12

Carsten hatte noch nie so viel Blut gesehen, wie aus dem eingeschlagenen Schädel des kleinen Jannik strömte. Eva kreischte, bemühte sich mit blutendem Gesicht um ihren leblosen Sohn und schrie: »Tut doch etwas, tut doch etwas«. Walter ließ den blutigen Hammer mit einer laxen Bewegung neben den Körper des Jungen fallen.

Luisa hockte sich neben Eva und nahm sie in den Arm. Luisa und Carsten waren gemeinsam hergekommen. Sie war die Verlobte von Carstens bestem Freund Markus. Eine junge Augenoptikerin mit langem blondem Haar, das über ihrer Stirn zu einem geraden Pony geschnitten war. Ihre Haut war blass und ihr Körper besorgniserregend mager. Mit ruhiger Stimme erklärte sie Eva, dass Jannik tot war. Dass sie nichts mehr für ihn tun konnten.

Lukas, ein Student aus ihrer Gruppe, stand mit einer Wolldecke bereit, um den kleinen Körper zuzudecken.

Eva machte sich von Luisa los, packte den hingeworfenen Hammer und stürzte mit einem Kreischen auf Walter zu. Carsten griff ohne zu zögern ein; er packte Eva bei der Schulter, um sie aufzuhalten; ein anderer Mann aus ihrer Gruppe, Thomas, kam ihm sofort zu Hilfe. Zu zweit hielten sie Eva fest und versuchten, den Arm zu blockieren, mit dem sie den Hammer gegen Walter schwang. Der wich nur einen Schritt aus ihrer Reichweite zurück und blieb dann wieder ruhig stehen.

Thomas rief Carsten warnend zu: »Pass auf! Ihr Blut!«

Evas Blut quoll weiter aus der Wunde, die Jannik in ihr Gesicht gerissen hatte, und Carsten streckte die Arme aus, um Abstand zwischen sich und die Frau zu bringen. Luisa versuchte, Eva zu beruhigen, doch Eva kreischte: »Carsten, erschieß ihn! Erschieß ihn!«

Carstens Pistole war die einzige Schusswaffe in ihrer Enklave.

»Du solltest froh sein«, goss Walter Benzin ins Feuer, »ich hab dir dein Leben gerettet. Dein Kleiner hätte dich umgebracht.«

Als Eva das hörte, wütete sie noch einmal in Walters Richtung, und die beiden Männer hatten Schwierigkeiten, sie zu halten.

»Das hilft doch jetzt überhaupt nicht«, griff Lukas ein. »Komm, Walter, wir gehen erst mal nach nebenan.«

Nachdem die beiden den Raum verlassen hatten, wurde Eva etwas ruhiger.

Sie setzten sie auf einen Stuhl. Als wenn sie erst jetzt erkannte, was sie in der Hand hielt, warf sie angeekelt den Hammer von sich.

Carsten blickte auf den abgedeckten Körper des Jungen in der Mitte des Raums hinunter. Sein krankes Blut sickerte aus den vollgesogenen Enden der Wolldecke, die Lukas über ihn ausgebreitet hatte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Thomas und setzte sich ebenfalls. Thomas war ein untersetzter Geschichtsstudent mit wirrer Frisur, der Carsten an Robert Smith erinnerte, den Frontmann von The Cure. Thomas’ düsterer Kleidungsstil passte zu diesem Eindruck. »Dieser Psychopath hat meinen Sohn umgebracht! Ihr wollt ihn ja wohl nicht damit durchkommen lassen! Ich will, dass er stirbt! Ich will, dass er stirbt für das, was er getan hat!«

Luisa versuchte noch einmal, auf Eva einzureden, aber die schüttelte ihre Worte ab.

Thomas sah zerknirscht zu Carsten herüber. Dann hörten sie Tumult von nebenan, Walter brüllte und pochte gegen eine Tür.

Lukas kam zurück. »Ich hab ihn erst mal eingeschlossen. Damit wir … überlegen können. Was wir jetzt machen. Was wir mit Walter machen.«

»Ich sag es nicht gerne«, sagte Stefan, »aber ich fürchte, wir müssen eher darüber entscheiden, was wir mit ihr machen.«

Er zeigte auf Eva. Sie funkelte ihn wütend an.

