WAHNSINN

Mitte März 1987 feiert die Belegschaft des Volkseigenen Betriebes Gebäudewirtschaft Bad Liebenwerda ihr jährliches Betriebsvergnügen. Der Betriebsdirektor hat seine Rede gehalten, auf die niemand so recht geachtet hat, verdiente Kolleginnen und Kollegen sind ausgezeichnet worden, und auch das Essen hat geschmeckt. Jetzt wird getanzt, das eine oder andere Glas Wein und Bier an den Tischen getrunken und an der Bar finden sich Grüppchen zusammen, stoßen mit Sekt mit Früchten und mit Weinbrand, Wodka oder anderem Hochprozentigen an. Es wird viel geschwatzt und gelacht.

Auch Roland Wassner (31) und seine Ehefrau Gunhild (27) amüsieren sich. Sie haben schon einige Runden auf der Tanzfläche hinter sich. Es gefällt ihnen wie immer auf dem Betriebsfest. Roland ist als Maurer und Fliesenleger anerkannt bei seinen Kollegen in der Brigade wie in der ganzen Firma. Zweimal hat ihn die Betriebsleitung schon als Bestarbeiter geehrt. Außerdem sind seine Einsatzbereitschaft und die Qualitätsarbeit mehrfach mit Geldprämien anerkannt worden. Der Handwerker ist ein umsichtiger, ruhiger und zurückhaltender Vertreter seiner Zunft, aber deswegen nicht kontaktarm. Aufgewachsen in einer kinderreichen Familie in einem Dorf in der Nähe von Bad Liebenwerda hat der bodenständige Mann früh gelernt, sich anzupassen und auch durchzusetzen. Sein handwerkliches Geschick hat sich herumgesprochen, so dass er im zweiten Arbeitsverhältnis nach Feierabend gut ausgelastet ist. Er hilft Verwandten, Freunden und Bekannten bei Bau- und Renovierungsarbeiten. Gemeinsam mit seiner Ehefrau kellnert er zudem an Wochenenden bei seiner Schwester in deren Gaststätte. Das bringt zusätzliches Geld fürs Familienbudget. Die Wassners können sich manches mehr an Wohlstand leisten als andere. Es geht ihnen gut.

In der Familie herrscht Harmonie. Daran hat auch das verflixte siebente Ehejahr nichts geändert. Viele Paare laufen in diesem

Entscheidungsjahr, aufgefressen vom Alltag, auseinander. Doch Gunhild und Roland lieben sich wie am ersten Tag. Die sieben-jährige Tochter Cindy ist ihr ganzer Stolz und macht das Glück Komplett. In ein paar Tagen, am 20. März, hat sie Geburtstag. Dann wird ihr Mädchen bereits acht Jahre alt. Cindy wünscht sich - wieder einmal - ein Brüderchen oder Schwesterchen. Bisher haben sich die Eltern nicht für ein zweites Kind entscheiden können. In der Dachgeschosswohnung war es für Familienzuwachs zu eng, und die geräumigere Betriebswohnung haben sie erst vor drei Jahren bezogen.

Cindy ist bei den Großeltern. Ihre Eltern haben die ganze Nacht für sich und können morgen ausschlafen. Roland freut »Ich auf die kommenden Stunden. Er bittet seine Ehefrau erneut zum Tanz. Es ist ein schöner Titel, nicht zu schnell, genau das richtige zum Schmusen. »Ich liebe dich«, flüstert Roland seiner Gunhild ins Ohr und drückt sie an sich. Die legt glücklich beide Arme um seinen Hals. Die Eheleute drehen sich, eng aneinander geschmiegt, nach den Takten der Musik. »Komm, lass uns an die Bar gehen«, schlägt der Mann vor und fasst seine Frau liebevoll um die Schulter. Dort stehen einige Kollegen aus seiner Brigade mit ihren Ehefrauen. Auf sie streben die Wassners zu. »Guckt, da kommt unser kleiner Süßer«, glaubt Roland zu hören und meint zu beobachten, wie die Männer die Köpfe zusammenstecken und irgendwie anzüglich grinsen. Sogar das Wort »Homo« dringt an sein Ohr. Als das Paar an die Bar tritt, verstummen die Gespräche. Zumindest mit ihm unterhalten sie sich nicht, findet Roland. Gunhild dagegen bemerkt nichts. Sie spricht mit den anderen Frauen, scherzt und lacht. Roland aber spürt Unruhe und Misstrauen in sich aufsteigen. »Was sollte das mit dem >Süßer< und dem >Homo<?«, grübelt er.

