18
Als Kind hatte Carsten oft Indianer gespielt. Er hockte hinter ein Auto geduckt auf dem Bürgersteig einer Seitenstraße. Familie Keller wohnte in dieser Straße, oder hatte gewohnt. Genau das wollte Carsten herausfinden. Schon von weitem hatte er die Geräusche ungeschlachter Bewegungen gehört und sich herangeschlichen, so vorsichtig er konnte. Über die Motorhaube hinweg beobachtete er zwei junge Männer in einem Vorgarten unter einem großen Kastanienbaum.
Sie sprangen immer wieder aus dem Stand in die Höhe und kamen plump auf beiden Füßen auf. Die Anstrengung ließ sie keuchen. Sie bemühten sich vergeblich, die Leiche eines Mannes zu erreichen, der an einem Strick um seinen Hals in der Krone des Kastanienbaumes hing, gerade außerhalb ihrer Reichweite. Sein Hals war skurril in die Länge gestreckt, die dunkle Zunge aus dem Mund des verwesenden Gesichts gequollen. Die Hosenbeine und seine Wadenmuskeln waren schon in blutige Streifen gerissen, ein Fuß fehlte.
Einer der Männer war ganz in Schwarz gekleidet, der andere nackt bis auf eine schmutzige Jeans. Für die Axt waren die beiden zu gefährlich. Noch zu schnell, zu koordiniert, viel zu kräftig. Schießen war ebenfalls zu riskant. Carsten wollte nicht noch mehr von ihnen anlocken. Doch die beiden waren so auf die Leiche im Baum fixiert, dass es ihm gelingen sollte, unbemerkt an ihnen vorbeizugelangen.
In der Deckung parkender Autos schlich Carsten weiter, tief über den Boden geduckt. Er erreichte den Vorgarten von Familie Keller und bewegte sich vorsichtig den Weg entlang zur Haustür. Er warf einen Blick zurück auf die gegenüberliegende Straßenseite: Die beiden jungen Männer hatten in ihren Versuchen, die Beute im Baum zu erreichen, nicht nachgelassen.
Die Haustür stand offen. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Carsten schob den Axtstiel unter seinen Gürtel und zog die Pistole. Noch immer in der Hocke bewegte er sich vorsichtig und langsam über die Schwelle in den engen Flur. Der Gestank von faulendem Fleisch ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Carsten zog die Arme aus den Riemen des Rucksacks und ließ sein Gepäck zu Boden gleiten. Mit dem Fuß schob er langsam die Haustür zu, bis sie angelehnt war.
Ein Schuhschrank war das einzige Möbelstück im Flur. Darauf stand ein Telefon, darüber hingen zwei gerahmte Fotos an der Wand: Herr und Frau Keller, der Orthopäde und die Dramaturgin, an der Reling eines kleinen Segelboots. Auf dem anderen Bild Regina, das kleine Mathematikgenie, mit einem Tretroller auf einer Terrasse. Sie schaute nach rechts aus dem Bild hinaus, als sei sie im Augenblick der Fotografie abgelenkt worden.
Drei Türen gingen vom Flur ab und führten tiefer ins Haus. Carsten erhob sich langsam aus der Hocke, blieb geduckt und näherte sich mit vorgehaltener Waffe der nächsten Tür. Sie stand weit offen.
Schon im Flur hörte Carsten die Fliegen summen. Durch die Tür sah er in die Küche. Der kleine Raum war verwüstet. Ein Schrank war umgestürzt, was darin gestanden hatte, lag zerschlagen und zersplittert über den Fliesenboden verteilt.
Inmitten des Chaos lag ein Golden Retriever, offenbar schon länger tot. Glänzende Fliegen saßen zu Dutzenden auf seiner eingetrockneten Nase.
Carsten schloss die Tür und wandte sich der nächsten zu. Sie war angelehnt, ins weiße Türblatt war eine große Milchglasscheibe eingesetzt. Carsten drückte die Tür langsam auf; der Raum war hell. Fliegen summten. Ein großes Wohnzimmer mit Panoramafenster, eine Treppe führte in den ersten Stock. Carsten legte den Arm vors Gesicht, drückte die Nase in die Ellenbogenbeuge; der Gestank war kaum zu ertragen.