Mit Stefan war Carsten schon mehrmals unterwegs gewesen, um Lebensmittel zu sammeln. Er hatte Carsten ein ums andere Mal mit seinem Mut zu schnellen Entscheidungen beeindruckt. Ihm hatte vor der Katastrophe ein kleines Sanitärunternehmen für Komfortbäder gehört.

»Was meinst du?«, fragte Luisa.

»Sie ist krank«, erklärte Stefan. Er tippte sich auf die Wange. »Der Biss. Sie hat’s im Körper. Und machen wir uns nichts vor: Walter mit ziemlicher Sicherheit auch. Das denken viele von uns schon lange genug.«

»Das wissen wir nicht, er ist vielleicht einfach nur durcheinander«, wandte Lukas ein.

»Okay, vielleicht ist er einfach nur durcheinander«, wiederholte Stefan zynisch. »Willst du unser Überleben an diesen Zweifel hängen? Oder wollen wir vielleicht lieber sichergehen?«

»Hier ist es nicht mehr sicher«, sagte Carsten. Er deutete auf das Blut am Boden. Thomas nickte.

»Wir gehen in ein anderes Stockwerk«, schlug Tanja vor. »Das müsste doch sicher genug sein.« Sie sah die anderen an. »Über die Luft wird es nicht übertragen.«

»Sagt wer?«, wollte Stefan wissen. Tanja zuckte die Schultern.

»Schicken wir sie beide raus«, schlug Stefan vor. »Wir müssen sie nicht … umbringen. Sollen sie ihr Schicksal finden. Draußen.«

»Wie bitte?!«, kreischte Eva und stand von ihrem Stuhl auf. »Ich sitze hier, ist dir das klar? Du redest über mich, mein Leben! Wir sollten dich raussetzen, du Assi!«

»Ich bin aber nicht krank«, antwortete Stefan. »Und ich werde keinen von uns fressen.«

»Wir wissen doch gar nicht, ob sie krank ist!«, versuchte Luisa klarzustellen.

Eva stand auf und stapfte auf Stefan zu. Thomas erhob sich halb, sah zu Carsten herüber, der auch nicht wusste, was zu tun war.

»Bleib mir vom Leib«, warnte Stefan, doch da war Eva schon auf einen Schritt an ihn herangekommen.

Mit verächtlicher Miene stand sie ihm gegenüber, funkelte ihn an und – spuckte ihm ins Gesicht. Für einen Moment waren sie alle wie erstarrt. »Da hast du deine Scheißinfektion. Wenn ich sie hab, hast du sie auch«, sagte sie giftig.

Stefan brach die Bewegungslosigkeit. Blitzartig schlug er Eva die Faust in den Magen, sie krümmte sich, Carsten und Thomas sprangen auf, um einzugreifen. Stefan schlug der gebückten Eva ins Genick; sie fiel, stürzte zu Boden, gleich neben die Leiche ihres Sohnes. Luisa kreischte und weinte; sie wollte den Raum verlassen, kam aber nicht an den Männern vorbei, die jetzt gemeinsam versuchten, Stefan aufzuhalten.

»Das reicht jetzt!«, herrschte Thomas Stefan an, und sie packten ihn bei den Schultern, schoben ihn durch den Raum von Eva weg. »Beruhig dich.«

Carsten hörte Luisa noch »Eva, nein!« sagen, bevor er begriff, was geschah: Eva war schon wieder auf den Beinen, hatte den Hammer in der Faust und stürzte auf Stefan zu. Der riss sich explosionsartig aus dem Griff der beiden Männer los, stürmte Eva entgegen und schmetterte sie wie ein Rammbock gegen die Wand. Eva keuchte, verlor den Hammer; Stefan drückte sie zu Boden und presste ihr ein Knie auf den Brustkorb. Abwehrend streckte sie ihm die Arme entgegen und rieb Stefan die blutige Hand ins Gesicht, mit der sie sich ihre Bisswunde gehalten hatte. Carsten und Thomas stürzten Stefan hinterher, doch bevor sie ihn erreichten, griff er in Evas Haar und schmetterte ihren Schädel auf den Boden. Sie packten ihn, Stefans Ellenbogen traf Carsten am Kinn und er fiel rückwärts. Thomas klammerte seinen Arm um Stefans Hals und zog ihn würgend von Eva herunter. Carsten kam wieder auf die Beine und entfernte sich schnell von der Blutlache des Kindes.

