DOPPELMORD IM HINTERHAUS
Cottbus im Winter 1975, fünf Tage vor Weihnachten. Es ist 3 Uhr morgens. Kaum ein Mensch ist zu dieser frühen Zeit auf den Straßen. Hin und wieder rumpeln Lastkraftwagen der Typen W 50 oder LO durch die Straßen, beladen mit Milch für Kauf hallen und Schulen oder mit Backwaren, die von der Großbäckerei zu den Handelseinrichtungen in der Stadt und der Umgebung gefahren werden. Nur hinter wenigen Fenstern in den Plattenbauten an den Peripherien der jüngsten Großstadt der DDR und in den altehrwürdigen und teils verfallenen Häusern in der Stadtmitte brennt Licht. Vor den Nachtschichtlern in den umliegenden Tagebauen, Brikettfabriken oder Kraftwerken liegen noch einige Stunden Arbeit. Die Frauen und Männer, die sie ablösen werden, genießen ihren Schlaf.
Bei Magdalene Bogner klingelt just in diese Stille hinein der Wecker. So wie jeden Tag in der Woche. Nach einem Blick auf die Uhr dreht sie sich noch einmal um. Wenig später schiebt sie das Federbett beiseite. Die Raumpflegerin ist das frühe Aufstehen gewöhnt. Bis zum Arbeitsbeginn bleibt ihr eine gute halbe Stunde. Ihre Arbeitsstelle, das »Haus des Handwerks« auf dem Cottbuser Altmarkt, liegt nur einen Katzensprung entfernt von ihrer Wohnung.
Gegen 3.45 Uhr trifft sie im Sitz der Handwerkskammer des Bezirkes Cottbus ein. Der Tag beginnt wie immer - fast wie immer. Ihr fällt auf, dass das Hinterhaus des Gebäudekomplexes, anders als sonst, in völliger Dunkelheit liegt. Dort wohnt Familie Ragow. Dabei müsste Hertha Ragow schon auf den Beinen sein, denn auch sie geht putzen.
Hat Hertha Ragow verschlafen? Ist sie krank? Hat sie Urlaub? So richtig macht sich Magdalene Bogner keine Gedanken. Sie arbeitet: Papierkörbe entleeren, Staub wischen, Fußböden reinigen. Das »Haus des Handwerks« hat viele Büros, und mit ihrer Kollegin Anna Bubner muss sie sich sputen, damit alles vor Arbeitsbeginn der Angestellten fertig ist.
Inzwischen ist es 4:30 Uhr. Die Raumpflegerinnen legen eine Pause ein. Sie brühen Kaffee auf und wickeln die Frühstücksbrote aus. Plötzlich hören sie Schritte in dem stillen Haus. »Bestimmt ist Hertha Ragow zu spät aufgewacht und hastet nun zur Arbeit«, denkt sich Magdalene Bogner.
Dann rumort es im Treppenhaus. Das Klappern von Schlüsseln dringt zu den beiden Frauen. Jemand schließt die Telefonzentrale auf, kurz danach klappt eine Tür. Die Putzfrauen hören eine aufgeregte männliche Stimme. Schreck fährt den beiden Frauen in die Glieder. Vorsichtig blicken sie aus der kleinen Kaffeeküche hinaus auf den langen Korridor. Dort ist nichts zu sehen. Sie wollen sich schon wieder an den Pausentisch setzen, als ein Mann aus der Telefonzentrale kommt. Er hastet auf Magdalene Bogner und Anna Bubner zu. Seine rechte Hand ist blutüberströmt, und Blut tropft von ihr auf den Fußboden. »Ruft den Notarzt. Bei den Ragows ist etwas passiert«, stößt er aufgeregt hervor und rennt zum Hinterhaus. Magdalene Bogner wählt den Notruf 110 um 4:40 Uhr.
