DER VOYEUR

Der Halbendorfer See unweit der Stadt Weißwasser in der Ober-lausitz ist in den Sommermonaten ein beliebtes Naherholungsgebiet. Der zwei Kilometer lange und 500 Meter breite See ist beliebt wegen des klaren Wassers und weil man sich am Strand und auf dem Campingplatz bewegen kann wie Adam und Eva -nackt von Kopf bis Fuß. In der DDR findet die Freikörperkultur mit Beginn der 1970er Jahre immer mehr Anhänger, und so sind FKK-Strände nicht nur an der Ostsee, sondern auch im Binnenland an den vielen Gewässern der Lausitz gut besucht.

Der Mann, der auf das Treiben am FKK-Strand in Halbendorf blickt, ist durch ein Gebüsch getarnt. Er ist zweifacher Vater und zum zweiten Mal verheiratet. In Weißwasser bewohnt er eine Wohnung in einem Neubaugebiet. Im benachbarten Kraftwerk Boxberg hat der Instandhaltungsmechaniker eine geregelte Arbeit mit gutem Auskommen. Sein nach außen hin normales Leben hat seine dunklen Seiten. Magisch zieht es ihn zu den Orten, an denen sich Frauen und Männer so ungezwungen bewegen, nackt in der Sonne liegen, sich gegenseitig die Haut cremen, sich berühren und küssen, in der Sonne Volleyball oder Federball spielen - einfach die ungezwungene Freiheit genießen. Das erregt ihn. Dann kann er nicht an sich halten, muss seinen Penis in die Hand nehmen und masturbieren. Es vergeht kaum ein Tag im Sommer, an dem sich der Voyeur nicht mit seinem Moped »Star« oder dem Fahrrad auf den Weg macht, um am Halbendorfer See oder an einem der anderen größeren und kleineren Gewässer der Umgebung hinter Bäumen und Büschen versteckt zu spannen. Einmal, im Sommer 1973, ist er erwischt worden, wie er sich beim lustvollen Betrachten der nackten Menschen in aller Öffentlichkeit selbst befriedigte - 500 Mark Ordnungsstrafe. Doch das hat seine heimliche Begierde eher gesteigert als eingedämmt. Auch auf Bahnhöfen, in Toiletten und Zügen beobachtet er Frauen. Gefällt ihm eine, fängt er an zu onanieren. Seit Jahren geht das schon so. Und immer mehr setzt sich in seinem Kopf der Gedanke fest, dass es schön wäre, hübschen nackten Frauen nicht nur zuzuschauen, sondern sie auch zu besitzen.

Mitte Mai 1983 in Weißwasser. Die 18 Jahre alte Studentin Sandra Meier ist vom Bahnhof Weißwasser aus zu Fuß auf dem Weg nach Hause. Knapp fünf Kilometer sind es bis nach Gablenz, wo sie bei den Eltern wohnt. Unterwegs trifft sie ihren Bruder Sven, der mit zwei Freunden gerade vom Eishockey-Spiel der einheimischen Dynamo-Mannschaft gegen den Erz-rivalen von Dynamo Berlin aus dem Eisstadion kommt. »Hallo Schwesterchen, geh schon mal vor. Ich hol noch mein Fahrrad, komm dann nach, und wir laufen gemeinsam nach Hause«, ruft er Sandra zu. Die ist froh über die in Aussicht gestellte Begleitung und schlendert ohne große Eile die Straße entlang.

