frau wirbelte zu ihm herum, ihre aufgerissenen Augen fixierten seinen Blick. Er hatte sie verfehlt. Sie stürzte auf ihn zu, das Gesicht in wilder Gier verzerrt rannte sie über den Rücken des Mannes am Boden. Carsten feuerte zweimal, dreimal, ohne gründlich zu zielen, und brachte mit dem vierten Schuss die Angreiferin zu Fall. Mit einem Wimmern ging sie zu Boden, infiziertes Blut pumpte aus den Wunden auf die Bodenfliesen.
Carstens Handgelenke schmerzten vom Rückstoß der Waffe, seine Ohren rauschten. Die Frau rührte sich nicht mehr. Carstens eigener Herzschlag pochte laut in seinen Ohren. Der Mann mit dem gebrochenen Bein keuchte vor Anstrengung, während er seinen schwerverletzten Körper Zentimeter für Zentimeter vorwärtsschleppte.
Carsten wischte sich Schweiß aus dem Gesicht und rieb seine nassen Handflächen am Hosenbein ab. Er pustete Luft zwischen den Lippen hervor und versuchte angestrengt, sich wieder zu beruhigen.
Er durfte nicht noch mehr Lärm machen, nicht noch mehr von ihnen anlocken. Und musste Munition sparen. Er steckte die Pistole ein, zog die Axt aus dem Gürtel und trat langsam zu dem jungen Mann. Tourdaten von Radiohead standen auf dem Rücken seines T-Shirts aufgelistet. Offenbar unter großer Anstrengung hob der junge Mann den Kopf und sah zu Carsten hinauf. Es war am schlimmsten, wenn sie noch nicht lange krank waren. Wenn in ihrem Blick noch ein Echo von der Person lag, die sie einmal gewesen waren. Carsten packte den Axtstiel mit beiden Händen und visierte das Ziel für seinen Hieb an. Er holte weit über seinen Kopf aus. Seinem Onkel gehörte ein Ferienhaus an der Nordsee, da hatte Carsten früher manchmal Holz gehackt für den Kamin. Als die Axt an der höchsten Stelle angekommen war, schloss er die Augen und legte alle Kraft in die Abwärtsbewegung. Das Axtblatt schlug durch bis auf den Fliesenboden.