Ein Streifenwagen der Polizei rast heran. Der Diensthabende des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) schickt einen Krankenwagen los. Die Sanitäter fordern zehn Minuten später die »Dringliche Medizinische Hilfe« an. Gegen 5 Uhr trifft der Notarzt ein. Er findet Hertha Ragow, die im Flur der Hinterhauswohnung in einer Blutlache auf dem Boden liegt. Der Arzt kann weder ihr noch ihrem Mann Max helfen, der zusammengesunken neben der Toilette hockt. Beide Opfer haben Stichwunden im Oberkörper und sind tot. Es ist offensichtlich, dass sie ermordet wurden. Im Kinderzimmer des Hauses wimmert die 16-jährige Juliane vor sich hin. Sie ist im Brustbereich verletzt, stellt der Arzt fest. Neben ihr kauert der Mann, der die Raumpflegerinnen im »Haus des Handwerks« alarmiert hat. Er hält sich mit der linken Hand das rechte Handgelenk. Ein paar Tropfen Blut sickern durch seine Finger auf den Boden. Alkoholdunst umweht ihn. Er und das Mädchen werden in das Bezirkskrankenhaus Cottbus eingeliefert. Die Morduntersuchungskommission der Polizei wird mobilisiert.
Rückblende. Am 18. Dezember um 19.30 Uhr fährt der Eilzug aus Wilhelm-Pieck-Stadt Guben auf dem Bahnhof in Cottbus ein. Aus einem Wagen der zweiten Klasse steigt Harry Wegmann. Der 27 Jahre alte Mann ist von athletischer Gestalt. Gepäck hat er nicht bei sich. Nur ein unscheinbarer Waschbeutel baumelt ihm von der Schulter. Wegmann schlendert durch die Stadt. Er besucht verschiedene Gaststätten, trinkt Bier, brütet vor sich hin. Anspannung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Kneipentour führt den Maurer aus dem Wohnungsbaukombinat später in die Gaststätte »Schlachteplatte«. Dort kauft er eine Flasche Likör der Marke »Halb und Halb«. Zuletzt landet der unstetig wirkende Mann in der Mitropa am Bahnhof. Diese Gaststätte hat am längsten geöffnet. Mit jedem Bier, das er in den vergangenen Stunden getrunken hat, haben sich Wut, Enttäuschung, Verzweiflung und Hass in ihm gesteigert. Seit drei Wochen brodelt es schon in ihm - seit ihn am 25. November ein Brief von seiner 16-jährigen Freundin Juliane Ragow erreichte. Er hatte die Schülerin Mitte August, unmittelbar nachdem er aus dem Gefängnis gekommen war, kennengelernt. Dort hatte er wegen versuchter Vergewaltigung seine zweite Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verbüßt. Bereits 1969 hatte das Militärgericht Dresden gegen den Panzersoldaten wegen vollendeter Vergewaltigung eine Haftstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verhängt. Immer war es der Alkohol, der ihn aggressiv, unberechenbar und hemmungslos machte. Zehn Bier und zehn kleine Schnäpse waren die Tagesration.
Im Knast hat er sich geschworen, mit der Sauferei aufzuhören. Als er Juliane kennenlernt, soll diese sein Halt sein. Schnell kommen sich der 16-jährige Teenager und der gutaussehende schwarzhaarige muskulöse junge Mann näher. Wegmann hat Erfahrung mit Frauen. Sie liegen ihm zu Füßen oder werden -wie seine Vorstrafen beweisen - von ihm mit Gewalt genommen. Einmal schon war er verlobt. Mit seiner Exfreundin hat er einen gemeinsamen Sohn. Trotz des Kindes zerbrach die Beziehung, weil er dem Alkohol übermäßig zusprach und dann schnell jähzornig und gewalttätig wurde. Betrunken hatte er der Frau, die er heiraten wollte, mehrfach gedroht: »Ich schlage dich tot«, um dann, wieder nüchtern, reuevoll Besserung zu geloben.