Es ist etwa 21.45 Uhr, als sie am Abzweig nach Gablenz auf der anderen Straßenseite einen Radfahrer bemerkt. Der fährt trotz der Dunkelheit ohne Licht. Der Kettenschutz klappert, es ist wohl ein älteres Gefährt, auf dem er sich bewegt. Sie schenkt dem Mann keine besondere Aufmerksamkeit, auch nicht, als der plötzlich die Straßenseite wechselt und neben ihr her fährt. »Kannst du mir sagen, wie spät es ist?«, will er von Sandra wissen. »Hab keine Uhr bei mir, muss aber so um zehn sein«, entgegnet sie. »Danke«, antwortet er höflich und radelt davon. Dass sich der Radfahrer 50 Meter voraus nach einer Kurve in einem Gebüsch in der Nähe des Sportplatzes versteckt, bemerkt Sandra nicht. Und als sie ihn sieht, ist es zu spät. Der Unbekannte springt auf sie zu und greift ihr an den Hals. Verzweifelt wehrt sich die 18-Jährige und ruft zweimal nach einer ihr bekannten Familie, die in der Nähe wohnt. Dann fehlt ihr die Luft. Der Täter schleift sie in den Straßengraben und wirft sich auf die junge Frau. Seine sexuelle Erregung ist stark, der Widerstand seines Opfers auch. Sie zieht ihn mit einer Hand an den Haaren, kratzt mit der anderen sein Gesicht auf. »Lass mich zufrieden, mein Bruder kommt gleich hier lang«, röchelt sie. Den Mann bringt das nicht zur Vernunft. Er steht auf, packt die junge Frau am Schopf und zieht sie in den Wald, der an den Straßengraben grenzt. Sandra bettelt und fleht ihn an: »Bitte, bitte, lass mich am Leben! Du kommst doch sowieso nicht durch. Mein Bruder sucht nach mir.«

Statt einer Antwort wirft der Mann Sandra zu Boden und legt sich erneut auf ihren Körper. Ihr Widerstand erlischt. »Du kannst alles mit mir machen, doch lass mich am Leben«, bittet sie wieder und wieder. Sie spürt, wie der Unbekannte ihr die Bluse hochschiebt und seine Hände ihre Brüste betatschen. Als der Vergewaltiger sie küssen will, dreht sich die junge Frau angewidert zur Seite. Der Mann zieht ihr Hose und Schlüpfer herunter und beginnt, sich seine Latzhose aufzuknöpfen. Plötzlich ertönen von der Straße Stimmen. Der Täter hält inne. Das ist Sandras Rettung. Sie läuft, nackt wie sie ist, davon und ruft verzweifelt nach ihrem Bruder Sven. Ihr Peiniger steht zunächst nur verdutzt da. Wenig später hören Sandra und Sven das schwächer werdende Klappern eines Fahrrades. Gemeinsam gehen sie zum Ort des Verbrechens und suchen Sandras Sachen zusammen.

Auf dem Polizeirevier ist Sandra Meier sich sicher, dass sie den Täter wiedererkennen würde. Sie beschreibt ihn als etwa 25 Jahre alt, von schlanker Gestalt und ungefähr 175 Zentimeter groß. Sein blondes Haar bedeckt halb die Ohren, ist nach rechts gescheitelt und reicht weit ins Gesicht. Auffällig sind die vorstehenden Backen- und Kieferknochen. Er trug eine dunkle Kombi ohne Taschen und um die Hüfte einen etwa vier Zentimeter breiten hellen Gürtel.

Mithilfe eines Phantombildes wird intensiv nach dem Täter gesucht, doch die Polizei kann ihn nicht finden.

Knapp drei Wochen später. Manuela Paulick hat sich mit Schülern ihrer Klasse aus der Erweiterten Oberschule Weißwasser zum Baden am Fichterteich bei Gablenz verabredet. Der 9. Juni ist ein herrlicher Tag. Die Sonne lacht vom blauen, wolkenlosen Himmel, und sie scheint noch heller zu strahlen als gewöhnlich.

So empfindet es Manuela. Es ist ihr 18. Geburtstag. Gut gelaunt schnappt sie sich ihr Minifahrrad mit den Badesachen auf dem Gepäckträger und ist schon bald an dem Waldweg, der zu dem kleinen, versteckt liegenden See führt. Plötzlich hört sie hinter sich ein klapperndes Geräusch. Sie sieht einen Mann auf einem älteren Fahrrad herankommen. Manuela spürt einen Stoß, fällt um und stößt mit dem Kopf gegen eine Birke. Sie weiß nicht, dass der Sturz kein gewöhnlicher Unfall auf einem schmalen Waldweg ist, sondern dass der Verursacher den Zusammenstoß gezielt provoziert hat. Er ist vom bloßen Anblick des jungen Mädchens schon sexuell erregt. In Gedanken hat er sie schon Stück für Stück entkleidet und ist mit ihr intim.

