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Er hatte die Kanthölzer von der Drehtür gerissen und die Tür von innen mit Tischen und Stühlen wieder verbarrikadiert, so gut es ging. Er war alle Räume einmal abgelaufen – Gastraum, Küche, Büro, Toiletten und Lager –, um sicherzustellen, dass er allein war. Dabei hatte er zwei weitere Türen entdeckt, die von der Straße ins Gebäude führten; eine Stahltür neben den Lagerräumen, die sich zur Rückseite des Hauses öffnen musste, und eine Eingangstür zum Treppenhaus auf der Vorderseite des Gebäudes. Beide waren fest verschlossen; die Tür zum Treppenhaus war von außen zusätzlich mit der gleichen Art Kanthölzer gesichert, wie Carsten sie von der Drehtür gerissen hatte.

Nach dem Kontrollgang hatte er seine Alarmanlage aus Konservendosen aufgestellt, die Pistole griffbereit auf einem Tisch des Restaurants platziert, sich in seine Decke gewickelt und auf der gepolsterten Sitzbank hinter einem Tisch niedergelassen.

Als er endlich lag, drängten die Schmerzen noch tiefer hinter seinem Auge in den Schädel, und sogar mit geschlossenen Augen sah er noch weiße Flecken. Es war eine Erlösung, als er endlich einschlief.

Als er wieder aufwachte, ging es ihm besser. Er sah auf die Uhr; es war schon Abend. Nur ein Rest der Migräne hing ihm noch nach. Er hatte schon früher unter solchen Kopfschmerzen gelitten; in stressigen Phasen, in denen er zu viel zu tun hatte, und dann bevorzugt am Wochenende. Was für ein lächerlicher Stress im Vergleich zu heute … Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Mit Sehschwäche, nächtlichem Zähneknirschen und Migräneneigung war er kein guter Kandidat für das Überleben in der Zombieapokalypse. Er setzte seine Brille auf und zündete eine Kerze an, die neben Salz, Pfeffer und Zahnstochern auf dem Tisch stand. Dann holte er eine Packung mit Salzcrackern aus dem Rucksack und aß ohne Appetit, in der Hoffnung, dass es ihm dadurch noch etwas besser gehen würde. Er trank aus einer Colaflasche, die er am Morgen im Kaufhaus mitgenommen hatte, und spülte damit die trockenen Kekse herunter. Um heute noch weiterzugehen, war es zu spät. Es würde bald dunkel werden. Und mehr Schlaf würde ihm wahrscheinlich guttun. Er stand auf, um eine der Toiletten zu benutzen – die Spülung funktionierte nicht mehr. Dann ging er zurück in den Gastraum, wickelte sich wieder in seine Decke und legte sich an der gleichen Stelle zum Schlafen.

Geweckt wurde er von einem Schrei.

Er schreckte hoch. Sein erster Griff galt der Pistole, der zweite seiner Brille.

Eine Männerstimme schrie um Hilfe; tief, rau, von Verzweiflung angegriffen. Carsten lief zu einem verbarrikadierten Fenster und versuchte, zwischen den Brettern hinauszuspähen; er konnte kaum etwas erkennen. Draußen dämmerte es. Die Bretter herunterzureißen, war zu gefährlich; viel Lärm und eine Öffnung nach draußen. Er dachte nach. Draußen riss noch einmal ein Hilfeschrei durch die Luft. Carsten lief zu den Toiletten und fand dort die Tür zum Treppenhaus des Gebäudes. Er rannte die Stufen hoch zum Treppenabsatz auf halber Höhe zum ersten Stock. Durch ein Fenster zur Straße sah er im frühen, weichen Licht der Dämmerung, was draußen geschah: Auf der Straße war ein Mann gestürzt, ein grauhaariger Mann mit Pferdeschwanz und Vollbart. Er kam gerade wieder auf die Füße. Er wurde verfolgt von fünf Gestalten, die Hände wie Klauen vor sich ausgestreckt. Bevor er sich ganz aufrichten konnte, war einer der Verfolger schon über ihm und drückte ihn wieder zu Boden. Der Mann trat verzweifelt nach hinten, um den Angreifer abzuwehren.

Carsten riss am Griff des Fensters, doch es ließ sich nicht öffnen. Wenn er jetzt schießen würde, um den Mann zu schützen, würden sie ihn hören, ihn entdecken. Und der Schuss konnte noch viel mehr von ihnen anlocken.

Carsten zielte durch die Fensterscheibe. Seine Hände zitterten. Die Tische und Stühle, mit denen er die Drehtür von innen blockiert hatte, würden sie nicht lange zurückhalten. Die Entfernung war groß, er war ein miserabler Schütze, und wenn er die Waffe auf diese Entfernung nur um einen Zentimeter verriss, mochte er den Mann treffen, den er schützen wollte. Carsten stieß den Atem durch die Nase aus. Und schoss. Das Glas zerplatzte, die Scherben schepperten unter ihm auf die Straße. Er hatte niemanden getroffen.