Anfangs läuft es gut mit seiner neuen Freundin. Nach wenigen Tagen kommt es zum intimen Kontakt. Juliane wird kurz nach der ersten Liebesnacht schwanger. Als Wegmann erfährt, dass er nicht der erste Mann im Leben der Heranwachsenden ist, reagiert er gereizt. Seine guten Vorsätze schlagen ins Gegenteil um. Eifersucht nagt an ihm. Er sieht in Gedanken, wie sich seine Freundin mit anderen Jungs amüsiert, wenn er in Guben und nicht bei ihr in Cottbus ist. Obwohl es dafür keine Anhaltspunkte gibt, wachsen die Spannungen. Das Paar streitet sich oft und immer heftiger. Wegmann droht Juliane: »Ich überlasse dich keinem anderen. Wenn du mich verlässt, bringe ich mich um.«
Und nun dieser Brief von seiner Freundin. Juliane macht darin Schluss. Harry Wegmann rennt vom Briefkasten zum Telefon, fleht die Geliebte an, zu ihm zu halten, sie erwarte doch ein Kind von ihm. Er fährt nach Cottbus, einmal, zweimal, dreimal. Juliane bleibt bei ihrer Entscheidung, zumal die Eltern, vor allem die Mutter, die Beziehung zu dem älteren Freund nur mit vielen Vorbehalten akzeptiert, sie aber nie aus vollem Herzen begrüßt hatten. »Juliane gehört mir, sonst keinem« - der Gedanke wird immer stärker.
Inzwischen ist der neue Tag bereits eine Stunde alt. Die Mit-ropa-Gaststätte schließt. Harry Wegmann macht sich auf den Weg, bereit, seinen Plan zu verwirklichen. Mut und Kaltblütigkeit dafür hat er sich seit 17 Uhr aus drei Flaschen und zehn Glas Bier angetrunken.
Alles, was er für sein Vorhaben braucht, steckt im Waschbeutel, in Hosen- und Jackentaschen. Im Betrieb hat sich Wegmann aus einem großen Nagel einen Dietrich geformt. Vor Antritt der Fahrt hat er zudem ein Fahrtenmesser mit stabiler Klinge und ein Campingbeil gekauft. Zu seiner Ausstattung gehört außerdem eine Rasierklinge.
Seit dem Aufbruch aus dem verräucherten Lokal ist eine dreiviertel Stunde vergangen. Dann steht Wegmann vor dem »Haus des Handwerks« auf dem Cottbuser Altmarkt. Von der Klosterstraße aus betritt er den Hof der Familie Ragow. Er weiß von früheren Besuchen bei Juliane, dass er nicht direkt in die Wohnung eindringen kann. Ein Riegel versperrt von innen die Haustür. Doch es gibt einen anderen Zugang, über einen angrenzenden Saal. Mit mitgebrachten Schlüsseln und dem Dietrich gelingt es, zwei Türen zu öffnen. Wegmann steht im Haus. Der Eindringling schleicht am Elternschlafraum vorbei die Treppe hinauf ins Obergeschoss, wo seine Freundin ihr Zimmer hat. Harry Wegmann rüttelt sie wach und fordert sie auf, zu ihm zurückzukehren. »Du liebst mich doch und bekommst ein Kind von mir«, sagt er und behauptet, dass sie nur dem Drängen der Eltern nachgegeben habe. Während des Gesprächs holt er das Fahrtenmesser aus dem Waschbeutel hervor und legt es auf die Kopfseite des Bettes. Juliane achtet nicht darauf. Unmissver-ständlich macht sie dem Exfreund klar, dass wirklich Schluss sei, und zwar nicht, weil die Eltern es so wollen, sondern weil sie seine Eifersucht, seine Drohungen und Wutanfälle nicht mehr ertragen kann.
Wegmann will Julianes Entschluss nicht akzeptieren. »Erstich mich!«, fordert er Juliane auf und greift nach dem Messer. Er gibt es ihr jedoch nicht, sondern geht auf sein Opfer los. Erst jetzt erkennt das Mädchen die Gefahr des Augenblicks. »Mutti, Mutti«, ruft es und versucht, vor dem Täter zu flüchten. Juliane kommt jedoch nur bis zum Fußende des Bettes. Wegmann ergreift sie, hält mit der rechten Hand ihren Mund zu, sticht mit dem Fahrtenmesser in der linken Hand auf den Oberkörper des Opfers ein. Seine Freundin blutet und verliert das Bewusstsein.
Durch den Krach und die Schreie der Tochter aus dem Schlaf geschreckt, hastet Hertha Ragow die Treppe hoch. Wegmann ist auf das Kommen vorbereitet, hat die Situation in den letzten Tagen in Gedanken mehrfach durchgespielt. Er löscht das
Licht im Kinder- und Wohnzimmer, geht zur Flurtür, durch die die Eltern kommen müssen. Als Hertha Ragow zur Tochter will, sticht der Täter sie nieder. Die Mutter versucht vergeblich, mit den Händen Gesicht und Körper zu schützen. Sie stürzt zu Boden, stöhnt mehrfach auf und bleibt dann regungslos liegen.