Als sich Manuela, die vom Sturz leicht benommen ist, erheben will, sieht sie ein Gesicht über sich. Der Mann, der sie vom Fahrrad gestoßen hat, lacht und verzerrt seinen Mund zur Fratze. Das blonde Haar ist durch den Wind zerzaust und hängt in die Stirn. Sie schätzt sein Alter auf 20 bis 30 Jahre. Er hat etwas Dunkles an und wirkt schlank und sportlich. Doch statt dem Mädchen beim Aufstehen behilflich zu sein, umfasst er ihren Hals und drückt mit aller Kraft zu. Manuela wird schwarz vor Augen. Sie verliert das Bewusstsein und blutet aus der Nase.

Als sie wieder zu sich kommt, ist sie allein. Der Täter ist in Richtung FKK-Strand verschwunden. Das blutverschmierte Gesicht seines Opfers hat ihn von weiteren Handlungen abgeschreckt, die sexuelle Erregung ist panischer Angst gewichen. Dem bewusstlosen Mädchen hilft er nicht. Er hat ihr Fahrrad versteckt, damit man sie nicht so schnell findet. Manuela taumelt zum See, wo sich die entsetzten Klassenkameraden um sie kümmern. Einer der Jungs schwingt sich auf sein Moped und holt den Vater herbei, der die Polizei alarmiert. Manuela muss drei Tage im Krankenhaus behandelt werden. Sie hat Hämatome an der Stirn, am Oberkörper sowie am linken Unterschenkel. Das linke Auge ist blau angeschwollen, der Hals voller Würgemale. Die Verletzungen heilen schnell, doch Angst und Alpträume lassen sie lange Zeit nicht los.

Nach den zwei Überfällen auf junge Frauen innerhalb kurzer Zeit läuten bei der Polizei die Alarmglocken. Viele Indizien deu-

ten ilarauf hin, dass es sich bei dem Täter um ein und denselben Mann handelt und dass er in den Dörfern um Weißwasser oder der Stadt selbst zu Hause ist. Die einschlägige Täterkartei wird durchforstet, Alibis werden überprüft. Doch eine heiße Spur gibt es nicht.

Tage und Wochen vergehen. Inzwischen ist es der 21. August. Der Mann, der hinter Gebüsch versteckt nackte Frauen am FKK-Strand beobachtet und sich dabei selbst befriedigt, ist wieder einmal unterwegs zu seinem Lieblingsgewässer, dem Halbendorfer See. Gegen Mittag ist er mit seinem Moped eingetroffen. Die Gelegenheit ist günstig. Es ist Sonntag, Ehefrau Gerlinde ist zur Spätschicht, und er hat frei. So kann er stundenlang ungestört die ihn erregenden Ansichten genießen. Als die Sonne schwächer wird und der Strand sich langsam leert, bricht auch er auf. Es ist 17 Uhr. Große Lust, schon jetzt wieder nach Hause in die Plattenbauwohnung zu fahren, wo die drei Kinder lärmen, die seine zweite Frau mit in die Ehe gebracht hat, verspürt der 30-jährige Mann nicht. Er kurvt mit seinem »Star« viel lieber noch durch die Lausitzer Landschaft, sieht sich in Krom-lau um, dann in Bad Muskau. Auf dem Heimweg nach Weißwasser hält der 30-Jährige in einem Wald an und sucht Pilze. Die wachsen noch nicht. Wenigstens entdeckt er einen Stock, der gut in sein großes, 600 Liter Wasser fassendes Aquarium passt. Er bricht sich das Holz zurecht und macht es auf dem Gepäckträger fest. In Krauschwitz, einer Industriegemeinde, die etwa fünf Kilometer von Weißwasser entfernt liegt, streikt sein Moped unmittelbar vor dem Freibad. Der Auspuffkrümmer hat sich gelockert. Es ist eine Kinderkrankheit des ansonsten zuverlässigen Zweirades. Auf dem Parkplatz borgt sich der Mopedfahrer von einem Autobesitzer eine Zange und zieht damit die Schrauben an der Auspuffverbindung fest. Aus den Augenwinkeln bemerkt er eine Frau mit kurzem, schwarzem Haar, die aus dem Schwimmbad kommt und mit ihrem Fahrrad davonfährt. Sie scheint etwas älter zu sein, doch ihre Figur ist tadellos. Sommerlich bekleidet mit einem roten Rock und einem weißen Trägerhemd kommen ihre Reize noch besser zur Geltung. In ihm wächst von einer Minute auf die andere das Verlangen nach einem Abenteuer mit dem schönen Wesen. Er braust der Begehrten auf dem Moped hinterher, an ihr vorbei und scheinbar von dannen auf der Straße, die quer durch einen Kiefernwald führt. Nach etwa einem Kilometer stellt er den »Star« in einem Waldweg ab und versteckt sich. Der Mann ist sich sicher, dass die attraktive Frau diese Verbindung nutzt, die den Heimweg beträchtlich abkürzt.

