32

Als Carsten am nächsten Morgen in die Kantine kam, waren Sabine und Miriam schon mit ihren täglichen Arbeiten beschäftigt. Die Reste ihres Frühstücks standen noch auf dem Tisch; Carsten goss sich den Rest aus der Kaffeekanne in eine Tasse.

Mit dem Kaffee in der Hand suchte er zwischen den vielen Schlüsselbunden, die Sabine an Nägeln in der Wand der Kantine aufgereiht hatte, die Schlüssel für das Raubtierhaus. Dann machte er sich auf den Weg. Er wollte sichergehen, dass Sabine ihm die Wahrheit gesagt hatte und ihm nicht Gefahren verschwieg, von denen er wissen sollte.

Es war ein weiterer warmer Tag; die Sonne stand schon hoch am Himmel. In den Beeten vor dem Raubtierhaus nickte der Bambus. An der Eingangstür klebte ein Blatt Papier; ein schlechter Abzug einer vielfach kopierten Vorlage. Es zeigte das Warnzeichen für Ansteckungsgefahr und darunter die drei Buchstaben »RSD«. Carsten probierte zwei Schlüssel aus, bis er den passenden fand. Er betrat das Gebäude. Der Geruch von Raubtierurin schlug ihm scharf entgegen. Es war halbdunkel in dem großen Raum, Licht fiel nur durch die Glastüren der Eingänge an den Stirnseiten. Die Raubtiergehege waren vom Besucherbereich mit deckenhohen Scheiben aus Panzerglas abgetrennt. Carsten erinnerte sich daran, wie er hier früher Tiger, Löwen und Pumas in ihren weiß gefliesten Gehegen rastlos auf- und ablaufen gesehen hatte. Jetzt waren die Gehege leer. Alle. Blutspuren auf dem Boden gaben Carsten eine Ahnung davon, in welchem der Räume Sabine ihre Freunde getötet hatte.

Carsten konnte nicht umhin, an Markus zu denken; Markus, sein Schulfreund, der ihm so viele Zombiefilme gezeigt hatte. Der endlich mit Luisa verlobt gewesen war, dem Mädchen, in das er sich schon in der Oberstufe verliebt hatte. Markus, den er angerufen hatte, als er in seiner Wohnung von seinem Nachbarn belagert wurde und sich im Bad eingeschlossen hatte. Er war ihm sofort zu Hilfe gekommen, und kurz nachdem Carsten Herrn Pöhler die Schranktür über den Schädel geschlagen hatte, hatte er schon die Wohnung betreten. An der Schulter blutend. Beim Aussteigen aus seinem Auto war Markus gebissen worden, und Carsten hörte ihn in den Tagen danach immer wieder sagen: »Ich hab ihn einfach nicht gesehen; ich bin aus dem Auto gestiegen, und dann war er einfach da. Einfach so. Als ich ihn gesehen hab, war es schon zu spät«.

Carsten hatte seine Wunde notdürftig verbunden, dann hatten sie Herrn Pöhler in eine Decke gewickelt und in seine Wohnung getragen. Sie hatten noch mehrmals vergeblich die Notrufnummern probiert. Carsten hatte hektisch ein paar Dinge in seinen Trekkingrucksack gepackt. Dann hatten sie sich wieder in Markus’ Auto gesetzt, und weil klar war, dass der mit seiner verletzten Schulter nicht mehr fahren konnte, hatte Carsten sich an Steuer gesetzt.

Er fuhr zum Krankenhaus; sie verriegelten alle Türen, als sie erkennen mussten, wie sich das Chaos in den Straßen ausbreitete. Carsten musste mehrmals plötzlich ausweichen, weil Leute auf die Straße sprangen oder Autos auf seine Fahrbahn zogen. Noch bevor sie auf den Parkplatz des Krankenhauses einbogen, wurde ihnen klar, dass es hier noch gefährlicher war als im Rest der Stadt. Hier wartete keine Rettung.

