31

Am Abend saßen sie in der ehemaligen Kantine des Verwaltungsgebäudes; hier hatte Sabine ihr Quartier eingerichtet. In diesem großen Raum im Erdgeschoss lagerten Lebensmittel und andere Ausrüstung, und hier standen die Schlaflager von Sabine und Miriam. Das Mädchen schlief bereits auf seiner Liege, daneben lagen die Bücher aufgestapelt, die sie aus ihrem Elternhaus mitgenommen hatte.

Zu dritt hatten sie zu Abend gegessen, Carstens erste warme Mahlzeit seit dem Abendessen im Kanal mit Herrn Kröpp. Sabine hatte auf einem Benzinkocher Pfannkuchen gebraten. Den Teig hatte sie aus Mehl, frischen Eiern und frischer Kuhmilch zusammengerührt. Carsten hatte einer Konserve den Vorzug gegeben, die lange vor der Zeit der Infektion abgefüllt worden war. Sabine hatte über seine Vorsicht geschmunzelt, und auch Miriam hatte er von den frischen Pfannkuchen nicht abbringen können. Sie hörte inzwischen offenbar mehr auf Sabine als auf ihn. Jetzt lag sie in dem kleinen, geblümten Schlafsack auf ihrer Liege und schlief.

In der Mitte des kleinen Kantinentischs, an dem Carsten und Sabine saßen, brannte ein einzelnes Teelicht und warf einen unsteten Lichtkreis um sie herum. Sie tranken Kaffee, auf Carstens Drängen mit Mineralwasser gekocht.

»Ich frage mich, wie ich es hierher geschafft habe«, meinte Carsten.

Sabine sah ihn an und zog die Brauen hoch.

»Ich meine – wie kann es sein, dass ich den Weg hierher überstanden habe, verletzt und ohne Waffe?«

Sabine zuckte die Schultern. »Glück«, meinte sie, »ist die eine Möglichkeit. Die andere ist: Wer die Krankheit im Blut hat, wird verschont. Infizierte greifen keine Infizierten an, wie’s aussieht. Hast du je zwei von ihnen kämpfen sehen? Ich nicht. Ist auch vor dem Zaun so: Erst wenn einer tot ist, wird er von den anderen zerrissen. Sie greifen sich nie gegenseitig an, solange sie leben. Wär ja gut für uns, wenn sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen würden.«

»Also …«, Carsten runzelte die Stirn. »Also glaubst du doch, dass ich infiziert bin?«

»Klar«, sagte Sabine gleichmütig. »Ich glaube, dass du die Prionen im Körper hast. Im Blut. Ich meine, du bist viermal gebissen worden. Das wär ja sonst ein Wunder. Aber ich glaube auch, dass die Prionen dir nichts anhaben können.«

»Und warum sollte das so sein?«

»Weil wir immun sind. Frag mich nicht, warum genau. Ich kann nur sagen: Du wurdest gebissen und bist nicht krank. Irgendwie schaffen es unsere Körper, diese Zellen abzuwehren.«

»Und du meinst, dass ich deshalb einfach an ihnen vorbeispazieren konnte? Weil ›Infizierte keine Infizierten angreifen‹?«

Sabine nickte. »Vielleicht.«

»Und wie sollten sie unterscheiden, wer gesund ist und wer krank?«

»Keine Ahnung. Riechen die was, was wir nicht riechen? Pheromone? Keine Ahnung. Vielleicht hast du wirklich nur Glück gehabt.«

Diese Antwort stellte Carsten nicht zufrieden. Weil ihm klar war, dass er keine bessere Antwort bekommen würde, wandte er sich einer anderen offenen Frage in seinem Kopf zu. Ihm war aufgefallen, dass Sabine ihm am Nachmittag eine Antwort schuldig geblieben war.

»Drei von euch sind also in die Hauptstadt gegangen«, begann er.

»Was?«

»Ihr wart zu neunt, hast du gesagt. Drei sind in die Hauptstadt gegangen. Jetzt bist du allein. Was ist mit den anderen fünf passiert?«

Sabine sah ihn einige Zeit an, ohne zu antworten.

»Katie«, begann sie schließlich, »ist krank geworden.«

»War also nicht immun?«, fragte Carsten mit etwas mehr Triumph in der Stimme, als er beabsichtigt hatte. Er bereute es direkt, denn Sabines Miene verfinsterte sich. Für einen Moment schien er sich um den Fortgang der Geschichte gebracht zu haben. Kurz flackerte vor ihm das Bild von Walter mit dem Zimmermannshammer in der Faust auf, und ihm wurde klar, wie ungern er an ihrer Stelle über seine Erlebnisse der letzten Monate berichten würde. »Und dann?«, fragte er vorsichtig weiter.

»Wir mussten überlegen, was zu tun ist«, erzählte sie. »Katie war mit Tobias zusammen, und Tobias tat alles, um seine Freundin zu schützen.«

Carsten nickte.