Er muss nicht lange warten. Ingrid Spücher fährt recht flott. Sie ist 35 Jahre alt und Mutter einer dreizehnjährigen Tochter und eines zwölf Jahre alten Sohnes. Sie wird ihre Kinder nicht wiedersehen.

Als Ingrid Spücher an ihm vorbeiradelt, versucht der Mann im Wald den Knüppel, den er zuvor vom Gepäckträger seines Mopeds genommen hat, in die Speichen des Fahrrades zu stecken. Doch die Frau ist zu schnell. Er rennt hinterher und schlägt von hinten mit dem Holz auf sie ein. Sie kommt mit dem Rad ins Schleudern und stürzt. Sofort ergreift er von hinten ihren Körper und zieht sie in den Wald in eine Bodensenke. Ingrid Spücher wehrt sich, so gut sie kann. Sie strampelt mit den Beinen, schlägt mit den Armen um sich und versucht, sich aus der Umklammerung zu befreien. Dabei schreit sie den Mann an: »Lass mich los, du Schwein!« Der drückt ihr mit einer Hand den Mund zu und würgt mit dem anderen Arm so lange, bis sie verstummt. Er holt das Fahrrad seines Opfers vom Wegesrand und schleppt es hinter ein Dickicht. Dann rennt er zu Ingrid Spücher zurück, die noch immer bewusstlos ist. Er reißt ihr die Sachen vom Leib, knöpft sich die Hose auf, entblößt sein Geschlechtsteil und manipuliert an seinem Glied. Die sexuelle Erregung ist durch den Kampf abgeklungen und der Penis erschlafft. Die nackte Frau vor ihm auf dem Waldboden beginnt zu röcheln. Die Stille des Waldes verstärkt das Geräusch. Er zieht den Gürtel aus dem Rock des Opfers, legt ihn um den Hals von Ingrid Spücher und zieht zu, bis das Röcheln aufhört. Damit die Frau nicht stirbt, löst er den Gurt ein wenig und legt ihren Kopf auf den Rand der Mulde. Damit ist sein Quantum an »Fürsorge« erschöpft, denn von seinem eigentlichen Ziel lässt der Täter nicht ab. Er berührt an den Brüsten und am Geschlechtsteil der bewusstlosen Frau und onaniert bis zum Samenerguss. Ohne sich weiter um sie zu kümmern, verlässt der Mann den Tatort, nicht ohne zuvor möglichst alle Spuren zu beseitigen. Er wischt das Fahrrad ab, um keine Fingerspuren zu hinterlassen, weicht auf dem Rückweg Passanten aus und erreicht schließlich ungesehen sein Moped. Ingrid Spücher kommt nach dem massiven Würgen und Drosseln nicht mehr zu Bewusstsein. Sie verstirbt am Tatort.

Suchtrupps der Polizei durchkämmen nach der Vermissten-meldung die Wälder rund um Weißwasser. Nachdem die Leiche gefunden ist, geht die Kripo in die Offensive. Handzettel werden gedruckt und verteilt. In Geschäften, an Badeseen und in Freibädern hängen Plakate mit einem Bild der Getöteten und dem Mithilfeersuchen der Polizei. Lautsprecherwagen fahren durch die Straßen und bitten um sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung. Belegschaften in Betrieben in Weißwasser und anderen Orten wie dem Kraftverkehr, dem Glaswerk und in den Kohlebetrieben werden mobilisiert. Auf der Lokalseite der »Lausitzer Rundschau« wird das Foto der Ermordeten veröffentlicht.