Markus versuchte, Luisa zu erreichen, bekam aber nur die Meldung, dass das Netz überlastet war. Sie fuhren zu der Wohnung, in der Markus mit Luisa wohnte. Sie war zu Hause und schon ganz außer sich, weil sie Markus nicht hatte erreichen können, dann schockiert über seine Verletzung und erschüttert von den Geschichten, die sie von ihrem Weg zum Krankenhaus zu berichten hatten. Der Fernseher lief, und sie sahen in ständiger Folge Horrormeldungen darüber, wie um sie herum die Zivilisation zerlegt wurde.

Sie verschanzten sich für ein paar Tage zu dritt in der Wohnung, und während die Infektion in der Welt um sie herum immer schrecklicher wütete, zeigte sie sich auch immer stärker in Markus’ Verhalten. Er band sich selbst am Bett fest, um Luisa und Carsten vor sich zu schützen. Er forderte sie auf zu gehen, ihn zurückzulassen. Er wollte Carsten verbieten, Luisa zu ihm zu lassen, und irgendwann schließlich bat er Carsten darum, ihn zu töten. Nicht viel später war es soweit, dass er nur noch seine Sätze wiederholte, immer in der gleichen Formulierung. Er sagte nichts anderes mehr als: »Ich hab ihn einfach nicht gesehen; ich bin aus dem Auto gestiegen, und dann war er einfach da. Einfach so. Als ich ihn gesehen hab, war es schon zu spät«.

Carsten versuchte, die Erinnerung wegzuschieben. Er verschränkte die Arme vor dem Panzerglas des Raubtiergeheges, hinter dem Sabine ihre Freunde getötet haben musste. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Und Entscheidungen getroffen, die er sich nicht zugetraut hatte. Er ging wieder ans Tageslicht und schloss die Tür hinter sich ab.

Als Carsten zurück zum Verwaltungsgebäude kam, warteten Sabine und Miriam schon auf ihn.

»Wo warst du?«, fragte Sabine.

»Ich hab mich nur ein bisschen umgesehen.« Er steckte den Schlüssel zum Raubtierhaus beiläufig in seine Hosentasche.

»Hast du vergessen?«, fragte Sabine.

»Was denn?«

»Die Überraschung.«

»Die Überraschung …«, wiederholte Carsten unsicher.

»Komm«, sagte Sabine und lächelte.

Sabine und Miriam führten Carsten durch das Zoogelände. Miriam hatte Carsten bei der Hand genommen und schien genau zu wissen, was Sabine ihm präsentieren wollte.

Sie führten ihn in den Afrikateil des Tierparks; auch hier waren die meisten Gehege leer. Vor dem Zebragehege blieben Sabine und Miriam stehen. Drei Tiere trotteten durch das Gehege. Miriam sah Carsten erwartungsvoll an, offenbar gespannt auf seine Reaktion. Carsten wusste nicht, was ihn überraschen sollte.

»Na?«, fragte Sabine.

»Zebras?«, fragte Carsten ratlos.

»Sie ist trächtig, Carsten. Die eine Stute ist trächtig.« Sie zeigte auf eins der Tiere und tatsächlich, es hatte einen deutlich umfangreicheren Bauch als die anderen beiden Tiere.

»Die Geburt steht kurz bevor«, fügte Sabine hinzu. »Wir kriegen ein Baby, Carsten.« Sie strahlte. »Ein Zebrababy.«

Carsten begriff ihre Begeisterung noch immer nicht recht, und Sabine schien das zu erkennen.

»Das ist die erste Geburt nach der Infektion, Carsten. Trotz der Krankheit werden wir hier ein gesundes Fohlen zur Welt bringen.«

»Woher weißt du, dass es gesund sein wird?«

»Die Eltern sind immun. Vierzehn Tiere hatten wir hier. Drei haben überlebt, ein Hengst, zwei Stuten. Glaub mir, das Fohlen wird gesund sein. Es ist, wie ich es gesagt habe: Das Leben findet einen Weg.«

»Bleibt abzuwarten«, meinte Carsten skeptisch. »Und wenn das Fohlen überlebt – was soll das dann bedeuten?«

»Es ist ein Zeichen der Hoffnung, Carsten. Wenn es eine Stute wird, nenne ich sie Asha. Wenn es ein kleiner Hengst wird, heißt er Upenyu.«

»Upenyu«, wiederholte Miriam lächelnd.

