DIE RUSSISCHE LÖSUNG
In den Morgenstunden des 19. Januar 1986 wird eine Leiche an der Fernverkehrsstraße 97 bei Lakoma vor den Toren von Cottbus gefunden. Die Frau hat keine Papiere bei sich und kann deshalb zunächst nicht identifiziert werden. Am 20. Januar bittet die Polizei in der örtlichen Tageszeitung »Lausitzer Rundschau« die Bevölkerung um Mithilfe. Einen Tag später teilt sie mit, dass es sich um die Russischlehrerin Edith Konrad aus Cottbus handelt, die einem Tötungsverbrechen zum Opfer gefallen ist. Am 24. Januar wird ein Foto der Frau veröffentlicht, um weitere »sachdienliche Hinweise« zu erhalten. Wer die 38-jährige alleinstehende Mutter von zwei Kindern getötet hat und was sich in jener Winternacht zugetragen haben könnte, erfährt die Bevölkerung nicht.
Edith Konrad wird oft als Dolmetscherin für den Fernsehfunk der DDR, für die NVA und für sowjetische Militäreinheiten im Standortbereich Cottbus gerufen. Sie hat zu sowjetischen Soldaten und Offizieren gute Kontakte, wird von ihnen oft in Dienstfahrzeugen nach Hause gebracht und kennt sich in sowjetischen Garnisonen im Bezirk Cottbus gut aus.
Diese engen Verbindungen sind Edith Konrad in jener Nacht zum Verhängnis geworden, ist sich der inzwischen pensionierte Staatsanwalt Horst Helbig sicher. Bis heute ist der Fall juristisch nicht abgeschlossen, obwohl der damals ermittelnde Staatsanwalt Helbig überzeugt ist, dass die Täter überführt wurden. Gemeinsam mit dem damaligen Leiter der Cottbuser MUK, Hans Jakobitz, einem fähigen Kriminalisten und absoluten Fachmann, war Helbig ihnen relativ schnell auf die Spur gekommen. Die führte in die Garnison der Roten Armee nach Dissenchen bei Cottbus. Von dort ist es nur ein Katzensprung bis nach Lakoma, dem Fundort der Leiche. Reifenspuren am
Fundort der Leiche, die im wegtauenden Schnee noch gesichert werden, stammen von einem Wolga, dem Standard-Pkw der sowjetischen Streitkräfte. Zeugen haben beobachtet, dass am 19. Januar gegen 1.30 Uhr in der Nähe des Fundortes an der F 97 ein sowjetischer Militär-Lkw sowie ein Kübelfahrzeug parkten. Ein Zündkabel russischer Produktion wird gefunden. Verletzungen bei Edith Konrad deuten auf ein Bajonett von einer »Kalaschnikow«, dem Maschinengewehr der Sowjetarmee, hin. Edith Konrad muss in jener Nacht, als sie von einer privaten Geburtstagsfeier in Cottbus zu Fuß auf dem Heimweg war, in das Auto ihrer Mörder gestiegen und sexuell belästigt worden sein. Als diese merken, dass sie von Edith Konrad identifiziert werden können, bringen die Täter die Russischlehrerin um, ist Helbig überzeugt.
Vom Opfer und Spuren am Leichenfundort werden fünf Geruchsspuren gesichert: von beiden behandschuhten Händen, vom Hals, von der Standspur und vom Zündkabel. Jeweils zwei Fährtenhunde werden auf über 2000 Bürger angesetzt, um die Gerüche zu identifizieren. Es sind Personen, die sich in Gaststätten entlang des Heimweges aufgehalten haben, den Edith Konrad eingeschlagen haben muss, sowie Halter von Autos der Marken Wolga, Saporoshez, Golf, Volvo und mit noch größerer Spurweite in den Kreisen Cottbus- Stadt und Cottbus-Land. Alibis von Taxifahrern des VEB Kraftverkehr und der Taxigenossenschaft werden überprüft und auch die von Fahrern von Schwarztaxis. Hinzu kommen 30 russische Armeeangehörige. Die Ermittlungen und die Nasen der Spürhunde führen in die Kaserne nach Dissenchen zu Fähnrich Anatoli G. (24) und Soldat Wladimir S. (29) als Verursacher der Geruchsspuren. Die beiden gehören zur Garnison in Dissenchen, eine Nachrichten-Eliteeinheit der Roten Armee. Alle anderen Personen können ausgeschlossen werden. Bei der Überprüfung der Wachunterlagen finden Staatsanwalt Helbig und die Ermittler der MUK Unstimmigkeiten. Es ist ziemlich sicher, dass sich die beiden Mordverdächtigen zur Tatzeit nicht in der Kaserne aufgehalten haben, wie die frisierten Dokumente beweisen sollen, sondern möglicherweise ohne Erlaubnis im Stadtgebiet von Cottbus unterwegs waren. Der russische Soldat wird von der deutschen Polizei sogar kurzzeitig verhaftet und verhört. Der Fall ist so gut wie geklärt.
Plötzlich aber spüren die Ermittler Widerstände. Der oberste Militärstaatsanwalt der DDR in Berlin kippt um und gibt in den Verhandlungen mit den sowjetischen Militärs nicht mehr die anfangs gute Unterstützung. Offensichtlich macht Moskau Druck, weil es nicht sein kann, dass sowjetische Militärangehörige ein solches Verbrechen begangen haben. Ein sowjetischer General gibt an, dass er mit Fähnrich G. zur fraglichen Zeit auf dem Weg nach Magdeburg zu einem Manöver der Streitkräfte war. Soldat S. hat nach Angaben des sowjetischen Untersuchungsführers in der Nacht vom 18. zum 19. Januar 1986 Wachdienst geschoben. In der Erstaussage nach der Verhaftung durch die deutsche Polizei hat er das aber anhand belastbarer Angaben verneint. Ein Auszug aus dem Wachbefehl der Einheit in Dissenchen stützt diese Aussage. Demnach hatte die Einheit von S. erst ab dem Morgen des 19. Januar, als Edith Konrad schon tot war, Objektwache.
Was aus den beiden mutmaßlichen Mördern geworden ist, darüber kann nur spekuliert werden. Sehr schnell erhielten sie einen Marschbefehl raus aus der DDR. Staatsanwalt Helbig glaubt, dass sie in den Afghanistan-Krieg abkommandiert wurden. »Die Russen haben das immer auf ihre ganz eigene Art und Weise gelöst«, so Helbig. Ganz sicher gab es auch handfeste politische und militärische Gründe für diese »russische Lösung«.