Am Fuß der Treppe lag Herr Keller. Sein linker Fuß ruhte auf der zweiten Treppenstufe, als sei er rückwärts heruntergestürzt. Bis auf Boxershorts war er nackt, und sein Körper hatte sich an vielen Stellen dunkel verfärbt. Er war von trockenem Blut und Fliegen umgeben. Carsten trat näher heran. Seine Hände waren zerschnitten, die Brust zeigte zwei offene Wunden. Unter seinem Kinn ragte der Griff eines Küchenmessers hervor; die Klinge war durch den Unterkiefer eingedrungen, die Messerspitze aus der linken Wange wieder ausgetreten. Seine Augen standen offen; in den trockenen Augäpfeln verlief eine rotbraune Linie von Augenwinkel zu Augenwinkel. Auf seiner Lippe krochen Fliegenmaden.
Carsten wandte die Augen ab und sah sich im Rest des Raumes um. Dann setzte er behutsam die Füße neben den toten Orthopäden, um die Treppe zu erreichen, ohne ihn zu berühren. Auch der hölzerne Handlauf war mit dunkel getrocknetem Blut beschmiert. Die Stufen knarrten leise unter jedem seiner Schritte. Im ersten Stock lag ein weiterer Flur vor ihm.
Drei weiße Türen. Auf einer stand »Regina« in bunten Buchstaben, eine andere Tür war halb geöffnet; auf ihr befand sich der Abdruck einer blutigen Hand.
Carsten lauschte. Er versuchte, seine Füße lautlos auf den Teppichboden zu setzen. Drei Schritte, um die halb geöffnete Tür zu erreichen. Vor der Tür lauschte er erneut, dann trat er seitwärts in den Raum.
Frau Keller, Reginas Mutter, die Dramaturgin. Bäuchlings lag sie auf dem Ehebett in einem geräumigen Schlafzimmer mit Fenstern zur Straße, das Gesicht von Carsten abgewandt. Ihr dunkles Haar fiel verknotet und wirr über die Bettdecke, auf der sie lag. Sie trug weiße Unterwäsche und ein graues Männerhemd.
Carsten atmete aus. Wenn beide Eltern tot sind, was würde ihn in Reginas Zimmer erwarten?
Der Kopf der Frau zuckte; Carsten fuhr zusammen. Sie gab ein Geräusch zwischen Raunen und Stöhnen von sich, brachte die Arme unter den Oberkörper und drehte das Gesicht zu Carsten. Blass und kraftlos sah sie zu ihm herüber.
»Wie spät ist es?«, fragte sie mit zerbrechlicher Stimme.
»Ehm …«, stammelte Carsten perplex. »Halb fünf … gleich. Frau Keller, ich …«
»Wie spät ist es?!«, wiederholte sie eindringlich und schnitt Carsten damit das Wort ab. Carsten wusste nichts zu sagen. Sie bemühte sich, den Körper von der Matratze zu heben, aber die Arme knickten unter ihrem Gewicht ein, sie kippte vornüber mit den Schultern ins Kopfkissen. Carsten konnte sehen, dass ihre Zunge wild im Mund herumfuhr. Er trat einen Schritt näher zum Bett.
»Wie spät ist es?!«, fragte sie noch einmal und sah Carsten dabei unverwandt an. »Wie spät ist es?« Ihre Augenbrauen zogen sich zueinander, und ihre Stimme klang immer verzweifelter. »Wie spät ist es?! WIE SPÄT IST ES?!«
Noch einmal versuchte sie, auf alle viere zu kommen. Die Zunge streckte sie dabei weit aus dem Mund. Wieder kippte sie vornüber. Carsten streckte die Hände vor, zwei Schritte von ihr entfernt, war aber völlig unschlüssig, was zu tun sei. »Wie spät ist es? WIE SPÄT IST ES?!« Verzweiflung verzerrten ihr Gesicht und ihre Stimme. Noch einmal stürzte sie aufs Bett. »WIE SPÄT IST ES?!« Sie ließ Carsten nicht aus den Augen.
Alles in ihm zog sich zusammen. Er sah die engagierte Dramaturgin vor sich, sah die BSE-Rinder im Fernsehen und das kranke Pferd in der Nebenstraße.
Sie begann zu schreien: »WIE SPÄT IST ES?!!! WIE SPÄT IST ES?!!!« … Sie schrie und schrie und schrie.
Carsten riss die Pistole hoch und feuerte, drei Schüsse, schnell hintereinander.
Er keuchte. Seine Augen brannten, es rauschte in seinen Ohren. Die Wucht der Schüsse hatte Frau Keller vom Bett gerissen. Ihr Blut war bis auf die Fensterscheiben gespritzt. Carsten stützte die Hände auf seine Knie.
Niemals unüberlegt handeln, ermahnte er sich. Nur deshalb hatte er so lange überlebt. Solche Fehler durften nicht passieren, er durfte sich nicht übermannen lassen, nie! Weder von Angst, noch von Ekel, noch von Mitgefühl.