Carsten sah Sabine fragend an.

»Das ist Swahili und heißt ›Leben‹.«

»Du sprichst Suaheli?«

Sabine schüttelte den Kopf. »Ich hab ein Wörterbuch in einem der Büros gefunden.«

»Wann ist es denn so weit?«, wollte Carsten wissen.

»Es kann jetzt jeden Tag so weit sein. Wenn ihre Zitzen anschwellen, dann wissen wir, dass es bald losgeht.«

»Und kannst du so was? Ein Zebra zur Welt bringen?«

»Das können die Zebras selbst am besten. Wahrscheinlich schafft die Mutter das ganz ohne unsere Hilfe. Wir sollten aber dabei sein, falls es zu Komplikationen kommt.«

Carsten nickte.

Während Sabine und Miriam sich wieder ihren selbstgewählten Aufgaben zuwandten, beschäftigte Carsten sich weiter mit den bohrenden Fragen in seinem Kopf, die ihm keine Ruhe geben wollten. Er suchte ein paar Schraubenschlüssel unterschiedlicher Größen aus einem Werkzeugkasten zusammen und machte sich auf den Weg zum Zaun. Er brauchte Antworten. Gern hätte er seine Pistole mitgenommen, aber die hatte er nicht wiedergesehen, seit er im Zoo aufgewacht war. Sabine danach zu fragen hätte zu Gesprächen geführt, die er vermeiden wollte. Er trug die klobige Axt in der Hand.

Er erreichte die Stelle am Zaun, zu der Sabine ihn geführt hatte. Carsten zog eine Gittermatte des inneren Zauns aus ihrem Zementfuß und trat zwischen die beiden Zaunreihen. Hinter sich schob er das Gitter wieder in den Sockel. Vor dem äußeren Zaun lagen die beiden Männer, die Sabine mit der Eisenstange getötet hatte. Und im Schatten an den Baum gelehnt saß immer noch die Frau, die Carsten hier schon beobachtet hatte, die Frau, der eine Ohrmuschel fehlte. Sie hatte ihr blutiges Mahl längst beendet, von dem Stumpf, an dem sie genagt hatte, war nur ein gelber Knochen übrig, der in ihrem Schoß lag. An einem Ende saß eine Gelenkkugel, das andere Ende war zersplittert. Carsten ging zu der blauen Kunststofftonne und zog die Arbeitshandschuhe über, die darauf lagen. Dann prüfte er, welcher Schraubenschlüssel die richtige Größe hatte, um die Klemmen zu lösen, mit denen die Gittermatten verbunden waren. Die übrigen legte er neben dem Zementfuß des Zauns ins Gras. Er löste die Schrauben. Die Frau im Schatten reagierte nicht auf seine Handlungen. Als er beide Klemmen gelöst hatte, hob er ein Gitter aus dem Zementfuß und schwenkte es so weit nach außen, wie der Stacheldraht auf der Krone des Zauns es zuließ. Dann wählte er seine Waffe: Er blickte zwischen der Axt und der rostigen Eisenstange hin und her. Für das, was er vorhatte, schien ihm die Stange besser geeignet. Er packte sie mit der behandschuhten Hand und trat zwischen den Zaungittern hindurch nach draußen. Der Gestank schien vor dem Zaun noch schrecklicher, obwohl Carsten durchaus klar war, dass das nicht sein konnte. Er schloss den Zaun hinter sich. Außer der Frau im Schatten konnte er kein Zeichen von Leben entdecken. Sein Experiment begann.