Der Mord an Ingrid Spücher ist in aller Munde. Überall wird heftig diskutiert. Auch im Kraftwerk in Boxberg. Dort arbeitet auch der im Mai 1953 in Brandis im Kreis Wurzen geborene Dietrich Bohrmann. In den Diskussionen mit den Kollegen zeigt sich der sonst eher zurückhaltende und eigenbrötlerisch veranlagte Schweißer überraschend aktiv. »Also, ich verabscheue jede Art von Gewalt und an Frauen erst recht«, lässt er mehr als einmal hören und empört sich: »Eine Frau umzubringen ist wirklich das Letzte.«

Doch all das ist gespielt. Dietrich Bohrmann ist der Mann, nach dem die Polizei wochenlang gesucht hat, der Spanner vom Halbendorfer See, der in Weißwasser Vor Jahren in der Öffentlichkeit onaniert hat und dafür bestraft wurde, der Mann, der am 21. August sein Moped vor dem Freibad in Krauschwitz reparierte und der dort durch Zufall Ingrid Spücher entdeckte.

Die Reparatur des Auspuffs an seinem »Star« mit einer geborg ten Zange wird ihm letztlich zum Verhängnis. Der Autofahrer erinnert sich an ihn. Die Besitzer von Mopeds der Marke »Star« werden ermittelt und überprüft. Unbemerkt von der Öffent lichkeit und von Bohrmann selbst schließt sich der Ring um den Tatverdächtigen. Bohrmann wird am 5. Oktober verhaftet und gesteht noch am gleichen Tag die Überfälle und versuchten Vergewaltigungen an Sandra Meier, Manuela Paulik und Ingrid Spücher. Doch er bestreitet von der ersten bis zur letzten Vernehmung, dass er je die Absicht hatte, seine Opfer zu töten.

Im Leben von Dietrich Bohrmann ist manches schiefgelaufen. Dabei steht sein Eintritt ins Leben unter einem guten Stern. Nach sieben Jahren Ehe ist Dietrich das Wunschkind der Eltern. Immerhin ist die Mutter bei der Geburt bereits 32 Jahre alt. Zwei Jahre später bekommt sie sogar noch eine Tochter. Der Vater ist Brunnenbaumeister mit einem eigenen Handwerksbetrieb und gutem Einkommen. Doch was nach außen hin so wohlgeordnet erscheint, funktioniert innerhalb der Familie nicht. Die Mutter ist weich und nachgiebig, der Vater jähzornig, braust schon bei Kleinigkeiten auf und schlägt oft brutal zu. Dietrich legt es von klein auf darauf an, bei der Mutter seinen Willen durchzusetzen, und hat damit Erfolg. Werden seine Wünsche nicht erfüllt, zertrümmert er Einrichtungsgegenstände oder schmeißt sie aus dem Fenster in den Garten. Noch mit sechs Jahren nässt der Junge das Bett, und auch den Stuhlgang beherrscht er nicht. Der Linkshänder beginnt zu stottern, als er gezwungen wird, alles mit der »richtigen«, der rechten Hand zu tun.

Dietrich wird zur Kur geschickt, und bald stellen sich Besserungen ein. Doch die sind nicht von Dauer, weil die Eltern nicht in der Lage sind, das Kind mit Konsequenz und Liebe zu erziehen. Auch die Geschwister untereinander vertragen sich nicht. Heimaufenthalte folgen und die ersten Straftaten. Seit seinem 14. Lebensjahr stiehlt Dietrich Bohrmann, was ihm unter die Finger kommt: Geld, Zigaretten, Brieftaschen, Fahrräder,

Mopeds. Er rennt von zu Hause weg, wird in Rostock aufgegrif-fen, will dann in den Westen abhauen.

Auch seine sexuelle Entwicklung verläuft nicht normal. Mit fünf Jahren »beriecht« er seine Schwester und mit großer Inten-sität deren Freundin, wobei es ihm im Bauch kribbelt.

Mit Beginn der Pubertät fährt Dietrich abends in der Gegend herum und klettert über Dächer, um Frauen beim Ausziehen zu beobachten.