Dann schnelle Schritte von der Straße, immer näher, Fensterscheiben klirrten, und es polterte im Erdgeschoss. Jetzt waren sie im Haus. Die beiden Männer vom Kastanienbaum. Carsten schluckte. »Hab sie gestern mal ausprobiert. Schießt sich gut«, echote es in seinem Kopf. Er hatte die Pistole nicht geladen, seit Jens damit geschossen hatte. Ob der Waffennarr die Pistole selbst nachgeladen hatte? Wo waren die Magazine, die er von ihm bekommen hatte? Im Rucksack. Der stand unten im Flur. Wie konnte ihm das passieren? Er spürte seinen Herzschlag im Rachen. Wie viele Patronen waren noch im Magazin? Gerade hatte er dreimal geschossen …
Poltern aus dem Erdgeschoss, dann Knurren, kaum menschlich. Er ahnte, was jetzt im Erdgeschoss mit der Leiche des Orthopäden geschah. Die Vorstellung ließ ihn erschaudern, doch es würde ihm zumindest etwas Zeit verschaffen. Carsten kontrollierte die Munition in der Waffe: Zwei Kugeln waren übrig. Zwei Kugeln, zwei Angreifer. Und er war ein miserabler Schütze. Er suchte einen Fluchtweg: Durch das Fenster auf die Straße? Oder war das zu hoch?
Carsten schlich zum Fenster und hielt die Augen von Frau Kellers totem Körper abgewandt. Als er die Hand nach dem Fenstergriff ausstreckte, bemerkte er, wie stark er zitterte. So leise er konnte, öffnete er ein Fenster und spähte nach unten. Es war hoch. Sehr hoch. Und unten gab es kein Gebüsch, keine Möglichkeit, den Sturz abzufangen. Er würde den Sturz überleben, aber wenn er sich ein Bein brach? Sie würden ihn auf jeden Fall hören, und dann würden sie ihm nachsetzen. Sein Atem ging schnell und flach. Er drehte sich wieder zur Tür, schloss beide Hände um die Waffe. Verstecken? Noch konnten sie nicht wissen, dass er hier oben war. Die Schüsse hatten sie ins richtige Haus geführt, aber sicherlich konnten sie sie nicht ins richtige Zimmer führen. Vielleicht würden sie sich an der Leiche des Orthopäden laben und dann wieder gehen. Würden sie wieder verschwinden, wenn sie ihn nicht fanden? Oder konnten sie ihn riechen? Frau Kellers frisches Blut, das er im Raum verspritzt hatte?
Kämpfen, fliehen oder verstecken? Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe. Entscheide dich!
Carsten öffnete den großen Kleiderschrank und zwängte sich zwischen Hosen, Hemden und Kleiderbügel. Das gelang ihm nicht so leise, wie er gehofft hatte; der Axtstiel in seinem Gürtel war ihm im Weg. Er zog die Tür zu, aber sie wollte nicht geschlossen bleiben. Die Schritte kamen näher. Von innen konnte er die Schranktür nicht richtig packen; er musste die Fingerspitzen gegen eine Holzleiste auf der Innenseite der Tür pressen, um sie zu bewegen, und schaffte es so gerade eben, die Tür wieder zu schließen. Jetzt kauerte er in der Dunkelheit des Kleiderschranks und hielt seine Finger gegen die Leiste gedrückt, damit die Tür geschlossen blieb.
Einer der beiden Männer betrat den Raum. Carsten konnte ihn nicht sehen. Er konnte gar nichts sehen. Aber er hörte das schwere, raue Atmen. Carsten traute sich nicht, Luft zu holen. Er hörte, wie der Mann sich mit zwei schnellen Sätzen auf den Körper von Frau Keller stürzte. Carsten erschauderte vor der Mischung aus Knurren, Schmatzen, Reißen und den feuchten Geräuschen, die der tote Körper von sich gab.
Carsten musste lange zuhören. Er atmete flach in dem Bemühen, kein Geräusch von sich zu geben. Seine Fingerspitzen wurden taub unter dem Druck gegen die Holzleiste. Er hatte sich falsch entschieden. Er hätte versuchen sollen zu fliehen. Dann hätte er zumindest eine Chance gehabt.
