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Die Schnitzeljagd endete bei einem monumentalen Gebäude in der Nähe der S-Bahn-Gleise; es war ein alter Wasserturm, der in früheren Zeiten die Dampflokomotiven mit Kesselwasser versorgt hatte. Nachdem S-Bahnen die Lokomotiven abgelöst hatten, hatte man die alten Bauten neuen Zwecken zugeführt.

Carsten nahm den Wasserturm aus der Entfernung in Augenschein. Wie ein Monolith aus roten Ziegeln ragte er Stockwerk um Stockwerk in die Höhe. Das Eingangsportal war mit Metallplatten verbarrikadiert, grob miteinander verschweißt. »Sicherheit« stand in weißer Farbe auf das Metall geschrieben. Auch die Fenster in den unteren Stockwerken waren von innen mit Brettern und Stahlplatten gesichert.

Ein Fenster im zweiten Stock war frei; es lag direkt über dem Eingang, eine Strickleiter hing heraus. Ihre Sprossen waren vor dem Eingang auf Kopfhöhe zu einem Bündel aufgerollt.

Carsten sah sich um; er konnte kein Anzeichen von Leben ausmachen, weder im Umfeld des Gebäudes noch innerhalb des Turms. Er fragte sich, ob er aus dem Dunkel hinter der Fensteröffnung längst beobachtet wurde. Ob ein Fernglas auf ihn gerichtet war; oder ein Zielfernrohr. Für diesen Fall wollte er signalisieren, dass er nicht infiziert war – und ihm wollte nichts Besseres einfallen, als zum Fenster hinaufzublicken, die Hände zu heben und zu winken. Er kam sich komisch dabei vor. Eine Reaktion war nicht erkennbar.

Carsten ging auf das Turmgebäude zu; an der Wand neben dem verbarrikadierten Eingang wiesen Schilder ein Architekten- und ein Designbüro aus.

Carsten nahm das Bündel der Strickleitersprossen in Augenschein; es wurde von einem stabilen Fahrradschloss zusammengehalten, das sich mit einer Zahlenkombination öffnen ließ.

Auf der Stahlplatte vor dem Eingang entdeckte er unter den weißen Buchstaben des Wortes »Sicherheit« kleinere, dunkelblaue Schrift: »2–2-0–1. Sie können nicht lesen und nicht klettern.«

Carsten sah sich noch einmal um. Weiterhin keine Anzeichen von Leben, keine Anzeichen von Gefahr.

Er stellte die Kombination am Zahlenschloss ein. Die Ziffernräder rasteten ein und gaben den Stift des Schlosses frei. Carsten ließ die Leitersprossen behutsam herunter. Er schaute noch einmal hoch zum Fenster – nichts zu erkennen. Er ließ das Schloss wieder einrasten und hängte es sich über den Arm. Er zog den Rucksack höher auf den Rücken und straffte die Riemen, steckte die Pistole ins Holster und rückte die Axt im Gürtel so zurecht, dass sie ihn nicht beim Klettern behindern würde.

Dann begann er, die Strickleiter hinaufzusteigen, klemmte sich dabei schmerzhaft die Finger der rechten Hand zwischen Wand und Leitersprosse. Er sog zischend die Luft ein.

Als er die Fensteröffnung erreichte, blieb er auf der Leiter stehen, um in den Raum zu spähen. Es war niemand hier. Jedenfalls war niemand zu sehen.

Er stieg die letzten Sprossen hinauf, kletterte über die Fensterbank und holte hinter sich die Strickleiter ein.

Die Räume des alten Gebäudes beherbergten moderne Büros; weiß, grau, gefrostetes Glas. Carsten befand sich offenbar im Empfangsraum dieser Etage. In einem Vogelkäfig auf einer Empfangstheke bewegte sich ein Wellensittich. Graue, repräsentative Couchen hatte man mit Wolldecken zu Schlafplätzen umfunktioniert.

Carsten lauschte; bis auf die leisen Geräusche des Vogels hörte er nichts. Vorräte, Werkzeug und Erste-Hilfe-Kästen standen an einer Wand aufgestapelt. Gefrostete Glasscheiben teilten Büroräume vom Rest der Etage ab.

Er überlegte, ob er sich bemerkbar machen sollte. Und entschied dagegen.