Zu Hause angekommen, fragt er Gunhild: »Hast du auch gemerkt, wie komisch die heute zu uns waren, so, als wäre ich ein Homosexueller? Dabei wissen die, dass das nicht stimmt, wo wir doch ein Kind haben.« Gunhild schaut ihren Mann verdutzt an: »So ein Quatsch, das bildest du dir nur ein. Die waren wie immer. Komm, lass uns ins Bett gehen«, beruhigt sie ihren Roland und gibt ihm zärtlich einen Kuss.

In den folgenden Tagen gerät die Welt des Roland Wass-ners immer mehr durcheinander. Von der Betriebsfeier aus hat sich das Gerücht in der Stadt verbreitet, dass der Wassner ein »Schwuli« ist und womöglich Aids hat. Dessen ist sich Roland ganz sicher. Wo er auftaucht in der Kleinstadt, benehmen sich die Menschen auffallig, gucken ihn komisch an, halten Abstand zu ihm. Kollegen aus der Brigade hat er schon zur Rede gestellt. Nur die können die Anschuldigungen in die Welt gesetzt haben. Er droht ihnen mit Anzeigen bei der Polizei wegen übler Nachrede. Die aber streiten alles ab. Natürlich, wer gibt das schon zu? Dabei haben sie sogar Schilder aufgestellt mit der Warnung: »Betreten verboten« und im gemeinsamen Aufenthaltsraum seinen Stuhl weit weg vom Tisch in die Ecke geschoben. »Du gehörst ins Gefängnis«, musste er sich auch schon anhören. In Fremdfirmen, in denen er Aufträge der Gebäudewirtschaft erledigt, tratschen sie ebenfalls. Die komischen Bewegungen, die Männer mit dem Unterkörper und der Hand machen, wenn er an ihnen vorbei geht, sind ja eindeutig. Sogar eine Fernsehstation soll sich im Wald heimlich niedergelassen haben. Die Fernsehleute wollen ihn beobachten und einen Film drehen. Seine Schwägerin scheint mittlerweile auch zu glauben, dass er ein Homosexueller ist. Die hat einen Brief geschrieben, der nicht einmal abgestempelt war und trotzdem angekommen ist. Statt des Stempels stand die Aufforderung, Altpapier wegzuschaffen und der Spruch: »Manche machen's andersrum.« Das konnte ja nur auf ihn gemünzt sein. Seine Lage erscheint ihm immer aussichtsloser. Wirre Gedanken quälen ihn.

»Hab ich vielleicht wirklich Aids?« Die Frage wird Roland Wassner nicht mehr los, und sie wird in seinem Kopf nach einer Urania-Sendung im Fernsehen zur Gewissheit. Vor kurzem hatte er doch geschwollene Lymphdrüsen, das sind typische Symptome für die tödliche Krankheit, die sich überall in der Welt so rasend schnell ausbreitet und unheilbar ist. Davon war im Urania-Beitrag die Rede, und die müssen es wissen, schließ-lich nennen sie sich Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Wie aber hat er sich angesteckt? Fremdgegangen mit einer anderen Frau ist er nicht, wo er Gunhild doch so liebt. Ungeschützter Sex kommt also nicht in Frage. Roland erinnert sich an einen lange zurückliegenden Krankenhausaufenthalt. Als Zehnjähriger wurde er an der Leiste operiert. Die Bluttransfusionen müssen verseucht gewesen sein. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

»Bestimmt habe ich auch Gunhild schon angesteckt«, macht er sich schlimme Vorwürfe. Die hustet seit ein paar Tagen so merkwürdig, so wie eine Aids-Kranke.