Mit 18 Jahren heiratet Dietrich Bohrmann eine gleichaltrige Schulfreundin aus der Berufsschule. Sie ist seine erste Intim-partnerin. Es ist eine Vernunftehe, weil sie von ihm ein Kind erwartet. Schon kurz nach der Hochzeit vernachlässigt der junge Mann seine Partnerin. Einmal im Monat Sex mit ihr, zu mehr hat er kaum Lust. Die Selbstbefriedigung hinter tarnen-dem Gebüsch beim Anblick nackter Frauen gefällt ihm besser. Die Ehe zerbricht, als Dietrich Bohrmann zu zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt wird, weil er betrunken einen Verkehrsunfall verursacht und dabei eine Frau verletzt hat. Auch später kommt er noch einmal mit dem Gesetz in Konflikt. Just an dem Tag, an dem er Sandra Meier überfällt, wird eine Strafe von acht Monaten Freiheitsentzug wegen Körperverletzung rechtskräftig, die zur Bewährung ausgesetzt ist.

Als er nach der ersten Verurteilung aus dem Gefängnis kommt, erfahrt er, dass sich seine Frau mit anderen Männern getröstet hat. Beide versuchen noch einmal, die brüchige Verbindung zu kitten. Doch auch mit einem zweiten Kind, das sie zeugen, gelingt das nicht. Die Ehe wird geschieden. Er wendet sich einer Freundin seiner Noch-Frau zu, zieht in deren Wohnung und heiratet sie später. Die neue Partnerin, deren Namen er annimmt, bringt drei Kinder mit in die Ehe, die bis zu seiner Verhaftung unauffällig verläuft. Für kurze Zeit unterdrückt er sein voyeuristisches Verlangen, das ihn dann aber umso stärker beherrscht. Der psychologische Gutachter erkennt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Dietrich Bohrmann für seine Taten nicht voll verantwortlich sein soll. Voyeurismus, Exhibitionismus und Fetischismus sind nicht die Ursache für die aggressive sexuelle Entladung, sondern seine triebhaft zunehmende Begierde. Er war sich bei der Planung und Verwirklichung der Taten stets bewusst, was er tat, schätzt der Gutachter ein.

Das Bezirksgericht Cottbus verurteilt Dietrich Bohrmann wegen Mordes und versuchter Vergewaltigung an Ingrid Spücher sowie wegen versuchten Mordes und versuchter Vergewaltigung an Manuela Paulick sowie versuchter Vergewaltigung und sexueller Nötigung von Sandra Meier zu lebenslanger Freiheitsstrafe.

Im September 1984 ändert das Oberste Gericht der DDR das Urteil der Cottbuser Richter in Schuld- und Strafausspruch ab. Es glaubt dem Angeklagten, dass er seine Opfer nie töten wollte. Eine Mordabsicht sei ihm nicht zu beweisen. Der fünfte Strafsenat verhängt gegen Dietrich Bohrmann wegen versuchter Vergewaltigung im schweren Fall und mit Todesfolge an Ingrid Spücher sowie wegen versuchter Vergewaltigung mit Nötigung zu sexuellen Handlungen an Sandra Meier und wegen schwerer Körperverletzung von Manuela Paulick eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren.

Dietrich Bohrmann, der Voyeur vom Halbendorfer See, der Vergewaltiger und Totschläger aus Weißwasser wird Anfang April 1993 auf Beschluss des Landgerichtes Bautzen auf Bewährung aus dem Justizvollzugskrankenhaus Leipzig-Meusdorf entlassen, in dem er zuletzt seine Freiheitsstrafe verbüßte. Ein Gutachter hatte zuvor die Rückfallgefahr des Mannes als »sehr unwahrscheinlich« eingestuft. Er irrte, wie sich schon sechs Monate später herausstellt. Bohrmann missbraucht mit einem Komplicen im Oktober 1993 in Leisning vor den Toren von Leipzig ein zehn Jahre altes Mädchen. Während der Mittäter sein Verbrechen gesteht und im September 1994 vom Landgericht Leipzig zu einer mehrjährigen Haffstrafe verurteilt wird, versucht Dietrich Bohrmann mit allen Mitteln, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er bestreitet sowohl bei der Polizei als auch später vor Gericht, dass er sich an dem Kind sexuell vergangen habe. Vor dem Prozess im September 1994, in dem er gemeinsam mit dem Komplicen auf der Anklagebank sitzen sollte, nimmt er eine Überdosis Tabletten und wird dadurch für kurze Zeit bewusstlos. Ein ernsthafter Selbstmordversuch ist das nach Einschätzung von Fachärzten jedoch nicht. Doch er hat Zeit gewonnen, denn das Verfahren gegen ihn wird zunächst ausgesetzt.