Er ging zu der Empfangstheke hinüber; dahinter hing das Logo des Architekturbüros in Stahl geschnitten an der Wand. Er nahm den Vogelkäfig in Augenschein; der Wellensittich blickte stumm zurück. Im Sand auf dem Käfigboden lag ein blaugefiederter Artgenosse reglos auf dem Rücken.

Neben dem Käfig stand ein Funkgerät, das Handmikro an einem Spiralkabel lag obenauf. Carsten schaltete den Netzschalter auf »on«; nichts geschah. Die Kontrollleuchte blieb dunkel. Zwei Notebooks standen aufgeklappt daneben; auch sie ließen sich nicht einschalten. Neben den Geräten stand ein halbvoller Kaffeebecher; Carsten befühlte ihn. Er war kalt.

Der Vogel zirpte. Carsten ging auf den Flur zu, an dem die Büros mit ihren gläsernen Wänden aufgereiht waren. Hier drang ihm übler Geruch entgegen. Säuerlich. Faulig. Unwillkürlich verzog sich sein Gesicht. Vorsichtig bewegte er sich den Flur entlang, bemühte sich, seine Füße lautlos auf den blassen Teppichboden zu setzen.

Neben der ersten Tür wies ein Schild den Konferenzraum aus. Carsten versuchte, durch die halbdurchsichtige Glaswand zu spähen, doch er konnte nichts erkennen; hinter dem Glas war es dunkel. Er zog die Pistole. Als er die Hand auf die Türklinke legte, spannten sich alle Muskeln in seinem Körper. Er öffnete die Tür.

Die verbarrikadierten Fenster ließen kein Licht in den Raum. Das wenige Licht, das die gefrostete Glaswand aus dem Flur einfallen ließ, schuf ein fahles Halbdunkel. Fliegen summten.

Carsten erkannte menschliche Silhouetten, nebeneinander auf dem Fußboden unter einem der Fenster. Er blieb in der Tür stehen, ließ den Rucksack zu Boden gleiten und nahm die Taschenlampe heraus. Er streckte die Pistole in der rechten Hand vor, hielt die Lampe mit der linken direkt daneben. Dann schaltete er die Lampe ein.

Mit ihren frischen Batterien leuchtete sie kräftig auf die beiden Gestalten am Boden. Sie waren tot, ihre Haut dunkel verfärbt und die Augenlider eingesunken. Ein Mann und eine Frau, ihre Arme waren nach hinten überstreckt. Handschellen glänzten im Schein der Lampe, die Leichen waren an einen Heizkörper gefesselt. Zäher Speichel bildete sich in Carstens Mund.

Er ließ den Schein der Taschenlampe durch den Rest des Raums fahren. Landkarten und Straßenpläne hingen an den Wänden. Auf dem Konferenztisch lag ein schwarzer Leichensack. Darin eine Form, die für einen Erwachsenen zu klein war.

Es gab einen weiteren Tisch, auch auf dem lag eine Gestalt; auf Polster und Kissen gebettet, mit einer glänzenden Notfalldecke zugedeckt. Über dem Tisch entdeckte Carsten im Lichtkegel seiner Lampe einen Infusionsbeutel. Er war mit einem Kabel an eine Strebe der Deckenverkleidung geknotet. Der Beutel war leer; sein Schlauch führte zum Arm der Frau. Carsten trat näher an den Tisch, um mehr zu erkennen.

Um die Einstichstelle des Zugangs zeichneten sich violett die Venen unter der hellen Haut der Frau ab. Carsten beleuchtete ihr Gesicht; er sah es von der Seite, es war mager und eingefallen. Zuerst war er nicht sicher; er bemühte sich, ganz genau hinzuhören: Kaum vernehmbar drangen Atemgeräusche an sein Ohr. Carsten klemmte sich die Taschenlampe wie einen Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter und streckte den behandschuhten Zeigefinger der linken Hand vor, hielt ihn einen Zentimeter unter die spitze Nase der Frau. Durch das Latex spürte er heiße Luft auf seinen Finger strömen. Sie atmete; schwach, doch sie atmete.