Roland erzählt seiner Frau von den Ängsten, und dass ihm nur der Selbstmord bleibt. »Du spinnst«, antwortet sie ihrem Mann und sieht ihn voller Sorgen an. »Komm, lass uns morgen zum Arzt gehen«, bittet sie und lässt nicht locker, als sich Roland sträubt. Am nächsten Tag, gleich morgens, sucht das Ehepaar die Arztsprechstunde auf. Für den erfahrenen Allgemeinmediziner ist nach den Schilderungen schnell klar, dass hier nur ein Nervenfacharzt helfen kann. Roland wäre nicht der erste aus der Familie, der an einer Geisteskrankheit leidet. Sein Vater wurde psychiatrisch behandelt, ein Onkel wählte den Freitod. Er greift zum Telefon und vereinbart mit einem ihm bekannten Psychiater für zwei Tage später einen Termin. Gunhild wird krankgeschrieben. Der Arzt rät ihr: »Passen Sie auf Ihren Mann gut auf.« Dem macht er Mut mit den Worten: »Jetzt geht alles klar, jetzt wird alles gut.« Doch der Wahnsinn nimmt seinen verheerenden Lauf.

Roland gerät mit seinen Gedanken in einen Teufelskreis. Überall stößt er auf Misstrauen, üble Nachrede und Ablehnung. »Ich muss mich umbringen«, daran gibt es für ihn angesichts der Ausweglosigkeit seiner Lage keinen Zweifel mehr. Ihm kann keiner mehr helfen. Im Auto liegt schon der Strick bereit für seinen Schlussstrich, doch Gunhild lässt ihn nicht aus den Augen. Er findet einfach keine Gelegenheit, sein Vorhaben zu verwirklichen. Den Tag empfindet er als einziges Chaos. Im Keller will er die Heizung für das Wohnhaus befeuern, doch im Ofen liegen längst die Kohlen. Im Fernsehen sollte am Abend Fußball übertragen werden, doch stattdessen wird ein Film gesendet, in dem die Darsteller telefonieren. Für Roland ist klar: »Jetzt verständigen sie die Polizei. Die soll mich abholen, und ich muss ins Gefängnis.« Eigentümliche Geräusche quälen ihn, pochen unaufhörlich im Kopf. Unruhig läuft der 31-Jährige hin und her: vom Wohnzimmer in die Küche, von da ins Bad, wieder ins Wohnzimmer, zurück in die Küche. Einer Nachbarin, die bei den Wassners am Abend vorbeischaut, fällt das merkwürdige Verhalten von Roland Wassner auf. Ständig hat der den Blick nach unten gerichtet. Er rennt mehrmals in das Kinderzimmer, in dem die Tochter Cindy schlafen soll und deshalb nicht zur Ruhe kommt. Die Besucherin selbst fühlt sich argwöhnisch vom Hausherren beobachtet, wenn sie mit Gunhild ein paar Worte wechselt.

Zehn Minuten nach 8 Uhr verlässt die Nachbarin die Wohnung. Wenig später hört sie den gellenden Schrei eines Kindes. In einem Schulungsraum, der unter der Wohnung der Familie Wassner liegt, vernehmen Teilnehmerinnen eines Handarbeitszirkels polternde Geräusche, dann ist es wieder still.

Was sich an jenem 18. März 1987 zwischen 20.15 Uhr und 20.30 Uhr bei den Wassners abgespielt hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit rekonstruieren.

Roland muss sich irgendwann bei dem unsteten und ziellosen Lauf durch alle Zimmer der Wohnung in der Küche ein Messer eingesteckt haben. Damit will er sich umbringen. Die Aufmerksamkeit von Gunhild verhindert den Suizid. Er dreht durch, bedroht seine Frau, die entsetzt aufschreit. Cindy wird munter und muss im Korridor vor ihrer Kinderzimmertür Entsetzliches mit ansehen. Ihr Vater packt die Mutter an den Haaren. Die gerät ins Stolpern und schlägt im Korridor lang hin. Der Mann ist sofort zur Stelle, reißt Cindys Mutter an den Haaren den Kopf hoch und schneidet ihr mit dem Messer den Hals durch. Für Gunhild gibt es keine Rettung, sie verblutet.

Das Kind schreit gellend um Hilfe. Roland Wassner packt Cindy und setzt auch ihr das Messer an den Hals. »Nicht auch noch meine Tochter«, ist sein letzter Gedanke.

