MORD IM BLEICHGÄSSCHEN

Am 2. Februar 1976 veröffentlicht die »Lausitzer Rundschau« in ihrer Lokalausgabe Hoyerswerda folgende Mitteilung der VP:

»In der Nacht vom 30. zum 31.1.1976 wurde in Hoyerswerda ein schweres Tötungsverbrechen an einer weiblichen Person begangen. Durch die zielstrebige Arbeit der Deutschen Volkspolizei im Zusammenwirken mit einer Vielzahl von Bürgern konnte das Verbrechen aufgeklärt und der Bürger (...) aus Hoyerswerda als Täter festgenommen werden. Die Volkspolizei dankt allen Bürgern der Kreisstadt und des Kreises Hoyerswerda sowie den freiwilligen Helfern der VP, die durch Hinweise und aktive Mitarbeit zur schnellen Klärung des Verbrechens beitrugen.«

Mehr über den Fall erfahren die Leser der Zeitung nicht.

Klaus Schulze (32), Ingenieur in gehobener Position, achtet auf Etikette und wahrt Distanz zu den Arbeiterinnen und Arbeitern, besonders zu Kolleginnen, denen der schlechte Ruf vorauseilt, freizügig zu sein und wechselnde Partner zu haben. Er hat pünktlich um 15.30 Uhr Schichtschluss im Ankerglaswerk der kleinen Industriestadt Bernsdorf, nur 15 Kilometer von Hoyerswerda. Dort wohnt und lebt der Ingenieur für Technologie der chemischen Industrie mit seiner Ehefrau Gertrud und den fünf Kindern in einer Neubauwohnung. Vier der Kinder hat das Paar gemeinsam gezeugt, das fünfte, das behindert ist, hat Gertrud mit in die Ehe gebracht.

Der kinderreiche Haushalt bringt nicht nur Lust und Freude mit sich, sondern erfordert vor allem gute Nerven und schränkt Ungebundenheit und Freizeitgestaltung ein. Die enormen Belastungen haben schon manchen Konflikt zwischen den Eheleuten ausgelöst. Bis zu einem Monat herrscht nach Auseinandersetzungen schon mal Funkstille zwischen Mann und Frau, und auch im Bett ist dann Flaute. 1972 erreicht die Ehe einen Punkt, der das Aus zu sein scheint. Der damals 28-jährige Ingenieur lernt auf einem Lehrgang in Leipzig eine Frau kennen, zu der er sich hingezogen fühlt. Die intimen Beziehungen sind innig, er erlebt sie emotionaler, aufregender und abwechslungsreicher als im Alltag mit Ehefrau Gertrud. Klaus Schulze gesteht Gertrud, dass es eine neue Partnerin an seiner Seite gibt und verlangt in mehreren Aussprachen mit seiner Gattin, dass sie sich scheiden lässt. Er will frei sein für die neue Frau, bei der er sich wohl und geborgen fühlt und die ihn anhimmelt, ohne die Belastungen der Familie. Doch da hat er die Rechnung ohne Gertrud gemacht. Sie wendet sich an die Kaderleitung des Betriebes und an die Genossen der SED-Leitung im Ankerglaswerk. Die Betriebsparteiorganisation bittet ihr Mitglied zur Aussprache. Er muss in einer peinlichen Prozedur sein Liebesleben außerhalb der Ehe offenlegen. Damit, so wird ihm klar gemacht, schade er dem Ansehen der Partei im Betrieb und in der Öffentlichkeit. Außerdem dürfe sich ein Genosse so nicht aus der Verantwortung für eine kinderreiche Familie stehlen.

Genosse Schulze sieht das ein und kehrt in den Schoß von Gertrud zurück.

Das Familienleben beginnt sich wieder zu normalisieren. Langsam gewinnen die Eheleute neues Vertrauen zueinander. Die Gespräche, Seitenhiebe und Vorhaltungen wegen des Fremdgehens werden mit der Zeit seltener. Seine Frau verzeiht ihm den Seitensprung. Zwei Jahre später ist das Techtelmechtel ganz aus der Gedankenwelt der Schulzes verschwunden. Über eine Scheidung wird nicht wieder gesprochen.