Dann verlor er den Griff an der Holzleiste. Die Tür kippte lautlos vorwärts, öffnete sich eine Handbreit. Carsten hielt den Atem an. Er sah den Mann im schwarzen T-Shirt über Frau Keller kauern, den Kopf wie eine Hyäne in ihre Eingeweide vergraben. Magensäure stieg ihm in den Mund. Vorsichtig streckte er die Hand aus, um die Tür wieder zu schließen. Er presste seine Fingerspitzen gegen die Leiste und zog, doch er rutschte ab. Der Kopf des Mannes schnellte hoch. Die Tür stand eine Handbreit auf. Carsten griff noch einmal zu und zog die Tür heran. Er kniff die Augen zu und lauschte. Jetzt wünschte er sich, das Schmatzen und Kauen wieder zu hören, das ihn noch vor Sekunden so angewidert hatte. Doch es setzte nicht wieder ein. Stattdessen hörte er, wie der Mann sich erhob und Schritte in seine Richtung machte. Dann ein Stoß gegen die Schranktüren. Carsten hielt die Luft an. Er saß in der Falle. Noch einmal stieß der Mann gegen die Türen. Beim dritten Stoß brach eins der Scharniere, die Tür kippte in den Schrank, schlug auf Carstens Schädel. Carsten feuerte, feuerte durch die Schranktür die beiden Schüsse, die ihm blieben. Er hörte, wie der Mann vor den Schranktüren zusammenbrach. Und hörte den anderen Mann die Treppe heraufrennen.
Carsten warf sich aus dem Schrank ins Zimmer, machte einen Satz zur Tür und schlug sie zu. Ein Schlüssel steckte im Schloss, Carsten drehte ihn. Er riss an der Kante des Kleiderschranks, um das schwere Möbelstück vor die Tür zu kippen, doch der Schrank rührte sich nicht. Mit einem dumpfen Schlag warf sich der Angreifer von draußen gegen die Tür. Carsten wich zurück, rückwärts Richtung Fenster. Schon beim zweiten Stoß barst die Tür aus dem Schloss und sprang auf; der blutbeschmierte junge Mann stürzte in den Raum und auf Carsten zu, das Gesicht eine Fratze aus Hass, Gier und Blut. Carsten hörte sich selbst winseln. Zwei Schritte zwischen ihm und dem Mann. Weg! Er drehte sich um und sprang aus dem Fenster, verlor noch im Sprung die ungeladene Pistole. Als er aufkam, fuhr ein reißender Schmerz in seinen rechten Knöchel. Er stürzte auf die Seite, die Brille fiel ihm aus dem Gesicht, und der Axtstiel drückte ihm schmerzhaft in den Bauch.
Er drehte sich um und sah hoch zum Fenster; sein Angreifer warf sich lang ausgestreckt hinaus, ihm hinterher. Carsten rollte sich zur Seite. Der junge Mann stürzte mit einem widerlichen Geräusch auf den Plattenweg.
Carsten kroch rückwärts, um Abstand zu gewinnen, zog dabei die Axt unter dem Gürtel hervor und versuchte, auf die Beine zu kommen. Sein Verfolger versuchte ebenfalls, sich aufzurichten; der Sturz hatte ihn verlangsamt. Carsten stand als Erster, auf den Axtstiel gestützt. Sein rechtes Bein schmerzte, Wegrennen kam nicht in Frage. Sekundenbruchteile zum Entscheiden.
Bevor der junge Mann sich vollständig aufrichten konnte, sprang Carsten mit einem wilden Schrei vorwärts und schmetterte ihm die Axt durchs Schlüsselbein tief in die Schulter. Der grölte laut auf und griff nach Carsten, nur der eine Arm gehorchte ihm noch. Er packte Carstens Gürtel und zog ihn zu sich heran. Carsten stemmte sich mit aller Kraft dagegen, riss das Axtblatt frei und schlug ein zweites Mal zu, hieb in den Hals seines Gegners. Durch den Stiel spürte er Sehnen und Knochen unter dem Axtblatt knirschen. Er befreite die Axt, der Mann kippte mit einem stimmlosen Gurgeln nach hinten, Carsten taumelte zurück, der Axtstiel glitt ihm aus den Händen. Er fiel und blieb im kniehohen Gras des Vorgartens sitzen. Der Mann rührte sich nicht mehr.
So laut … die Schreie und die Schüsse. Wie viele würde das anlocken? Wie eine Lawine stürzte alles auf Carsten ein, Angst, Erleichterung und wildes Entsetzen, als sich die Szenen vor seinem inneren Auge wiederholten.
Er packte Brille, Axt und Pistole, schleppte sich ins Haus, schlug die Haustür hinter sich zu und kauerte sich dahinter auf dem Boden zusammen, die Arme um die Knie geschlungen, die Augen fest geschlossen.