Der Mann hatte den Angreifer von sich weggestoßen und kam erst auf alle viere, dann in den Stand und stolperte vorwärts, weg von seinen Verfolgern. Carsten feuerte noch einmal, wieder daneben, sein Schuss ließ ein Schaufenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite zerbersten.

Der Mann brachte jetzt schnell Abstand zwischen sich und die Meute, als hätte Carstens Eingreifen ihm neue Energie gegeben. Carsten zielte, feuerte und traf. Er brachte den Mann zu Fall, der dem Grauhaarigen am nächsten war. Die anderen vier folgten ihm weiter; der Grauhaarige blickte für einen Augenblick in Carstens Richtung; ihre Blicke trafen sich, dann wandte er sich wieder zur Flucht.

Carsten zielte auf die Gruppe der Verfolger; er schoss, traf aber nur den Asphalt vor ihren Füßen. Drei von ihnen wechselten jetzt die Richtung und rannten in Carstens Richtung; er hatte sie tatsächlich angelockt. Sein Mund wurde völlig trocken; er würde viel besser zielen müssen.

Er sah noch einmal dem Grauhaarigen hinterher – der lag plötzlich am Boden, Carsten hatte nicht gesehen, wie das passiert war; seine Beine zuckten unkontrolliert, eine nackte Frau hockte über ihm, Blut auf ihrer bleichen Haut. Der verbleibende Verfolger stürzte sich neben ihr auf den zuckenden Körper.

Carsten schnaubte. Die drei, die in seine Richtung rannten, hatten jetzt die Fassade erreicht, sie sammelten sich direkt unter dem Fenster, an dem er stand. Zwei Frauen und ein Mann. Eine der beiden Frauen versuchte, am Rosengitter hochzuklettern; sie zerschnitt sich die Hände an den Dornen und fand mit ihren ungestümen Bewegungen keinen Halt. Carsten richtete die Waffe auf sie. Auf diese Distanz war es nicht schwierig, sie zu treffen. Im frühen Licht der Dämmerung erkannte Carsten, dass sie eine Polizeiuniform trug, ihr blondes Haar war in einen zerzausten Zopf geflochten. Carsten zielte auf ihre hellblaue Bluse, dorthin, wo Blut von ihrem Kinn in den Stoff gesunken war. Sie knurrte und riss an den Rosenranken. Carsten feuerte. Sie fiel.

Die andere Frau unter dem Fenster … er kannte diese Frau. Sie trug Kleidung in Blau und Türkis, und Carsten kannte sie von irgendwo … Ihr Gesicht war hasserfüllt, blutverschmiert, und ihre Zunge streckte sich unkontrolliert aus ihrem Mund. Carsten kannte ihr Gesicht freundlich lächelnd, doch ihm wollte nicht einfallen, woher er sie kannte. Sie und der Mann neben ihr stürzten ungezielt die Stühle vor dem Bistro um und drängten auf die Drehtür zu; Carsten hatte keine Ahnung, wie lange seine improvisierten Barrikaden ihnen standhalten würden. Aus einer gegenüberliegenden Gasse rannten jetzt zwei Männer auf die Straße, gefolgt von der Teenagerin, die Carsten am Vortag in den Trümmern der Buchhandlung hatte hocken sehen. Sie rannten in seine Richtung und gierten ihm von unten mit ihren Blicken entgegen.

Carsten hörte Schlagen und Kratzen von unten. Er konnte nicht zulassen, dass sie die versperrte Tür durchbrachen; er feuerte mehrmals in die fünfköpfige Gruppe. Er traf die Teenagerin in die Schulter, und er traf auch die Frau in Türkis, die er von irgendwoher kannte; ohne richtig zu zielen, hatte er ihr direkt ins Gesicht geschossen.

Jetzt erreichten auch die Langsamen, die nicht mehr rennen konnten, die Straße vor dem Bistro. Sie tauchten aus dem Dunkel auf, aus Nebenstraßen und Gassen. Verlangsamt, aber zielstrebig, schlurften und stolperten sie auf das Bistro zu. Mit jedem Schuss würde Carsten mehr von ihnen anlocken; und er hatte schon wieder versäumt, seine Kugeln zu zählen. Fünfzehn Patronen im Magazin, sieben im Wechselmagazin im Rucksack … wie viele Schüsse blieben ihm noch?

Er musste hier weg, musste seine Sachen holen und verschwinden, bevor sie durch die Tür kommen würden. Und weg wohin? Durch den Hinterausgang. Die Stahltür neben dem Lager.

Er rannte mit der Pistole in der Faust die Treppen herunter, zurück in den Gastraum. Die Tische und Stühle, die er von innen gegen die Drehtür geschoben hatte, waren schon in Bewegung. Eins der Bretter vor den Fenstern hatte sich gelöst und zwei gierige Hände streckten sich in den Raum. Carsten richtete die Waffe auf das Fenster und feuerte zweimal dorthin, wo das Brett fehlte.