Doch Reibungen im Alltag bleiben nicht aus. Gerade hat es wieder gekracht zwischen den Eheleuten, und Klaus zieht aus diesem Grund nichts nach Hause. Eine anstrenge Glasmacherschicht mit einigen Problemen an der Schmelzwanne, die von ihm geleitet wird, ist endlich vorbei. Ihn treibt der Appetit auf ein paar Bier und die Aussicht, dem häuslichen Frust für einige Stunden zu entfliehen, in die Gaststätte »Deutsches Haus« in Bernsdorf. Konfliktsituationen, egal ob sie privat oder betrieblich begründet sind, entzieht er sich gern durch Klönen in Kneipen. Dabei trinkt er auch größere Mengen Alkohol als das übliche Bierchen zum Essen und beim Fernsehabend. Auf sexuelle Abenteuer ist der Mann bei Touren durch diverse Lokalitäten nicht aus. Er ist zu Hause gut ausgelastet, und Alkohol macht ihn eher gleichgültig gegenüber weiblichen Reizen, als dass er besondere Triebhaftigkeit erzeugen würde. Er neigt unter Alkoholeinfluss nicht zu Streitigkeiten oder Gewalt, sondern wird zum friedlichen Gesellen. Zumal Klaus Schulze nie so viel trinkt, dass er nicht mehr Herr seiner Sinne ist.

An diesem letzten Freitag im Januar 1976 fühlt er sich mit Kollegen, die er im »Deutschen Haus« trifft, wohler als daheim bei Gertrud und den Kindern.

Die Männerunde bechert nicht schlecht. Klaus Schulze ruft gegen 22.30 die Kellnerin, um zu bezahlen. Lust zur Heimkehr hat er zwar noch nicht, aber in einer Viertelstunde ist Ausschank-schluss. Er begleicht die Zeche, die nicht von Pappe ist. Auf der Rechnung stehen neben einem deftigen Eisbein mit Sauerkraut und Brot 15 kleine Glas Bier. Er steigt um 22.37 Uhr in den Bus nach Hoyerswerda, der direkt vor der Gaststätte hält.

Klaus Schulze ist angetrunken, doch er ist trinkfest. Ein Schwips ist ihm nicht anzumerken. Der Bus ist zu dieser Zeit spärlich besetzt, so dass er auf dem Sitz bequem seinen Gedanken nachhängen kann. Ein paar Haltestellen weiter steigt eine junge Frau zu. Sie hat sich gerade von ihrem Freund mit einem innigen Kuss verabschiedet. Es ist Undine Teschke (21), eine junge Arbeiterin aus dem Glaswerk in Bernsdorf, lebenslustig und dem anderen Geschlecht willig zugetan auf der Suche nach dem Traummann. Sie nimmt schräg vor Klaus Platz. Der Ingenieur und die Glasmacherin kennen sich zwar vom Sehen aus dem Betrieb, haben aber noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Zu verschieden sind diese beiden.

Kurz vor 23 Uhr erreicht der Bus Hoyerswerda. An einer der Haltestellen in der Altstadt steigt Schulze aus. Der Streit mit Gertrud um die Erziehung der Kinder nagt weiter an ihm. Müde ist er noch nicht, und Durst auf ein Bier hat sich schon wieder eingestellt.

Für Undine Teschke ist an der gleichen Haltestelle die Fahrt beendet, sie wohnt in der Nähe. Obwohl die »kleine Arbeiterin« sozial gesehen überhaupt nicht seine Kragenweite ist, spricht Klaus Schulze das Mädchen an. Ein belangloses Geplänkel entwickelt sich, an dessen Ende die Verabredung steht, sich gemeinsam noch ein Schlückchen zu gönnen. Das Zufalls-Paar schlendert die Friedrichsstraße hinunter Richtung Markt, der offiziell »Platz der Roten Armee« heißt. In der »Post«, einer Bierkneipe, die auf dem Weg liegt, sind alle Türen dicht. Das Duo schlendert weiter, vorbei am Krabat-Klub, in dem sich junge Leute treffen. Im Klub ist noch Licht, doch er ist leider keine Gaststätte. Auf dem Markt ist der »Ratskeller« eine gute Adresse. Doch der hat um diese Zeit ebenfalls geschlossen. Bleibt als letzte Zuflucht die HO-Gaststätte »Kastanienhof«. Die knapp zehn Minuten Fußmarsch vom Ratskeller aus nehmen die neuen Bekannten in Kauf. Wenn eine Dreiviertelstunde vor Mitternacht in der ansonsten menschenleeren Altstadt von Hoyerswerda noch etwas los ist, dann dort. Der »Kastanienhof« hat eine Nachtbar, einen Saal für Tanzveranstaltungen und ein Restaurant. Klaus Schulze und Undine Teschke setzen sich an einen freien Restauranttisch, bestellen sich Bier, gehen anschließend hinüber in den Saal und tanzen eine Runde. Klaus bezahlt, und beide steigen die Treppe hinauf in die Bar. Dort wollen sie in schummriger Umgebung bei Musik und Mixgetränken ihre frisch geknüpfte Bekanntschaft vertiefen. Sie werden nicht eingelassen, trotz aller Überredungsversuche, die Klaus startet, und einem kleinen Geldschein, den er sichtbar in der Hand hält. Die Plätze in der Bar sind alle besetzt, und außerdem ist bald Feierabend, die Einlasskontrolle bleibt hart.

