GETRAMPT IN DEN TOD
Die Stimmung im Kulturraum der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in Stauchitz bei Riesa ist gut. Viele sind zum Treffen der Seminargruppe der Martin-Luther-Universität gekommen.
Auch Veronika Rudolph aus dem kleinen Dorf Gallinchen bei Cottbus wird begrüßt. Gut geht es der Frau Doktor agr. Ing. In der Cottbuser Außenstelle des Zentrums für Umweltgestaltung Berlin ist die junge Frau anerkannt, weil sie Ideen hat und im Beruf aufgeht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mitkommilitonen ist Veronika Rudolph ohne Ehepartner zu dem studentischen Wiedersehen gekommen. Auf entsprechende neugierige Fragen antwortet sie den einstigen Studienkolleginnen und Studienkollegen, dass ein fester Freund zu Hause wartet.
Das allerdings ist geflunkert. Warum aber soll die knapp 28-Jährige hier und heute ihre geheimsten Herzenswünsche offenbaren: endlich einen Freund zu finden, der sich für ihr Umweltengagement interessiert, mit dem sie darüber philosophieren und streiten kann. Auf eine Reihe von Annoncen hat Veronika Rudolph schon geschrieben, doch gefunden hat sie ihn noch nicht, diesen Mann fürs Gemeinsame, den sie liebt und mit dem sie eine Familie gründen kann.
Veronika Rudolph am 1. Juni 1986, einem schönen Sonntagmorgen, auf dem Weg von der Seminarfete in Stauchitz nach Hause in die großelterliche Wohnung in Gallinchen. Einen ehemaligen Kommilitonen bittet die junge Frau, sie gegen 9 Uhr nach Röderau zu bringen. Von dort aus will sie trampen. »Mit dem Zug von Riesa nach Cottbus zu fahren ist viel zu zeitaufwendig«, sagt sie. Schon oft hat das mit dem Trampen gut geklappt. »Was soll schon passieren«, schlägt sie die Warnung ihres Vaters, eines Kriminalisten, in den Wind.
Auch diesmal scheint die Rechnung aufzugehen. Schnell kommt sie voran. Bereits gegen 11 Uhr ist sie in Lauchhammer-Mitte. Nur noch 60 Kilometer sind es über die F 169 bis nach Cottbus.
20 Personen werden später ermittelt, die zwischen 10 und 12 Uhr die F 169 in diesem Bereich passiert haben. Veronika Rudolph aber hat keiner gesehen.
Eine aufwendige Suche beginnt. Von Gröditz bis Cottbus, das sind fast 100 Kilometer, wird beiderseits der F 169 in einem Abschnitt von 250 Meter Breite praktisch jeder Grashalm umgedreht. Restlöcher ausgekohlter Kohlegruben, Teiche und andere markante Stellen in diesem riesigen Gebiet, in denen man einen
Menschen verschwinden lassen kann, nehmen die Suchtrupps besonders unter die Lupe. Alles ist vergebens. Von der Vermiss-ten gibt es keine Spur.
Ein Pilzsammler entdeckt sie in einem Waldstück im Tagebauvorfeld der Tagebaue Cottbus-Nord und Jänschwalde an einer Teerstraße entlang der Kohleverbindungsbahn. Die Leiche ist nackt und zusammengekrümmt in einem Loch verbuddelt. Veronika Rudolph ist durch die Anwendung stumpfer Gewalt im Halsbereich getötet worden.
Sehr wahrscheinlich ist die Tramperin an diesem Sonntagvormittag zu einem Mann ins Auto gestiegen, der sich für den Beruf der jungen Frau interessierte. Dafür spricht der Ort, an dem Veronika Rudolph am 4. September 1986 gegen 10.30 Uhr zufällig gefunden wird.
Hier, in dieser aufgewühlten Lausitzer Heide, wird ein Großprojekt zur Rekultivierung von Landschaften in Angriff genommen, die der Tagebau hinterlassen hat. Nur Ortskundige finden zu der Stelle, von der man einerseits einen guten Überblick über den Tagebau hat, andererseits von der Straße und auch von der Kohlebahn aus vor neugierigen Blicken geschützt ist. Wer nun wem von diesem Projekt der Umweltgestaltung etwas vorgeschwärmt hat, muss fraglich bleiben. Jedenfalls fährt Veronika Rudolph mit hierher, weil sie den Mann an ihrer Seite sympathisch findet. Möglicherweise hat sie mit ihm Zärtlichkeiten ausgetauscht. Doch gleich intim will sie nicht mit ihm werden. Der Konflikt spitzt sich zu zwischen dem Begehren des Mannes und der Ablehnung der Frau und endet in einem Mord.
Dieses wahrscheinliche Tatgeschehen bestimmt den weiteren Lauf der Ermittlungen. Aufgrund der vermuteten Opfer-Täter-Beziehung werden alle Männer zwischen 24 und 50 Jahren aus Gallinchen und dem Nachbarort Groß Gaglow überprüft. Hinzu kommen 245 Personen, die Kontakt zur Familie Rudolph und zu Veronika selbst haben. Alibis von Männern mit Verbindungen zum Tagebau werden abgeklopft. Kriminaltechniker nehmen Autos unter die Lupe nach Spuren vom Opfer, von denen man ausgeht, dass sie Grabewerkzeuge an Bord haben und die zum
Transport einer Toten im Kofferraum geeignet sind. Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Fundort nicht der Tatort ist, selbst wenn das unwahrscheinlich erscheint. Die Kriminalisten heben ein Loch exakt in jener Größe aus, in dem die Leiche verscharrt war. Ein Zeitvergleich soll zeigen, ob in der benötigten Grabezeit nicht hätte ein Kohlezug vorbeifahren müssen und ein Lokführer etwas beobachtet haben könnte.
Letztlich ist alles vergebens. Der Mörder wird nicht gefunden. Im August 1987 stellt die Staatsanwaltschaft Cottbus das Ermittlungsverfahren vorläufig ein. Das Netz war gut ausgelegt, doch verfangen hat sich der Täter darin nicht.