Er stürzte zu seinem Gepäck, zog hastig die Jacke an, stopfte die Wolldecke in den Rucksack und setzte ihn auf den Rücken. Er packte seine Axt. Dann rannte er wieder an den Toiletten vorbei zum Hinterausgang, rüttelte an der Klinke; die Tür war fest verschlossen. Auch als er mit der Axt dagegen schlug, wollte sie sich nicht rühren. Er zog die Pistole, richtete sie auf das Türschloss und feuerte aus kürzester Entfernung; der Schuss hallte laut in dem schmalen Flur wider. Die Kugel hatte die Tür durchschlagen und in dem Metall eine Delle rund um das Einschussloch hinterlassen. Trotzdem ließ sie sich nicht öffnen, der Riegel des Schlosses musste noch immer fest in der Türzarge sitzen. Carsten schnaubte, schlug noch einmal mit der Axt zu, dann warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Vergeblich.

Er blieb hilflos stehen. Das Klopfen, Stoßen und Scharren vom Eingang ließ ihn kaum einen klaren Gedanken fassen.

Fenster! In den oberen Stockwerken musste es Fenster zur Rückseite des Hauses geben. Das war sein Ausweg. Und vorne würde er für Ablenkung sorgen, damit er unbemerkt entwischen könnte. Was lenkte sie ab? Schnelle Bewegungen, Geräusche. Feuer. Molotow.

Er rannte zur Bar, suchte brennbaren Alkohol, fand tatsächlich eine Flasche mit hochprozentigem Rum. Hektisch schraubte er den Deckel ab, goss etwas aus der Flasche über ein Tuch aus der Spüle und steckte es in den Flaschenhals. Wieder rannte er die Treppen hoch zu dem Fenster am Treppenabsatz. Er suchte das Feuerzeug in seiner Jackentasche, musste es dreimal drücken, bis es eine Flamme gab, dann hielt er mit zitternden Händen den rumgetränkten Lappen in die Flamme. Mit einem Mal flammte er blau auf. Carsten beugte sich aus dem Fenster, holte weit aus und schleuderte die Flasche in hohem Bogen über die Belagerer. Ein paar Schritte hinter ihnen schlug sie auf die Straße, zerbarst und setzte eine bläulich brennende Lache Alkohol frei. Der Effekt war weniger spektakulär, als Carsten erwartet hatte, und als Ablenkung auch weniger erfolgreich. Dennoch – ein paar Gestalten wandten sich um und den blauzüngelnden Flammen zu.

Carsten hastete die restlichen Stufen hinauf in den ersten Stock. Ein Schild neben der einzigen Tür auf diesem Stockwerk wies eine Frauenarztpraxis aus. Es brauchte drei Axthiebe, bis das Schloss nachgab und die Tür aufschwang. Schnell und wachsam durchschritt Carsten das Wartezimmer, suchte das nächste Fenster an der Rückseite des Hauses. Er öffnete es und blickte hinaus – es ging tiefer hinab, als er erwartet hatte. Dafür war die Gasse auf der Rückseite menschenleer – er hatte einen Ausweg gefunden.

Von unten schallte das Schlagen und Poltern zu ihm hinauf, dann ein Krachen und wilde Schritte, mit denen sie ins Bistro stürmten. Die Konservendosen, die er vor der Tür hatte stehen lassen, schepperten über den Boden. Den Sprung aus dem Fenster wollte er nicht wagen. Er suchte nach etwas, woran er sich herunterlassen konnte – ein Seil, ein Band, ein Tuch. Er entdeckte ein Verlängerungskabel, das den Computer der Rezeption mit Strom versorgt hatte. Er riss das Kabel unter dem Schreibtisch hervor und zog die angeschlossenen Stecker heraus, schlang es um das Rohr eines Heizkörpers und zurrte es fest so gut er konnte. Mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken hockte er sich auf die Fensterbank, packte das Kabel fest mit beiden Händen und rutschte rückwärts daran herunter; an der Kunststoffummantelung rieben sich seine Handschuhe auf. Als er mit den Händen an der Steckdose am Ende des Kabels hängen blieb, war es kaum noch ein Meter bis zum Boden. Carsten ließ sich fallen, kam auf der Straße auf, direkt vor der Stahltür des Hinterausgangs. Er sah sich schnell in alle Richtungen um, machte sich dann sofort auf den Weg weg von hier. Zehn Schritte rannte er. Dann verlangsamte er das Tempo und ging mit schnellen Schritten weiter; die Energie für einen Sprint musste er sich aufsparen. Im Gehen zog er wieder die Pistole.

Über ihm gewann die fahle Dämmerung immer mehr an Farbe. Plötzlich fiel ihm ein, woher er die Frau in Türkis kannte.