Für Klaus ist der Abend gelaufen. »Soll ich dich nach Hause bringen«, fragt er seine junge Begleiterin. Die ist einverstanden. Beide wohnen in der Neustadt, wenn auch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft. Sie nehmen den Fußweg von bestimmt einer halben Stunde in Angriff. Plötzlich bietet Undine an: »Ich kann ja mit zu dir kommen.« Dem Mann fährt der Schreck durch alle Glieder. »Das geht nicht, auf keinen Fall«, wehrt er ab und läuft ein paar Schritte schneller. Undine folgt ihm. »Nun hab dich doch nicht so«, sagt sie.

Inzwischen ist das Paar in der Friedrichsstraße angekommen. Hier legt Klaus dem Mädchen an seiner Seite den Arm um die Schulter. Undine schmiegt sich an den Mann, wohl nicht nur wegen der zehn Grad Kälte, die im Gesicht zwicken. Sie biegen in das »Bleichgässchen« ein, das um diese Zeit wie ausgestorben ist. Rechts ist eine große Wiese, im Volksmund Bleiche genannt, die der Gasse ihren Namen gab. Dort haben Frauen früher Wäsche auf der Wiese gebleicht und getrocknet. Links ist die alte Brauerei der Stadt. In der Finsternis und Abgeschiedenheit des »Bleichgässchens« zieht Klaus Undine zu sich heran und küsst sie. Die junge Frau erwidert die Liebkosung. Die Aktentasche, die nur stört, hat Klaus neben sich in den Schnee gestellt. Er nimmt den Kopf seiner Partnerin in beide Hände, streicht über das Gesicht und gleitet hinunter zum Hals. Dann setzt der Verstand aus.

Als er wieder zu sich kommt, liegt Undine vor ihm im Schnee. Seine Hände umfassen noch immer den Hals der Frau. Sie bewegt sich nicht. »Ich habe sie erwürgt«, schießt es ihm voller Entsetzen durch den Kopf.

Just in diesem Moment kommen Gudrun Nachte und Liane Schuster aus dem Krabat-Klub, der sich um die Ecke in der Friedrichsstraße befindet. Dringende menschliche Bedürfnisse haben sie hinaus in die Nacht getrieben. Die Toiletten des »Kra-bat« befinden sich quer über den Hof und sind nur übers Bleichgässchen zu erreichen. Sie sehen einen Mann, der am Boden kniet und der vor ihr liegenden Frau den Mund zuhält. »Was ist passiert?«, fragt Gudrun Nachte. »Die Frau muss brechen«, bekommt sie zur Antwort. »Dann müssen Sie ihr aber die Hand vom Mund nehmen«, entgegnet sie und beugt sich zu Undine Teschke herab. Gudrun Nachte ist Krankenschwester und versucht, bei der Frau den Puls zu fühlen. Klaus Schulze stößt sie mit den Worten »Haut ab!« beiseite. Die »Krabat«-Besuche-rinnen rennen in den Klub und holen Hilfe. Nach ein bis zwei Minuten kehren sie mit Freunden zurück. Sie sehen, wie Klaus

Schulze breitbeinig über Undine Teschke sitzt und durch rhythmisches Drücken auf den Brustkorb versucht, die Geschädigte ins Leben zurückzuholen.

Die Helfer kümmern sich um die Bewusstlose, tragen sie in den Klubraum und fordern Klaus Schulze auf, mit ihrer Tasche hinterherzukommen. Drinnen legen sie die leblose Frau auf eine Liege, öffnen die Kleidung und stellen Würgemale am Hals fest. Sie machen Widerbelebungsversuche und telefonieren nach der »Dringlichen Medizinische Hilfe«. Es ist alles zu spät. Undine Teschke ist tot.