Er ging auf die Frau zu, die mit leerem Blick geradeaus starrte. Entweder war er ihr egal, oder sie war nicht mehr in der Lage, zu reagieren. Carsten hob einen dünnen Stock vom Boden auf und warf ihn der Frau entgegen, er landete auf ihren Schienbeinen. Ihr Blick fokussierte, sie griff nach dem Stock und hielt ihn vor ihr Gesicht, um ihn zu betrachten. Sie schien Carsten noch immer nicht zu registrieren. Er ging näher an sie heran.

»Hey«, sagte er. Seine Stimme war belegt.

Jetzt fuhr ihr Kopf zu ihm herum. Sie sah ihn an. Blut und Schmutz klebten auf ihrer blassen Haut. Carsten fragte sich, wie sie einmal ausgesehen haben mochte, bevor die Infektion ihr sogar ihren Blick genommen hatte. Ein kehliger Hauch entfuhr ihr.

»Na komm schon«, sagte Carsten herausfordernd. »Willst du mich, hm? Fressen? Oder schmeck ich dir nicht mehr?«

Die Frau stand auf. Ihr Körper schien zu beben. Sie machte zwei ungeübte Schritte auf ihn zu, als hätte sie verlernt zu gehen. Dann noch einen Schritt. Erst, als sie ihn schon fast erreicht hatte, hob Carsten die Hand und hielt sie mit der Eisenstange auf Abstand. Sie war nur zwei Armlängen von ihm entfernt. Sie fuhr mit den Armen durch die Luft zwischen ihnen, berührte seine Handschuhe, ihre Zunge streckte sich ihm entgegen. Sie drängte so kräftig vorwärts, dass die Eisenstange eine Kuhle in ihre Bauchdecke drückte. Carsten nahm die zweite Hand zu Hilfe, um die Eisenstange zu halten.

Sie wollte ihn. Fressen.

Carsten riss die Eisenstange rückwärts, um Schwung zu holen. Die Frau drängte ihm entgegen, und er stieß die Stange wieder nach vorne, trieb ihr den eisernen Spieß durch den Unterleib. Sie sank vor ihm ins Gras.

Ein weiterer Mord.

Carsten ging zum Zaun zurück, verschraubte die Klemmen wieder auf der Innenseite. Legte die Eisenstange und die Handschuhe auf der Tonne ab. Und schloss auch den inneren Zaun hinter sich.

Er saß im Dämmerlicht am Tisch in der Kantine, vor ihm die Flasche Whiskey und die Adressliste aus dem Klassenbuch.

Sein Experiment am Zaun hatte keine seiner Fragen beantwortet. Nicht, wie er unbeschadet hergekommen war. Nicht, ob er infiziert war oder nicht. Was er getan hatte, war völlig ergebnislos. Er würde niemals ein Wort darüber verlieren.

Er blickte auf den Computerausdruck. Elf rote Linien durch elf Kindernamen, Miriams Name eingerahmt und ein weiterer Name auf der Liste, der keine Markierung trug: Jakob Schäfer. Ein kleiner Junge, den sein Großvater jeden Tag von der Schule abgeholt hatte.

Sabine trat von hinten an ihn heran, und als wären sie sehr vertraut miteinander, berührte sie ihn sanft am Rücken und schaute ihm über die Schulter. Carsten spürte, wie sich seine Muskeln anspannten.

»Ich weiß genau, was du denkst«, erklärte sie.

»Wollen wir wetten?«, fragte Carsten und entspannte sich wieder, als sie ihre Berührung auflöste. Sie ging um den Tisch herum und setzte sich ihm gegenüber hin.

»Du denkst: Irgendwo da draußen sitzt vielleicht ein kleiner Jakob, und du bist der Einzige, der ihm helfen kann. Und wenn du es nicht tust, dann tut es keiner.«

Carsten sah sie an.

