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Er wachte davon auf, dass ihm der Rachen brannte. Er schluckte, und alles in seinem Hals fühlte sich rau und wund an. Er musste mehrmals blinzeln, bis er klar sehen konnte. Er lag auf einem unbequemen Bett in einem Raum mit unverputzten Wänden aus grauen Betonsteinen.
Carsten setzte sich auf und sah sich langsam um. Es war doch kein Bett, auf dem er lag, sondern eine Campingliege. Sie knarrte, als er sich bewegte. Zugedeckt war er mit seiner grauen Wolldecke. Sie roch nach altem Schweiß. Am Fußende der Liege lehnte sein Rucksack an der Wand. Unwirklich und verschwommen kam die Erinnerung an den Supermarkt wieder. Das Dach, von dem er sich mit blutenden Wunden geschleppt hatte.
Miriam!
Sein Atem wurde schnell und hektisch. Er versuchte, sich zu beruhigen und die Erinnerungen wieder zu verbannen. Als sich seine Atmung etwas normalisiert hatte, schlug er die Decke zur Seite und sah an sich hinab. Er trug nur die Boxershorts. Seine rechte Hand, die Schulter und der Hals waren mit Mullbinden verbunden. Er versuchte aufzustehen, aber dabei wurde ihm so schwindelig, dass er sich zurück auf die Liege fallen ließ. Er lehnte den Rücken an die kühle Wand. Der Raum lag im Halbdunkel. Es gab zwei schmale Fenster direkt unter der Decke, sie waren von innen mit Brettern verbarrikadiert. Große Schraubenköpfe standen weit aus dieser groben Handwerksarbeit heraus.
Neben seinem Lager entdeckte er eine Flasche Mineralwasser. Er prüfte das Abfülldatum und die Versiegelung des Deckels, bevor er sie öffnete, dann trank er dankbar mit tiefen Schlucken die halbe Flasche aus und spülte den Blutgeschmack aus seiner Kehle. Die Flüssigkeit vermochte den Schmerz in seinem Rachen ein wenig zu lindern.
Er blieb noch einige Minuten mit der Wasserflasche in der Hand auf der Campingliege sitzen und wartete darauf, dass der Schwindel nachließ. Er versuchte, seine Gedanken und Erinnerungen zu ordnen, doch es fiel ihm schwer – und gerade, als sich wieder Teile seiner Erinnerung zeigten, stellte er fest, dass er sich am liebsten gar nicht erinnern wollte.
Ein Stapel frischer Kleidung lag neben der Liege, eine Jeans, ein weißes T-Shirt und sogar ein neues Paar Turnschuhe. Obenauf lag seine Armbanduhr; Carsten hob sie auf. Der Sekundenzeiger rührte sich nicht: Die Uhr stand. Herr Kröpp fiel ihm ein mit seiner Sammlung von Armbanduhren. Und die Mutter von Regina Keller schrie »WIE SPÄT IST ES?!« in seinem Kopf.
Er stand schließlich auf, um sich anzuziehen. Die Jeans war etwas zu weit für ihn, die Schuhe passten genau.
Dann nahm er seinen Rucksack in Augenschein. Die Lebensmittel fehlten mit Ausnahme der Flasche Jack Daniels. Alles andere schien an seinem Platz zu sein. Er hielt die Whiskeyflasche unschlüssig in der Hand. Sie war immer noch versiegelt. Er hatte nicht daraus getrunken, seit er sie bei Jens mitgenommen hatte. Das Gewicht des Rucksacks hätte ihn beinahe sein Leben gekostet. Dafür hatte er jetzt eine Flasche Whiskey. Er schnaubte. In der Seitentasche seines Rucksacks fand er das Etui mit seiner Ersatzbrille. Er sah vor sich, wie er die andere verloren hatte; und strengte sich an, das Bild wieder zu löschen.
Seine Waffen suchte Carsten vergeblich.
Er zog an dem Verband der rechten Hand und nahm die Wunde in Augenschein. Die Bissspuren in den Fingern waren noch deutlich zu sehen, doch die Heilung hatte bereits eingesetzt. Wie lange bin ich schon hier?