Klaus Schulze macht mit den Taschen in der Hand Anstalten, ebenfalls zum »Krabat« zu gehen. Plötzlich aber dreht er um und rennt davon. Als die Polizei am Tatort eintrifft, ist er über alle Berge. Die Zeugen aus dem Klub beschreiben den Mann vage: lockiges schwarzes Haar, lange Koteletten im Gesicht, dunkle Brille, Doppelkinn. Das ist wenig für eine Fahndung.

Am Tatort selbst finden die Kriminalisten keine Spuren, nur die bis zu acht Zentimeter dicke Schneedecke ist eingedrückt. Fährtenhund »Nando« wird angesetzt. Nach etwa 20 Metern nimmt der Vierbeiner eine Spur auf. Sie führt ihn die Gasse hinauf über die Lessingstraße hinweg Richtung Neustadt. Doch bald schon bleibt »Nando« stehen. Die Fährte ist verloren.

Geirrt hatte sich die Spürnase dennoch nicht. Bei seiner Flucht hat Klaus genau diese Richtung gewählt. Er rennt quer über ein Gelände, auf dem Baracken stehen, Richtung Wehr. Das befindet sich etwa zwei Kilometer vom Tatort entfernt und regelt den Wasserstand der »Schwarzen Elster«. Unterwegs muss er einen Zaun überklettern. Am Wehr angekommen, wirft er die Tasche des Opfers in den Fluss. Diese wird später in einer Entfernung von drei Kilometern gefunden. Sie ist im Eis eingefroren.

Klaus Schulze hastet weiter durch nahezu verwaiste Straßen, bis er an einer Haltstelle des städtischen Busverkehrs in einem der Neubauviertel innehält. Gegen 1 Uhr nachts kommt tatsächlich noch ein Stadtbus. In den steigt er ein und am CEN-TRUM-Warenhaus wieder aus. Dann geht er nach Hause, zieht sich aus und legt sich ins Bett.

Um 3 Uhr registriert Gertrud, dass ihr Ehemann eingetroffen ist. Vor Stunden schon ist sie schlafen gegangen. Sie riecht den Alkohol. Sonderlich beunruhigt hat es sie nicht, als Klaus nicht wie gewohnt um 16.30 Uhr zu Hause eintrifft. Sie vermutet, dass im Betrieb etwas schiefgelaufen ist und ihr Mann eine Doppelschicht fährt. Nun muss sie feststellen, dass er »einen drauf gemacht« hat.

Gesprächsthema ist das zwischen den Eheleuten am Morgen nicht. Wegen des Streits herrscht weiter Funkstille. Um die Kinder kümmert sich der Vater wie immer. Auffällig an seinem Verhalten ist höchstens, dass er den Samstag und auch lange Stunden am Sonntag meist auf der Couch verbringt und offensichtlich grübelt. Das ist auch so. Selbstmordgedanken schießen dem Mann durch den Kopf, werden jedoch nicht konkret.

Währenddessen laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Das Opfer ist anhand eines Ausweises schnell als Undine Teschke identifiziert. Die Spur der jungen Frau wird in ihrem Umfeld aufgenommen und führt folgerichtig an ihre Arbeitsstelle ins Glaswerk in Bernsdorf und zu dem Freund, der sie zum Bus gebracht hat. Polizisten befragen den Fahrer, der sich erinnert, dass das spätere Opfer und ein Mann an der Haltestelle in der Hoyerswerdaer Altstadt ihre Fahrt beendet haben. Die Kripo findet weitere Fahrgäste und erfährt von Schulzes Zechtour. Dass er just den gleichen Bus zur Heimfahrt genommen hat wie die 21-jährige Undine Teschke kann Zufall sein. Doch die erfahrenen Kriminalisten der MUK ahnen, dass sich diese Übereinstimmung als heiße Fährte erweisen wird. Aus der Kaderakte im Betrieb besorgen sie sich ein Foto von Schulze. Die Zeugen vom Krabat-Klub erkennen in ihm eindeutig den Mann, der neben dem Opfer gekniet hat und später weglief.