»Katies Krankheit verlief sehr langsam, am Anfang waren wir gar nicht mal sicher, dass es sie erwischt hatte. Bei dem ganzen Wahnsinn kann man es ja keinem vorwerfen, wenn er ein bisschen durcheinander ist oder verpeilt. Aber es wurde mit der Zeit immer deutlicher; nur Tobias wollte es nicht wahrhaben. Am Ende haben wir die beiden zusammen eingesperrt, in ein leeres Gehege im Raubtierhaus. Nicht gegen Tobias’ Willen. Er wollte das so, und Katie konnte zu dem Zeitpunkt kaum noch ausdrücken, was sie wollte. Trotzdem gab’s eine Menge Streit, ob wir zulassen durften, dass Tobias sich in diese Gefahr begibt, aber das Ende vom Lied war, dass wir die beiden isoliert haben. Quarantäne sozusagen.« Allein das Wort zu hören war Carsten schon unangenehm. Sabine nahm einen Schluck Kaffee.

»Frag mich nicht, ob das richtig war. Ich weiß es bis heute nicht«, meinte sie. »Jedenfalls kam es, wie es kommen musste – ein paar Tage später fanden wir Katie völlig daneben, völlig … hinüber. Sie hatte Tobi … Na ja, als wir es gesehen haben, war nicht mal mehr alles von ihm da. Nur Reste seiner … Leiche. Es musste in der Nacht passiert sein. Katie hat sich nur noch gegen die Scheibe geschmissen und irgendwie versucht, da rauszukommen, was natürlich nicht ging. Ich mein: Das Panzerglas hält Raubtiere aus; da kommt keiner raus. Sie hat kein Wort von uns mehr verstanden – du weißt schon. Die Infektion hatte halt voll zugeschlagen. Es gab wieder eine Menge Streit, und deswegen sind die drei in die Hauptstadt aufgebrochen. Dann haben wir’s erstmal eine Zeit lang zu viert geschafft, aber die beiden anderen …« Inzwischen fiel es Sabine sichtlich schwer fortzufahren. »Kalle, Jörn und Sarah, die hat es schließlich auch erwischt.«

Sabine starrte in ihre Kaffeetasse. Carsten dachte nach. Und aus seinen Gedanken formte sich ein erschreckend lebendiges Bild. Er traute sich, es auszusprechen.

»Bitte sag mir, dass du nicht im Raubtierhaus deine infizierten Freunde versorgst.«

Sabine sah von ihrer Kaffeetasse auf. Im Schein des Teelichts begannen ihre Augen zu glänzen.

»Nein, Carsten«, sagte sie dann mit fester Stimme. »Nein, ich versorge nicht meine infizierten Freunde im Raubtierhaus. Ich habe meine infizierten Freunde umgebracht. Katie, Kalle und Jörn. Weil die anderen es nicht auf die Reihe gekriegt haben. Weil wir alle wussten, dass es gemacht werden muss, aber es keiner in die Hand nehmen wollte. So, ist das genug?«

Carsten hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.

Sabine stand auf, ging aus dem Schein der Kerze hinaus und murmelte halblaut etwas vor sich hin, das Carsten nicht verstehen konnte. Sie verließ den Raum, und Carsten blieb alleine am Tisch zurück, starrte in die Kerzenflamme und schon bald durch sie hindurch.

Sabine kam mit der Kaffeekanne in der Hand zurück an den Tisch und füllte ihre Tassen auf. Carsten bedankte sich. »Warum bist du nicht mit den anderen gegangen?«, fragte er dann.

Sabine zuckte die Schultern.

»Es ist ein sehr weiter, gefährlicher Weg bis zur Hauptstadt«, meinte sie. »Und was soll’s da schon geben als noch viel mehr Infizierte?«

»Meinst du, es gibt noch einen Ort, der sich lohnen würde?«

»Was meinst du?«

»Vielleicht gibt es einen Ort, wo die Infektion nicht hingekommen ist. Keine Ahnung, eine Nordseeinsel. Oder meinetwegen auch eine Südseeinsel.«

Sabine schüttelte den Kopf. »Wir werden auf keine Idee kommen, auf die nicht andere vor uns gekommen sind«, meinte sie. »Es gab so viele Leute mit gut ausgedachten Fluchtplänen – da können wir sicher sein, dass sie die Krankheit inzwischen überall hingetragen haben. Überall. In jeden hinterletzten Winkel auf der Welt. Und dann bleib ich lieber hier, wo ich mich auskenne, wo ich was zu tun habe und mich noch lange von den Resten der Zivilisation ernähren kann. Wie viele Supermärkte, wie viele Warenlager gibt’s auf einer Insel?«

»Kommt auf die Insel an.«

»Klar. Aber mit Sicherheit weniger als hier.«

Carsten nickte.