Seine Beine waren schwach. Vorsichtig ging er zur einzigen Tür des Raumes und drückte die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen. Kein Schlüssel im Schloss. Carsten war eingeschlossen. Er stellte sich auf die Liege und spähte zwischen den Brettern hindurch aus dem Fenster. Langsam ahnte er, wo er sich befand. Er wartete.
Ein Schlüssel knackte im Schloss, Carsten stand auf, sein Körper spannte sich. Die Tür wurde geöffnet.
Eine Frau betrat vorsichtig den Raum, einen blauen Plastikeimer in der Hand und ein Handtuch über der Schulter. Sie strahlte, als sie ihn sah.
»Auferstanden von den Toten, was?«, freute sie sich – es war Sabine, die Tierärztin, die Carsten vor Tagen auf der Hauptstraße getroffen hatte. Und als er ihr Gesicht sah, reihten sich Bilder in seinem Gedächtnis auf, seine Erinnerung kam wie eine angeschmorte Filmspule zum Laufen. Er sah, wie er sich vom Dach des Supermarktes schleppte, schwer verletzt, dem Tode nah, und wie ihm das eigene Blut vom Körper rann, wie er das kleine Mädchen wegschickte und sich so weit weg von allem fühlte, als brauche es nur einen Windhauch, um ihn wegzublasen. Und wie er die Entscheidung getroffen hatte, zu leben. Und wie vor ihm das Gesicht der Tierärztin aufgetaucht war, Sabine, die die Tiere im Zoo versorgte. Sabine, die einzige Person, die ihm helfen konnte.
Sie stellte den blauen Eimer auf dem Boden ab, darin lag ein Schwamm in klarem Wasser. Sie trat nah zu ihm heran und streckte die Hände nach ihm aus, Carsten schreckte zurück. Sabine schmunzelte.
»Ich bin dir in den letzten Tagen schon sehr viel näher gekommen, mein Lieber. Aber daran kannst du dich natürlich nicht erinnern. Komm her.«
Sie legte ihm sanft die Hände an die Wangen und sah ihm in die Augen. Carsten ließ sie gewähren.
Sie musterte sein Gesicht. »Lass dich ansehen … Du siehst gut aus. Blass immer noch, aber viel besser. Wie geht’s dir denn?«
Carsten zögerte. Wie ging es ihm?
Sabine legte schon die nächste Frage nach: »Hast du Schmerzen?«
»Es geht«, untertrieb Carsten. »Hast du mich verbunden?«
»Gewaschen, verbunden, versorgt, gepflegt … Was dir einfällt, ich hab es getan.«
»Professionell«, sagte Carsten anerkennend und hob die verbundene Hand.
»Danke schön.« Sabine nickte. »Ehrlich gesagt – einen Mann oder einen Hund verbinden ist kein so großer Unterschied.«
»Wo hast du mich gefunden?«, wollte Carsten wissen.
»Vor meiner Haustür, sozusagen. Du lagst direkt vor dem Zaun, mit dem wir das Gelände hier abgesichert haben.«
»Wie bin ich hierhergekommen?«
»Gelaufen, wie’s aussieht.«
»Und mein Rucksack?« Carsten deutete auf das Gepäck am Fuß der Liege.
»Den hat Miriam für dich getragen.«
»Miriam? Miriam?!«
Sabine nickte. »Das kleine Mädchen hat dich gerettet, wie’s aussieht. Ohne sie hätt ich dich nie rechtzeitig entdeckt da draußen. Sie hat Zeter und Mordio geschrien, bis ich nachgesehen hab, was los ist.«
»Ich hatte ihr verboten, bei mir zu bleiben.«
»Ich weiß. Sei froh, dass sie nicht auf dich gehört hat.«
»Ist sie hier?«
»Sie ist draußen, füttert die Pinguine.«
»Pinguine?!«, entfuhr es Carsten ungläubig.
»Ja«, schmunzelte Sabine, »die hat sie zu ihren Lieblingen gekürt. Hat sie richtig ins Herz geschlossen. Keine Sorge, die Pinguine sind im eingezäunten Bereich. Wir können zu ihr gehen, frische Luft wird dir guttun. Hier drinnen riecht’s wie im Pumakäfig. Und ich weiß, wovon ich rede.«