Dietrich Bohrmann hatte im Leipziger Gefängniskrankenhaus Klaus Jonas kennengelernt. Sie sprechen über ihre Vorstrafen, und dabei erfährt Bohrmann von der sexuellen Veranlagung seines Freundes, dessen Vorliebe für Kinder, und findet selber Gefallen daran. Nach Bohrmanns Entlassung-Jonas muss weiter seine Haftstrafe verbüßen - bleiben beide in Kontakt. In der Fantasie treibt Bohrmann es jetzt selbst mit Mädchen und Jungen und betrachtet sich dabei pornografische Bilder von nackten Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren. Eines Tages berichtet ihm Jonas von einer Frau, die er Silvester 1992 In Leipzig per Zeitungsannonce kennengelernt und die er bis Mitte 1993 mehrfach besucht hat. Viel mehr als die Frau gefiel Ihm jedoch deren zehnjährige Tochter Mandy. Sein sexuelles Verlangen nach dem aufgeweckten und körperlich zarten Mädchen bleibt auch erhalten, als die Beziehung zur Mutter längst beendet ist. In seiner Zelle schmiedet Jonas einen perfiden Plan, in den er seinen Kumpel Bohrmann einweiht.

Jonas macht sich die Begeisterung von Mandy für den Fechtsport zunutze. Mit der Schreibmaschine fertigt er eine Einladung für das Kind zu einem Fechtturnier und bestellt es für den 2. Oktober 1993 um 9 Uhr in die Nähe der Gaststätte »Rennbahn«. Für diesen Tag ist der Hafturlaub für Jonas bereits genehmigt. Bohrmann erhält per Kassiber den Auftrag, ein Auto zu besorgen sowie eine Schreckschusspistole und Reizgas mitzubringen.

Verabredungsgemäß mietet dieser einen viertürigen blauen Pkw »Seat Ibiza« und holt damit zunächst Klaus Jonas ab. Sie fahren zur »Rennbahn«. Dort steigt das Mädchen nichtsahnend ins Auto und nimmt neben Jonas, den sie kennt, auf dem Rücksitz Platz. In Leisning vor Leipzig kommt es zu einem Unfall. Bohrmann, der den Wagen steuert, hat die Vorfahrt nicht beachtet.

Um der anrückenden Polizei zu entgehen, überredet Jonas das Kind zu einem Spaziergang. Eine halbe Stunde später werden sie von Bohrmann wieder an Bord genommen. Die Fahrt endet außerhalb der Ortschaft Leisning an einem abgelegenen Feld. Jonas hält dem Mädchen die Schreckschusswaffe vors Gesicht und fordert es auf, sich auszuziehen. »Wenn du machst, was ich dir sage, tue ich dir nichts«, versichert er der Zehnjährigen, die weint und vor Angst zittert. Zögernd legt sie ihre Oberbekleidung ab, das Übrige erledigt Jonas. Als das Kind nackt auf der Rückbank liegt, zieht auch er sich aus und legt sich auf das Kind. Mehrmals küsst er es auf den Mund und die Scheide und presst schließlich seinen entblößten und erigierten Penis zwischen Mandys Beine. Danach steigt er aus und überlässt Dietrich Bohrmann das völlig verängstigte Mädchen. Der vergeht sich ebenfalls an Mandy. Nach dem sexuellen Missbrauch fahren die Täter mit dem Kind zurück nach Leipzig. Jonas kauft an einer Tankstelle Süßigkeiten und ein Kuscheltier und droht: »Wehe, du erzählst deiner Mutti etwas. Dann passiert ein Unglück.«

Aus Angst und Ekel schweigt Mandy. Sie wird von Alpträumen heimgesucht, schreit im Schlaf und fantasiert. Ihre schulischen Leistungen verschlechtern sich rapide. Erst nach und nach erfährt die Mutter, was ihr ehemaliger Bekannter Klaus Jonas und dessen Freund ihrem Kind angetan haben. Auch bei der Polizei fällt es dem Mädchen zunächst sehr schwer, die Qual in allen Einzelheiten zu schildern. Mandy wird zur Kur geschickt und psychologisch betreut.