»Du fragst dich, was aus dir wird, wenn du ihn findest, und was aus dir wird, wenn du ihn nicht findest. Und vor allem: was aus dir wird, wenn du es nicht versuchst. Aber du hast auch Angst davor, dass du den letzten Punkt auf deiner Liste abarbeitest und dann gar nichts mehr zu tun hast. Deshalb überlegst du, ob es vielleicht besser wäre, diese Aufgabe für immer unabgeschlossen zu lassen.«

»Ganz guter Versuch«, gab Carsten zu.

»Das Gute ist«, erklärte Sabine, »dass du nicht weiter nachdenken musst, weil ich dir einfach sagen werde, was zu tun ist.«

»Das wird dir langsam zur Gewohnheit, was?«, meinte Carsten.

Sie schmunzelte. »Natürlich werden wir nach ihm suchen«, sagte sie. »Schon alleine, weil du sonst nie aufhören kannst, darüber nachzudenken.«

»Das wäre ein äußerst selbstsüchtiger Grund.«

»Dadurch wird die Sache an sich ja nicht schlecht«, erklärte Sabine.

»Ich dachte, du hältst das alles für Quatsch, was ich mache?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich mache das nur, um eine Aufgabe zu haben«, zitierte Carsten.

Sabine sah ihn nachdenklich an, als könnte sie ihm nicht recht folgen. Sie nickte langsam.

»Wenn ich das nur mache, um eine Aufgabe zu haben, kann ich es ja genauso gut auch lassen.«

»Was ist das denn für ’ne Logik?«, entgegnete Sabine. »Warum du was machst, ändert doch am Ergebnis nichts. Außerdem ist es doch auch schön, wenn du was machst, damit es dir gut geht. Ist doch fein, wenn es dir gut geht. Und wenn du nur noch machst, was getan werden muss? Carsten, es muss halt nix mehr getan werden. Ich meine – ich versorge die Tiere hier. Muss das getan werden? Ich glaube kaum. Mache ich das, um etwas zu tun zu haben? Ich glaube schon. Würde es den Tieren ohne mich schlechter gehen? Mit Sicherheit! Es ist doch schön, wenn es denen gut geht. Trotzdem muss niemand für die sorgen. Und genauso ist das mit deinen Schülern. Finde ich jedenfalls.«

Carsten sah sie zögerlich an.

»Und deshalb gehen wir deinen kleinen Jakob suchen«, folgerte Sabine. »Damit’s dir und ihm gut geht. Das reicht ja wohl als Grund.«

»Nehmen wir an, ich gehe ihn suchen«, sagte Carsten, »wie sollte ich ihm helfen? Abgesehen davon, dass er wahrscheinlich längst …«

Weg, krank oder tot ist, wollte Carsten sagen, doch er konnte sich nicht überwinden, es auszusprechen.

»Ich hätte ihm nichts anzubieten«, sagte er stattdessen. »Du hast mich davon überzeugt, dass es keinen sicheren Ort mehr gibt, wo sollte ich also mit ihm hin?«

»Ich?«, fragte Sabine verblüfft. »Davon habe ich dich auch noch überzeugt? Wie habe ich das denn gemacht?«

»Auf jede Idee, auf die wir kommen könnten, ist vor uns jemand anders gekommen, hast du gesagt. Und egal, wohin wir gehen, die Krankheit war schon vorher da. Das hat mich überzeugt.«

»Und deshalb willst du nicht nach Jakob suchen?«

Carsten zog die Schultern noch.

»Du bringst ihn natürlich hierher, zu uns. In den Zoo.«

»Hierher?«

Sabine nickte.

»Bei Miriam hat es funktioniert«, meinte Sabine und deutete mit dem Kopf zur Schlafstätte des Mädchens.

»Was hat funktioniert?«, fragte Carsten.