Alle keuchten, Luisa weinte und beugte sich über die bewusstlose Eva, der das Blut aus den Ohren lief.

»Die hat mich umgebracht«, stammelte Stefan, spuckte angeekelt aus und wischte sich mit seinem T-Shirt Evas Blut vom Gesicht. »Die wollte mich umbringen! Ich muss es nicht kriegen, aber die wollte mich umbringen.« Er fand eine Wasserflasche und spülte sich den Mund aus.

»Fuck!«, rief Thomas plötzlich; Carsten sah, dass er Blut an seinem Unterarm entdeckt hatte. Er musste etwas von dem Blut, das Eva Stefan ins Gesicht gerieben hatte, abbekommen haben, als er Stefan von ihr heruntergezogen hatte. Thomas wusch es mit Trinkwasser ab; Carsten schaute an sich herunter und kontrollierte seine Kleidung, Hände und Unterarme auf Blutspuren.

»Sie atmet nicht«, sagte Luisa panisch. »Sie atmet nicht, wir müssen sie beatmen.«

Carsten und Thomas sahen einander an. Luisa blieb unschlüssig über der Ohnmächtigen stehen.

»Nur zu«, meinte Stefan zynisch. »Mund-zu-Mund-Beatmung. Viel Spaß.« Er nahm noch einen Schluck Wasser und spuckte ihn wieder aus.

»Aber wir können sie doch nicht einfach sterben lassen«, sagte sie. »Du solltest es tun«, meinte sie dann zu Stefan. »Wenn sie es hat, hast du es eh schon.«

Stefan starrte sie an. »Was fällt dir ein?«, polterte er bedrohlich.

»Wir müssen doch so eine Maske haben. Im Erste-Hilfe-Kasten«, meinte Lukas. »So eine Aids-Maske.« Er schob sich zwischen Stefan und Luisa hindurch und eilte aus dem Raum.

Stefan wandte sich jetzt den Männern zu.

»Sag nichts, sag kein Wort«, kam Thomas ihm zuvor, bevor er etwas sagen konnte. »Wir sind fertig miteinander.«

»Was sollte ich denn machen?«, wütete Stefan.

»Halt einfach die Fresse«, sagte Thomas und ging hinter Lukas her.

Stefan wandte sich an Carsten. »Was sollte ich denn machen, das war ein tödlicher Angriff, mich anspucken mit der Infektion – das war reine Selbstverteidigung!«

»Einer Frau den Schädel brechen passt nicht zu meiner Idee von Selbstverteidigung«, sagte Carsten sachlich.

Lukas und Thomas kamen wieder in den Raum. Lukas hatte gefunden, was er gesucht hatte; er gab Luisa die Schutzmaske und ein Paar Latexhandschuhe. Luisa streifte die Handschuhe über ihre langen Finger und setzte der bewusstlosen Eva die Maske aufs Gesicht.

Tanja und die drei Männer standen um sie herum und beobachteten, was geschah. Niemand erwartete, dass Luisas Wiederbelebungsversuche Erfolg zeigen würden. Nicht einmal Luisa selbst.

Stefan hatte Eva umgebracht.

»Ich geh Walter rauslassen«, sagte Thomas.

»Moment mal«, sagte Stefan, »das werden wir gemeinsam entscheiden.«

»Mit dir entscheide ich gar nichts mehr«, erklärte Thomas. »Du kannst dich verpissen. Du bist für mich gestorben.«

Stefan funkelte ihn wütend an. Offenbar fehlten ihm die Worte für eine Antwort.

»Was jetzt?«, drängte Thomas. »Willst du jetzt mich anspucken? Verpiss dich.«

Er machte einen Schritt um Stefan herum und verließ den Raum.

»Sie ist tot«, flüsterte Luisa. Sie hatte ein Ohr auf Evas Brust gelegt. Sie begann zu schluchzen und zog sich von Evas Leiche zurück. Trostsuchend wandte sie sich zu Carsten, doch er bedeutete ihr, zuerst die blutigen Latexhandschuhe auszuziehen. Während sie erst den einen, dann den anderen Handschuh abstreifte, wurde ihr Blick hart.

»Schaff den Mörder hier raus«, sagte sie zu Carsten. »Er hat hier nichts mehr zu suchen.«