Trotz erdrückender Beweise leugnet Bohrmann beharrlich das Verbrechen. Nach seiner Version hatte er Jonas lediglich versprochen, ihn sowie das Kind einer Freundin nach Halle zu fahren. Auf der Fahrt sei es zu dem Unfall gekommen. Er habe danach wegen der ganzen Aufregung kaum noch das Auto vernünftig lenken können. Zum Glück sei in Leisning ein Kumpel von Jonas aufgetaucht. Dieser habe ihm verblüffend geähnelt. Dem habe er den geliehenen Pkw zur Weiterfahrt übergeben, und er sei nach Leipzig zurückgetrampt, wo er mit einem Freund, einem ehemaligen Knastbruder, und dessen Partnerin

in einem Cafe verabredet war und sich dort auch mit ihnen getroffen habe.

Die Polizei vernimmt die beiden Beteiligten am Verkehrsunfall bei Leisning. Unabhängig voneinander erkennen die Zeugen auf Fotos von zehn verschiedenen Männern Dietrich Bohrmann als Fahrer des Autos, von dem sie gerammt wurden. Der sei nach dem Unfall auch nicht besonders aufgeregt gewesen und nach der Unfallaufnahme allein mit dem Auto davongefahren. Eine weitere Person sei nicht hinzugekommen. Sie erinnern sich an das Mädchen im Fonds des Fahrzeugs und an den Mann, der mit dem Kind kurzzeitig davongegangen war. Auch im Gerichtssaal identifizieren sie Bohrmann. Dort muss er sich im Januar 1995 für den sexuellen Missbrauch an Mandy verantworten. Dem Kind bleibt es nicht erspart, über das Martyrium noch einmal zu sprechen. Mandy versichert, dass Dietrich Bohrmann und kein unbekannter Dritter sie sexuell missbraucht habe. Die Schilderungen der Tat bei der Polizei, gegenüber der Gutachterin und im Prozess selbst sind identisch. Der Verteidigung gelingt es nicht, die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage des Mädchens zu erschüttern, die zudem durch eine Kinderpsychologin bestätigt wird.

Von den beiden Entlastungszeugen, die Bohrmann benannt hat, ist das nicht zu sagen. Diese geben ihm zwar ein Alibi. Doch glaubhaft ist es nicht. Wie schon bei den polizeilichen Vernehmungen verstricken sie sich auch vor Gericht in Widersprüche.

Bohrmann unternimmt noch einen letzten Versuch, möglichst ungeschoren davonzukommen. Als das Landgericht Leipzig den Befund der Gehirnuntersuchung der Medizinischen Akademie Dresden aus dem Jahre 1984 heranziehen will, protestiert Bohrmann gegen dessen Verwertung. Die sei damals gar nicht vorgenommen, sondern von der Stasi verhindert worden, behauptet er. Das Gericht gibt ein neues Gutachten in Auftrag mit dem Ergebnis, dass beide Befunde vollständig übereinstimmen. Der Angeklagte ist aus medizinischer Sicht gesund und f ür seine Taten voll verantwortlich.

Das Landgericht Leipzig verurteilt Dietrich Bohrmann wegen sexueller Nötigung und sexuellem Missbrauch eines Kindes zu sechs Jahren Freiheitsentzug.

Bohrmann zieht auch aus dieser Verurteilung keine Lehren. Seit März 2006 sitzt er wieder im Gefängnis. Erneut hat er eine Frau überfallen, schwer verletzt und zu sexuellen Handlungen genötigt. Dietrich Bohrmann wird nie wieder freikommen. Das Gericht hat nach Verbüßung der Strafe die unbefristete Sicherungsverwahrung für ihn angeordnet.