»Du hast sie rechtzeitig gefunden, und du hast sie in Sicherheit gebracht.«

»Ich habe sie …«, Carsten unterbrach sich, schüttelte den Kopf und machte eine Pause, um seine Wörter zu sortieren. »Ich habe sie nicht rechtzeitig gefunden, sie ist wahrscheinlich längst infiziert, weil sie das Leitungswasser getrunken hat. Ich hab sie nicht in Sicherheit gebracht, sondern ich hab sie fast in den Tod geführt. Und dann ist sie mit mir hierhergekommen, in den Zoo, wo sie Pinguine füttert und mit zwei Erwachsenen lebt, die beide schon gebissen wurden. Das ist keine erfolgreiche Rettungsaktion, Sabine, ganz und gar nicht.«

»Hast du mal überlegt, was ohne dich aus ihr geworden wäre?«, gab sie zurück und klang bei weitem nicht so amüsiert wie sonst. Als sie weitersprach, flüsterte sie, ihre Stimme wurde leise, aber nicht weniger energisch. »Sie würde immer noch da oben sitzen auf ihrem Dachboden ganz alleine. Ein kleines Mädchen, das nicht weiß, wo seine Eltern sind, ganz alleine eingesperrt auf einem Dachboden. Und die Vorräte würden ihr ausgehen, und sie würde ganz bestimmt nicht weniger von deinem bescheuerten Leitungswasser trinken. Glaubst du im Ernst, dass es ihr besser gehen würde, wenn du sie nicht gefunden hättest? Das kannst du doch nicht ernsthaft glauben.«

Carsten sah sie schweigend an.

Sie sprach weiter. »Okay, es ist vielleicht nicht ideal. Aber bisher ist keiner von uns beiden krank geworden und sie auch nicht. Und sterben müssen wir alle mal, ob wir jetzt vorher krank werden oder nicht. Es passiert eben das, was passiert. Die Welt ist jetzt so, wie sie ist, und eine bessere wirst du ihr nicht bieten können. Weder ihr noch deinem kleinen Jakob.«

Sabine sah ihn an. Vielleicht wartete sie darauf, dass er etwas sagte, aber er wusste nicht, was. Schließlich stand sie auf und sagte: »Ich hole mir ein Bier. Willst du auch?«

Carsten schüttelte den Kopf. Sabine verschwand in den Nebenraum, Carsten hörte einen Kronkorken zischen. Mit der Bierflasche in der Hand kam sie zurück zum Tisch.

»Ich weiß nicht, wie wahrscheinlich es ist, dass wir ihn finden«, sagte sie ruhig. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du nie aufhören wirst, darüber nachzudenken, wenn du es nicht versuchst.«

Carsten gab keine Antwort.

Sie zeigte auf Jakobs Adresse. »Das ist nicht weit von hier. Wir nehmen die Fahrräder. Halbe Stunde hin, halbe Stunde da, halbe Stunde zurück. Und dann bist du mit deiner Liste fertig. Entweder wir finden ihn, dann Hurra. Oder wir finden ihn nicht, aber dann musst du dir wenigstens keine Gedanken mehr machen. Du kannst nur gewinnen. Was soll passieren?«

»Wir könnten sterben, Sabine.«

»Im Leben ist nichts umsonst.«

Bevor er schlafen ging, sah er wie jeden Abend nach Miriam. Das Mädchen war wach, als er sich neben ihre Liege hockte.

»Hey«, sagte er sanft, »du bist ja wach.« Er sah an ihren Augen, dass sie geweint hatte. »Hast du unser Gespräch mit angehört?«

Miriam schluchzte leise. Ihr kleiner Körper bebte unter ihrer Decke.

»Ist schon gut«, sagte Carsten. »Du musst nicht weinen.«

»Wenn Sie gehen«, sagte sie zögerlich, »kommen Sie vielleicht nicht zurück. Und Sabine auch nicht.«

Jetzt schüttelte das Weinen ihren Körper, sie verbarg ihr Gesicht hinter einem Zipfel ihrer Decke.

»Keine Angst«, versuchte Carsten, sie zu beruhigen, »ich komme ganz bestimmt wieder. Ich komme immer wieder.«

Er streichelte ihr über den Kopf. Miriam sah ihn mit ihren riesigen Augen an. Er wusste, was sie dachte, auch wenn sie es nicht aussprach: »Das haben Mama und Papa auch gesagt.«