Die reichliche Stunde, die zwischen der Ankunft der beiden in Hoyerswerda und der Tatzeit lag, lässt die Ermittler vermuten, dass sie für einen Gaststätten-Abstecher genutzt wurde. Im »Kastanienhof« wird die Annahme der Ermittler bestätigt und Klaus Schulze als Begleitung des späteren Opfers auch hier identifiziert. Noch nicht einmal 48 Stunden sind seit der Tat vergangen, da wird Klaus Schulze als Verdächtiger verhaftet und gesteht schon bei der ersten Vernehmung den Mord an Undine Teschke. Zum Motiv äußert er sich nicht. So sehr sich die MUK-Ermittler bemühen, sie bekommen vom Beschuldigten nur immer wieder zu hören: »Ich hatte einen Filmriss, konnte erst am nächsten Morgen wieder einen klaren Gedanken fassen.« Oder: »Plötzlich war alles grau. Ich habe einfach nichts mehr registriert.« Er kann sich nicht erinnern, warum er die junge Frau gewürgt und wie oft oder wie lange er zugedrückt hat. Oder will er es nicht, um die Tat zu verdrängen? Klaus Schulze bleibt in allen Vernehmungen dabei, dass er nur mit Sicherheit wisse, dass er neben dem Opfer kniete, dabei die Hände um ihren Hals hatte und dass Undine regungslos war.

Polizei und Staatsanwaltschaft geben sich mit dem Geständnis nicht zufrieden. Akribisch suchen Kriminaltechnikerden von Klaus Schulze beschriebenen Fluchtweg ab. An den Baracken sichern sie Abdrücke. Diese stammen von Schuhen, die dem Tatverdächtigen gehören. Im Kriminaltechnischen Institut in Berlin vergleichen die Spezialisten Faserspuren von der Bekleidung des Opfers und des Beschuldigten. Im Brustbereich des Pullovers des Opfers werden feine Textilablagerungen gefunden, die von der Bekleidung des Tatverdächtigen stammen. Außerdem befinden sich Fasern aus dem Pullover der Geschädigten an dessen Pulloverärmeln und unter einem Fingernagel der rechten Hand. Bodenreste an den Hosen stammen eindeutig vom Tatort, wird in den Laboren festgestellt. Faserspuren aus der Hose des Mordverdächtigen werden am Drahtzaun entdeckt, den er nach eigenen Angaben bei der Flucht überstiegen hat.

Eindeutig ist die Todesursache. Undine Teschke starb nach einem Gutachten von Dresdner Rechtsmedizinern durch Erwürgen und Erdrosseln. Der Täter muss seinem Opfer demnach über eine längere Zeit mit erheblicher Intensität mit den Händen am Hals die Luft abgedrückt haben. Streifenförmige Hautverletzungen an der rechten Halsseite werten die Obduzenten als Drosselmale, die von einem Schal stammen können. Typische Abwehrverletzungen finden die Ärzte dagegen beim Opfer nicht. Es muss zum Zeitpunkt der Tat völlig ahnungs-, hilf- und wehrlos gewesen sein.

Schwieriger ist die Bewertung des »Filmrisses« bei Klaus Schulze.

Sehr intensiv beschäftigt sich das Bezirksgericht Cottbus in seiner dreitägigen Hauptverhandlung im September 1976 mit der Schuldfähigkeit von Klaus Schulze. Die Staatsanwaltschaft Cottbus hat sie in ihrer Anklageschrift nicht bezweifelt und den Ingenieur wegen Mordes angeklagt. Im psychologischen Gutachten werden krankhafte Hirnschädigungen ebenso ausgeschlossen wie eine Geistesstörung. Umfassende EEG-Untersuchungen insbesondere unter leichtem oder mäßigem Alkoholeinfluss ergeben keine abnorme Reaktionen. Ohnehin haben Gutachter im Nachhinein die Alkoholbelastung als gering eingeschätzt. Nach Angaben des Angeklagten über das Verspeiste und Getrunkene am Tattag haben sie 0,4 bis 0,7 Promille errechnet. Für die Annahme einer Volltrunkenheit muss aus medizinischer Sicht ein Mindestwert von mindestens 2,0 Promille vorliegen. Einen Rauschzustand bei einem Alkoholwert im Blut unter 1,0 Promille schließen sie aus.