Dann öffnete sie die Augen. Carsten stolperte erschrocken zurück, die Taschenlampe rutschte ihm unter dem Kinn heraus, fiel auf den Boden und leuchtete die Wand an. Die Frau sog laut die Luft ein und atmete rasselnd wieder aus. Carsten bückte sich nach der Lampe und hob sie mit zitternden Händen auf, leuchtete der Frau ins Gesicht. Sie starrte ihn an; ihre schmalen Lippen zogen sich zurück und entblößten ihre Zähne; Carsten stand weit außerhalb ihrer Reichweite, trotzdem schnappte sie in seine Richtung. Ihre Zähne schlugen mit einem harten, hohlen Klang aufeinander. Der Rest ihres Körpers blieb unbewegt. Carsten war unschlüssig. Hier gab es keine Sicherheit. Wer immer sich hier eingerichtet hatte, war gescheitert.

Ein plötzliches Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren; ein unverständlicher, stimmhafter Laut. Sein Herz hämmerte. Er ließ die Frau auf dem Tisch zurück, hörte hinter sich weiter ihre Kiefer schnappen. Mit ausgestreckter Waffe ging er zurück auf den Flur, der Stimme entgegen. Sie schien aus dem gegenüberliegenden Büro zu kommen. Hinter der Glastür bewegte sich etwas. Ohne die Tür aus den Augen zu lassen, ging Carsten in die Knie, schob den linken Arm durch einen Riemen des Rucksacks und stemmte das Gepäck auf seinen Rücken. Durch das gefrostete Glas erkannte er eine menschliche Silhouette, die sich mit steifen Schritten auf die Tür zubewegte. Carsten sah zum Schloss der Tür; kein Schlüssel. Rückwärts bewegte er sich aus dem Flur zurück in den Empfangsraum; die Gestalt hatte die Tür erreicht. Sie drückte von innen gegen das Glas und gab ein Brummen von sich, als die Tür dem Druck nicht nachgab. Carsten hielt die Waffe vor sich ausgestreckt, er zitterte und versuchte, die rechte Hand mit der linken zu stützen, in der er die Lampe hielt. Er bewegte sich weiter rückwärts, hielt dabei die Tür im Auge; das gläserne Türblatt bog sich bedrohlich. Plötzlich ließ der Druck auf die Tür nach, ungestüme Bewegungen setzten hinter der Tür ein, die Gestalt tobte. Carsten drehte sich um und lief zum Fenster.

Noch bevor er es erreicht hatte, hörte er ein Klicken von der Bürotür, und die Geräusche der ungestümen Bewegungen hörten mit einem Mal auf. Carsten blickte zurück. Die Tür war aufgeschwungen. Die Gestalt musste in ihrem Herumwüten die Klinke gedrückt haben. Wie in Zeitlupe trat ein Mann in den Flur. Graumeliertes Haar, ein schmutziges weißes Hemd und um den Hals eine Krawatte, deren Knoten aufgezogen war. Er sah Carsten ernst und leer entgegen. Der Blick war weder wild noch gierig, eher klagend, fast hilfesuchend. Ungelenk und langsam machte er einen steifbeinigen Schritt nach dem anderen in Carstens Richtung. Er öffnete den Mund und wirkte angestrengt, als er Laute hervorpresste, die fast wie verständliche Silben klangen. Die Zunge streckte er lang und steif zwischen den Lippen hervor.

Carsten schätzte ab, wie viel Zeit ihm blieb, bis der Mann ihn erreichen würde. Dann setzte er auch den zweiten Rucksackriemen auf, schob sich die Brille höher ins Gesicht und lief mit schnellen Schritten hinüber zur Theke. Er packte eine Spraydose, steckte sie in eine Jackentasche, öffnete den Vogelkäfig, griff den überlebenden Wellensittich und warf ihn aus dem Fenster in die Freiheit; der Vogel flatterte los. Dann ließ er die Sprossenleiter hinab und begann den Abstieg. Er hatte den Boden noch nicht erreicht, als über ihm der Mann auftauchte und sich mit einem grollenden Laut aus dem Fenster lehnte. Carsten sprang die letzten Sprossen herunter und kam hart auf dem Asphalt auf. Er riss an der Strickleiter, doch sie rührte sich nicht. Er zog die Axt aus dem Gürtel und durchtrennte ihre Seile mit zwei festen Schlägen so hoch oben, wie er es erreichen konnte.

Während der Mann über ihm grollte, zog Carsten die Spraydose aus der Jackentasche, schüttelte sie und kreuzte mit zwei gesprühten Linien das Wort »Sicherheit« auf der Stahlplatte vor dem Eingang durch. Dann setzte er drei Buchstaben daneben: RSD. Roemer-Swanson-Disease.