Der Irre will sich auf die gleiche Weise richten. Doch die mehrfachen Schnitte, die er sich zufügt und bei denen er keinerlei Schmerzen verspürt, beenden sein Leben nicht. Im Bad befestigt er an einen Haken für die Wäscheleine ein Kabel und legt sich die Schlinge um den Hals. Auch dieser Selbstmordversuch misslingt.

Cindy hat die Attacke überlebt. Zum Glück ist der etwa zehn Zentimeter lange Schnitt im Bereich der Kehle nicht lebensgefährlich. Als das Kind, das die Nacht unter Schock im Korridor verbringt, gegen Morgen aufwacht, ist der Vater verschwunden. Während sich Cindy den blutigen Schlafanzug aus- und die am Abend von der Mutter bereitgelegten Schulsachen anzieht, hört Nie es im Treppenhaus poltern. Kurz darauf taumelt der Vater mit einer klaffenden Kopfwunde in die Wohnung. Er wäscht den Schlafanzug des Mädchens aus, säubert das Messer, das neben der Mutter liegt, klingelt dann bei einer Nachbarin und bittet sie, den Notarzt zu verständigen.

Mit schweren Verletzungen wird Roland Wassner ins Krankenhaus gebracht. In seinem Wahn sieht er Menschen mit dunklen Mänteln und Krankenschwestern, die tuscheln und die Nasen rümpfen, weil er wegen der vermeintlichen Aids-Erkrankung stinkt. Der völlig desorientierte Kranke hört Stimmen, am deutlichsten die seiner Frau Gunhild.

Nach der ersten medizinischen Versorgung wird Roland Wassner in das Haftkrankenhaus nach Leipzig gebracht. Dort können ihn Kriminalisten der Cottbuser Mordkommission erstmals am 9. April vernehmen. Bruchstückhaft, zögernd und ungeordnet in den zeitlichen Abläufen berichtet er von den dramatischen Ereignissen am Abend des 18. März in seiner Wohnung. Es deckt sich im Wesentlichen mit dem, was Cindy zum Tathergang ausgesagt hat.

Rührend kümmert sich fortan die Familie von Gunhild um das Kind und versucht, es zurückzuführen in ein normales Leben.

Roland Wassner wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft Cottbus im Haftkrankenhaus Leipzig eingehend psychiatrisch untersucht. Fachärzte diagnostizieren bei ihm eine Schizophrenie, die sich unmittelbar vor, während und nach der Tat in Wahnvorstellungen äußerte. Nur so ist das für die Umgebung und für ihn völlig unfassbare Verbrechen erklärbar, bei dem er nicht zurechnungsfähig war. Das Getuschel der Kollegen auf dem Betriebsvergnügen über den »Süßen« und den »Homo«, die Gerüchte in der Stadt über den »Schwuli«, seine Aids-Erkrankung, die Fernsehstation im Wald, die heimlich einen Film über ihn drehen will - alles existierte nur in seiner wirren Gedankenwelt.

Die Staatsanwaltschaft Cottbus stellt das Ermittlungsverfahren gegen Roland Wassner wegen Mordes und versuchten Mordes an der Ehefrau sowie seiner Tochter ein. Im Strafgesetzbuch der DDR heißt es dazu im Paragraf 15:

(1) Strafrechtliche Verantwortlichkeit ist ausgeschlossen, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen zeitweiliger oder dauernder krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Bewusstseinsstörung unfähig ist, sich nach den durch die Tat berührten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entscheiden.

(2) Das Gericht kann die Einweisung in psychiatrische Einrichtungen nach den dafür geltenden gesetzlichen Bestimmungen anordnen.

Der Geisteskranke wird zunächst im Haftkrankenhaus Leipzig medizinisch behandelt, bis seine Wahnvorstellungen abklingen. Gesund aber ist er nicht. Das Kreisgericht Dresden beschließt im September 1987 die unbefristete Einweisung von Roland Wassner in eine psychiatrische Klinik. Zwei Jahre später wird Roland Wassner entlassen, weil die Phobie nach Ansicht der Ärzte ausgeheilt ist.