Das Gericht teilt im Ergebnis der Beweisaufnahme, dass der »Filmriss« nur eine Schutzbehauptung ist. Klaus Schulze hat vor den Richtern noch einmal die Tat gestanden. Er blieb jedoch bei Erinnerungslücken und nannte keine Details zur eigentlichen Tat oder welche Motive ihn dazu getrieben haben. Für die Richter steht fest: »Er ist nicht bereit, über die Art und Weise der Tatbegehung und vor allem über die Gründe, die ihn zur Tat veranlasst haben, Auskunft zu geben.« Der von der Verteidigung vorgebrachten Version einer Affekthandlung folgt der erste Strafsenat nicht. Der Angeklagte selbst habe Erregungen jeder Art zur Tatzeit ausgeschlossen.

Das Bezirksgericht verurteilt Klaus Schulze zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und entzieht ihm seine staatsbürgerlichen Rechte auf Lebenszeit. Er verliert dadurch für immer das Recht, zu wählen oder gewählt zu werden und darf weder auf staatlichem, wirtschaftlichem oder kulturellem Gebiet leitende Funktionen übernehmen. Staatliche Würden, Titel, Auszeichnungen und Dienstgrade werden entzogen.

Sechs Tage nach dem Urteil reicht die Verteidigung Berufung beim Obersten Gericht der DDR ein. Sie zielt darauf, dass ihr Mandant im Affekt getötet habe. Die Begründung: Undine Teschke habe den Täter über das Maß des Erträglichen gereizt. Die junge Frau habe sich den leitenden Angestellten ihres Betriebes angeln und sich ihm dafür mit Einsatz aller weiblichen Reize hingeben wollen. Sie habe ihn zuerst geküsst, sich förmlich an ihn geklammert und geschwärmt: »Meine Mutter würde staunen, mich mit einem Ingenieur zu sehen.« Sie habe sich trotz heftigen Widerstands des Mannes nicht davon abbringen lassen, ihn nach Hause zu begleiten. Als dieser ablehnte, provoziert sie ihn mit Worten wie: »Bist du wirklich so doof, oder tust du bloß so«. Nach Angaben ihres Mandanten habe die schwarzhaarige Schöne ihm unterstellt, dass er ein Schlappschwanz sei und wahrscheinlich keine Manneskraft aufbringe, heißt es in der Anwaltsschrift. Schließlich habe Undine Teschke gedroht: »Wenn du wirklich nicht willst, dann erzähle ich im Betrieb alles, was du mit mir gemacht hast und schreie sofort ganz laut.«

Warum aber hat der Angeklagte diese Provokationen über Wochen und Monate und bis zur Verurteilung verschwiegen? Seine Begründung: »Ich wollte das negative Verhalten des Opfers nicht öffentlich machen.« Deshalb will er bis einen Tag vor Ablauf der Berufungsfrist alles für sich behalten haben. Letztlich hätten ihm die Gespräche mit der Ehefrau und das Strafmaß des Gerichtes dazu bewogen, nun doch die wahren Hintergründe der Tat zu offenbaren.

Ende Oktober 1976 gibt der fünfte Strafsenat des Obersten Gerichts im Ergebnis einer mündlichen Verhandlung der Berufung statt und verweist den Fall an das Bezirksgericht Cottbus zurück. »Das Gericht hat zu prüfen, ob es sich um Mord oder nur um Totschlag handelt«, lautet der Auftrag.

Bei einer erneuten Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft Cottbus Mitte Dezember unterstreicht Klaus Schulze, dass ihm das Ansinnen von Undine Teschke, ihn in seine Wohnung zu begleiten, völlig irritiert hat. »Ich dachte, sie macht Witze.«

Als sein späteres Opfer deutlich machte, das sie es mit der Eroberung ernst meint, sei er wütend geworden, dass Blut habe ihm gekocht, er habe einen Knoten im Hals gespürt. »Ich befand mich jetzt in einem Zustand hochgradiger Erregung. Ich hatte keine Gewalt mehr über mich, fühlte einen starken Druck im Kopf und alles um mich herum begann sich zu drehen wie ein Karussell.«

Frage des Staatsanwaltes: Warum haben Sie die Geschädigte erwürgt?

Antwort: Weil die Nerven mit mir durchgegangen sind. Ich war so wütend, dass ich nicht mehr wusste, was ich mache.

Frage: Warum haben Sie das Opfer nicht einfach verlassen?

Antwort: Ich habe mehrmals versucht, wegzurennen und wurde sie nicht los. Was weiß ich, wie lange sie noch hinterhergekommen wäre. Sie kam doch immer wieder mit.