»Also dein Plan ist …«, er breitete die Hände vor sich aus. »Dein Plan ist hierbleiben. Hierbleiben und die Zootiere versorgen. Ist das dein Plan?«

Sabine nickte, sie schürzte die Lippen dabei. »Hier ist ein guter Ort zum Überleben«, meinte sie. »Wir halten hier so lange aus, bis dieser ganze Wahnsinn vorbeigeht und sich alles wieder ordnet.«

»Ich glaube nicht, dass sich irgendwas wieder ordnen wird«, sagte Carsten ernst. »Das hier ist nichts, was vorbeigehen wird. Das …«, er suchte nach den passenden Worten, »was wir hier erleben, Sabine, das ist das Ende.«

Sabine sah ihn ruhig an, die Kaffeetasse in der Hand. »Wir sind mit Sicherheit nicht die einzigen gesunden Überlebenden.«

Carsten stand von seinem Stuhl auf. »Wir sind nicht gesund, Sabine«, sagte er streng. »Ich wurde gebissen.« Er fasste an seine verletzte Schulter. Dann senkte er seine Stimme zu einem Flüstern, bevor er weitersprach, weil Miriam nur wenige Meter von ihnen entfernt auf der Liege schlief: »Und du bist so unvorsichtig, dass du dich wahrscheinlich mit jedem Bissen infizierst, den du dir in den Mund schiebst.«

Sabine sah ihn ernst an. Sie fasste an ihren Hals und löste den Knoten ihres grauen Halstuchs. »Das hier«, sagte sie, »ist meine Erlaubnis, alles zu essen und zu trinken, was ich will.«

Carsten wich in einer instinktiven Fluchtbewegung vom Tisch zurück. Sabine trug die narbigen Abdrücke von Menschenzähnen in der Haut an ihrem Hals.

»Ist schon gut«, sagte sie und schmunzelte gutmütig mit einem Blick, mit dem man ein drolliges Tier beobachten würde. »Was glaubst du, was passiert? Dass ich gleich über dich herfalle?« Sie rieb sich mit einer Hand den Nacken.

»Entspann dich, Carsten. Wir wurden beide gebissen. Und wir sind beide gesund.«

»Wir sind nicht gesund. Wir haben beide die Krankheit in uns, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie aus uns hervorbricht. Wir werden sterben, Sabine«, sagte er und konnte nicht verhindern, dass sich seine Stimme belegte. »Wir werden alle sterben. Und nichts, was wir tun, wird etwas daran ändern.«

Sabine zeigte wieder ihr Schmunzeln, und das konnte Carsten gerade nur schwer ertragen.

»Das ist doch nichts Neues, Carsten«, antwortete sie ruhig und belehrend. »Es sind schon immer alle gestorben. Auch ohne die Krankheit. Niemand lebt ewig.«

Carsten setzte zu einer Erwiderung an, aber dann hielt er sich zurück, um zuerst überzeugende Worte zu finden. Er lehnte sich vor. »Sabine«, begann er ruhig und überlegt. »Ich glaube, du verstehst nicht, was hier passiert. Das hier ist keine vorübergehende Krise«, er betonte jedes einzelne Wort. »Sabine, das Leben selbst stirbt.«

Er wollte den Satz wirken lassen.

»Das Leben findet einen Weg, Carsten«, lächelte Sabine. »Das war immer so, und das wird auch immer so sein. Das Leben findet einen Weg.«

Carsten setzte sich wieder hin.

»Ist das nicht aus Jurassic Park?«, fragte er mutlos.

Sabine zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«

Carsten nahm die Brille ab und legte sie vor sich auf den Tisch. Er rieb sich die Augen. Sabine nippte an ihrem Kaffee.

»Morgen werde ich dir etwas zeigen«, brach sie das Schweigen, »das dich überzeugen wird. Ein Zeichen der Hoffnung, wenn du so willst.«

»Was denn?«

»Wart’s ab.«

Die Nacht verbrachte Carsten wieder in seiner Zelle hinter dem Waschraum. Wenn Sabine tatsächlich davon überzeugt war, dass er immun war und die Krankheit ihm nichts anhaben konnte, warum hatte sie ihn dann hier eingesperrt, als er ohnmächtig war? Vermutlich würde Sabine diese Frage nur wieder zum Schmunzeln bringen. Deshalb beschloss Carsten noch vor dem Einschlafen, sie ihr nicht zu stellen.

Sabine war nicht dumm. Entweder glaubte sie tatsächlich, was sie sagte, oder sie wollte nicht wahrhaben, wie hoffnungslos ihre Situation war, weil sie es nicht ertragen konnte. Aber warum sollte die Hoffnungslosigkeit für sie schwieriger zu ertragen sein als für ihn?

Und würde es helfen, sie zu überzeugen? Würde es ihr helfen? Würde es ihm helfen?