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Sein Weg zur Hauptstraße führte ihn an einem italienischen Bistro vorbei, in dem er mit Carla früher oft gegessen hatte. Die Stühle der Außengastronomie lagen wie große, umgestoßene Kegel wild verteilt vor dem Eingang. Die verblühten Köpfe der Kletterrosen rechts und links von der großen Drehtür hingen schwer und kraftlos herunter. Carsten hob einen Stuhl auf und stellte ihn an einen Tisch, als könnte er die Welt damit ein bisschen aufräumen.

Carsten hatte hier immer das Gleiche bestellt: Pizza mit Schinken und Peperoni. Carla hatte fast jedes Mal etwas anderes probiert. Danach hatten sie immer einen Espresso getrunken, und Carla hatte jedes Mal ein Glas Leitungswasser dazu bestellt. Carsten nie. Ihm war es immer unangenehm gewesen, in einem Restaurant etwas zu bestellen, das nichts kostete. Er hatte sich sogar ein bisschen geschämt; sich vor der Kellnerin dafür geschämt, dass Carla ihr kostenloses Wasser bestellte, und vor sich selbst dafür, dass ihm das unangenehm war. Er steckte zwei Espressobohnen aus seiner Jackentasche in den Mund und zerbiss sie. Mit Nathalie war er nie hergekommen. Dieses Restaurant gehörte Carla und ihm. Jetzt waren kräftige Kanthölzer vor die Drehtür genagelt.

Wenige Schritte von den herumliegenden Stühlen entfernt entdeckte Carsten eine Markierung auf der Straße. Ein Wort stand dort wie Graffiti auf den Asphalt gesprüht: »Sicherheit«. Daneben wies ein Pfeil nach Süden.

Carsten blickte unschlüssig auf die Buchstaben hinab. Er zog den Rucksack höher auf die Schultern.

Es gab keine Möglichkeit zu erkennen, wie lange diese Buchstaben hier schon geschrieben standen. Wer immer sie hinterlassen hatte, wollte gesunde Überlebende zu sich rufen, Überlebende versammeln.

Wollte Carsten das? Sich rufen lassen?

Er erinnerte sich an die Tage, die er in der Universität verbracht hatte, und daran, wie elend es enden konnte, wenn sich Überlebende zusammenschlossen. An das Misstrauen, mit dem sie sich gegenseitig beobachtet und auf Anzeichen der Krankheit geprüft hatten. An das leere Gefühl, mit dem die Hoffnung zugrunde geht. Er blickte die Straße hinunter. Es waren nur ein paar hundert Meter bis zur Hauptstraße, auf der er seine Wanderung nach Osten beginnen wollte. Dann sah er in die entgegengesetzte Richtung, in die der gesprühte Pfeil zeigte. Er seufzte. Schaltete das Navigationsgerät ab. Zog die Pistole aus dem Gürtel. Und folgte dem Pfeil nach Süden.

Markierungen auf der Straße und an Hauswänden führten ihn zum Innenstadtring, einer vierspurigen Straße, die das Zentrum auf der Linie der alten Stadtbefestigungen umschloss. Carsten lief in der Mitte der Fahrbahn; so konnte er zwar leicht entdeckt werden, aber nicht aus Hauseingängen, durch Hecken oder über Mülltonnen hinweg überrascht werden.

Die Straße lag ausgestorben vor ihm. Kein Verkehrslärm. Keine Vögel sangen. Leere Autos, mit denen niemand geflohen war, standen in langen Reihen am Straßenrand.

Die gesprayten Markierungen führten ihn vorbei an den Monumenten seiner Stadt, am Opern- und am Schauspielhaus. Er verließ den Innenstadtring und folgte den Markierungen nach Süden auf die S-Bahn-Gleise zu.

Jetzt nahm er eine Bewegung wahr. In einiger Entfernung erkannte er eine Gestalt in einem langen schwarzen Mantel. Sie näherte sich auf der Straße schwerfällig und mit unrhythmischen Bewegungen. Carsten hielt die Pistole bereit, doch je näher die Gestalt kam, desto deutlicher sah er, wie langsam sie sich vorwärtsschleppte; sie würde keine Gefahr darstellen. Er steckte die Pistole wieder ein und zog die Axt aus dem Gürtel. Lärm vermeiden. Munition sparen.

Es war eine Frau mit langem, dichtem, vollständig ergrautem Haar. Sie hüpfte auf einem Bein vorwärts und zog das andere nach wie lästiges Gepäck. Der Fuß des lahmen Beins war zurückgebogen, der Fußrücken schleifte über den Asphalt und hinterließ eine feine, feuchte Spur auf der Straße.

Carsten verzog angewidert das Gesicht. Er dachte an den jungen Mann im Untergeschoss des Kaufhauses, dem er vor wenigen Stunden den Schädel gespalten hatte, und seinen herausstehenden Oberschenkelknochen. Das Schmerzempfinden setzte im späteren Verlauf der Krankheit völlig aus. Das machte es so schwierig, sie aufzuhalten, ohne sie umzubringen. Ständiger Hunger, gepaart mit ungezügelter Aggression ohne Vernunft, ohne Angst und ohne Schmerzen, ließ sie erschreckend zielstrebig und nahezu unaufhaltsam sein, solange sie ein Ziel vor Augen hatten. Sie zu töten war nicht sonderlich schwierig – man musste weder ihren Kopf abschlagen noch ihr Gehirn zerstören, um sie umzubringen. Was einen gesunden Menschen umbrachte, tötete auch einen kranken.

Jetzt entdeckten ihn ihre trüben Augen. Ihr Blick war leer. Die Mundwinkel hingen weit herab, formten ihren Mund zu einem schlaffen Maul. Sie drehte den Rumpf in seine Richtung und streckte langsam die Arme vor. Ihr Kiefer klappte herunter, dem Mund entfuhr ein feuchtes Gurgeln. In verlangsamten Greifbewegungen krallten ihre Finger in die Luft. Die traurige Karikatur eines Menschen. Verwitterte Mauern eines Hauses, in dem niemand mehr wohnt.

Carsten ging in sicherem Abstand an ihr vorbei und ließ sie bald hinter sich. Er überließ sie ihrem Schicksal. Sie würde sterben. Früher oder später starben sie alle; die Krankheit endete immer tödlich. War das ganze Hirn zerfressen, lagen die ausgemergelten Körper ohne Bewusstsein in den Straßen, gerade noch atmend und mit pumpendem Herzen, solange die Muskeln Energie hatten. »Enthirnungsstarre« war das Wort dafür. Carsten hatte es sogar lustig gefunden, als er es zum ersten Mal gelesen hatte. Bevor er gesehen hatte, was es bedeutet.

Als er zu ihr zurückblickte, sah sie traurig aus.