An zwei Tagen im Februar 1977 wird der Fall Schulze in zweiter Instanz vor dem Bezirksgericht verhandelt. Die Staatsanwaltschaft bleibt bei ihrer Mordanschuldigung. Auch der psychiatrische Gutachter sieht in einer ergänzenden Expertise weiterhin keine medizinische Erklärung für die Gedächtnislücke des Angeklagten, für die eigentliche Tatausführung oder für einen Zustand völliger Bewusstlosigkeit.

Und das Gericht? Erneut ist es der erste Strafsenat, vor dem der Prozess stattfindet. Und es sind die gleichen Richter wie in der ersten Instanz, die nun prüfen, ob es neue Beweise gibt für die Einschätzung, dass Undine Teschke nicht durch einen heimtückischen und brutalen Mord, sondern »nur« durch Totschlag ums Leben kam. Totschlag im Sinne des Strafgesetzbuches der DDR liegt u.a. dann vor, wenn

»... der Täter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder seinen Angehörigen von dem Getöteten zugefügte Misshandlung, schwere Bedrohung oder schwere Kränkung in einem Zustand hochgradiger Erregung (Affekt) versetzt und dadurch zur Tötung hingerissen oder bestimmt worden ist«.

Mord wie Totschlag sind vorsätzliche Tötungsdelikte, doch in der Strafzumessung gibt es erhebliche Unterschiede. Während für Mord eine Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bis lebenslängliche Haft angedroht wird, kann Totschlag mit höchstens zehn Jahren Freiheitsentzug geahndet werden.

Nach den neuen Aussagen des Angeklagten geht das Gericht im Ergebnis der Hauptverhandlung davon aus, dass dieser durch das Verhalten der später Getöteten durchaus erregt war. Deren Hartnäckigkeit, mit ihm zusammenzubleiben, habe ihn in Wut versetzt. Allerdings, so das Gericht, hat der Tatablauf eine Vorgeschichte und Schulzes Wut ist nicht plötzlich ausgebrochen. In dieser Zeit habe der Angeklagte sein Verhalten mehrmals der Situation entsprechend angepasst. Er habe keinen ernsthaften Versuch unternommen, seine Erregung zu beherrschen und zu steuern. So hat er nach Überzeugung der Richter mit der jungen Frau weiter Zärtlichkeiten ausgetauscht, nachdem er sich von ihr bereits einmal kurzzeitig ein Stück entfernt hatte. Der Angeklagte sei nicht unverschuldet in eine Affektsituation geraten.

In der Strafzumessung geht das Gericht dennoch vom ersten Urteil ab. Es sieht zwar wiederum den Mord als erwiesen an, verhängt gegen Klaus Schulze aber eine zeitliche Freiheitsstrafe von 13 Jahren und entzieht ihm für zehn Jahre die staatsbürgerlichen Rechte. Zu seinen Gunsten wird das bisherige straffreie Leben sowie das aufdringliche Verhalten der Geschädigten am Tatabend gewertet. Die Staatsanwaltschaft hatte erneut lebenslänglichen Freiheitsentzug gefordert, die Verteidigung auf Totschlag plädiert.

Die Verteidigung legt erneut Berufung ein. Diesmal bestätigt das Oberste Gericht die Auffassung der Richter in Cottbus. Damit ist das Urteil Ende März 1977 rechtskräftig.

Klaus Schulze führt sich in der Haft tadellos. Er hebt sich durch gute Arbeitsleistungen hervor. Drei Neuerervorschläge von ihm erbringen einen gesellschaftlichen Nutzen von fast 37000 Mark. Er wird mit Geldprämien und Sonderbesuchserlaubnissen belohnt. Gertrud hält weiter zu ihrem Mann.

1982 und 1984 stellt der Verurteilte Anträge auf vorzeitige Haftentlassung, die mit der guten Führung in der Haft sowie der schwierigen familiären Situation mit fünf Kinder, von denen ein Kind schwerstgeschädigt ist, begründet wird. Die Staatsanwaltschaft wendet sich dagegen, sieht das schwere Verbrechen an Undine Teschke zu diesem Zeitpunkt noch nicht genügend gesühnt. Im August 1985 öffnen sich dann für Klaus Schulze die Gefängnistore. Die Verbüßung der Reststrafe wird mit einer zweijährigen Bewährungszeit ausgesetzt.