Kurt Ragow folgt wenig später seiner Frau. Im Flur erkennt er den Mann mit dem Messer in der Hand. »Harry, was machst du? Bleib ein Mensch«, fleht er ihn an. Wegmann schreit ihn an: »Du bist doch selbst schuld. Hast mich zum Mörder gemacht.« Dann rammt er ihm mit aller Kraft das Messer in den Bauch. Der Mann bricht zusammen, versucht, sich mit letzter Kraft aufzurichten. Es gelingt ihm nicht.
Wegmann wendet sich ab, ohne sich um die Opfer zu kümmern. Er geht in das Kinderzimmer und schaltet die Nachttischlampe ein. Plötzlich hört er Juliane wimmern: »Vati, wo bist du, hilf mir!« Sie fordert ihren Exfreund auf, den Vater zu ihr zu bringen. Wegmann schleppt den blutenden Mann an das Bett des Mädchens. Dieser bittet nach kurzer Zeit, wieder auf die Toilette gebracht zu werden. Der Täter tut das Verlangte. Er ist überzeugt, dass sein Opfer sterben wird.
Wegmann begibt sich erneut zu Juliane. Er holt aus dem Waschbeutel die Rasierklinge hervor, greift zur Flasche »Halb und Halb« und trinkt daraus in großen Schlucken. Er selbst will keine Schmerzen haben, wenn er sich die Pulsadern aufschneidet. Mit der Klinge ritzt er am rechten Handgelenk, bis es blutet. Dann setzt er sich vor Julianes Bett. »Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht«, jammert er wieder und wieder.
Etwa zehn Minuten vergehen. Juliane bittet ihren Peiniger, Hilfe zu holen. Den überkommt so etwas wie Reue. Juliane ist noch so jung, und sie erwartet ein Kind von ihm. Er rennt hinüber zum »Haus des Handwerks«.
Hertha und Kurt Ragow sind durch die schweren Stichverletzungen innerlich verblutet. Bei der Obduktion stellen die Gerichtsmediziner bei der Frau vier Stiche in die Brust fest. Einer hat die Lunge getroffen. Bei ihrem Mann haben die Messerstiche in den Oberbauch die Leber und die große Körperschlagader zerstört. Beide Opfer hatten höchstens in den ersten 30 Minuten eine Überlebenschance.
Die Verletzungen bei Juliane Ragow sind weniger schwer. Die zwei Stiche in den Brustkorb haben die Brustwand nicht durchstoßen. Das größere Problem aus medizinischer Sicht ist der Schock, den sie erlitten hat. Sie ist zwar ansprechbar, aber völlig apathisch. Einen Tag vor Silvester kann Juliane Ragow aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Wegmann stellt sich bei der Einlieferung ins Krankenhaus bewusstlos, doch sein Täuschungsmanöver misslingt. Die Verletzung am rechten Handgelenk ist minimal. Die Wunde blutet schon längst nicht mehr. Die Ärzte diagnostizieren das Öffnen der Pulsader lediglich als »Probierschnitt«.
Die Staatsanwaltschaft Cottbus beantragt noch am gleichen Tag Haftbefehl für Harry Wegmann. Das Kreisgericht Cottbus-Stadt verhängt gegen ihn umgehend Untersuchungshaft.
In den folgenden Wochen und Monaten wird Wegmann mehrmals vernommen. Die Kriminalisten der MUK vergleichen die trasselogischen, daktyloskopischen und Faserspuren vom Tatort, die in einem kriminaltechnischen Gutachten der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei bewertet werden, mit den Aussagen des Beschuldigten. Die Eltern von Harry Wegmann werden zur Entwicklung ihres Sohnes vernommen.
Ende Juni 1976 erhebt die Staatsanwaltschaft Cottbus Mordanklage gegen Harry Wegmann. Die Anklageschrift umfasst dreizehn Seiten.
»Der Beschuldigte hat in brutaler und kaltblütiger Weise das Leben von zwei Menschen vernichtet und ein weiteres Menschenleben angegriffen«, heißt es darin. Und weiter: »Das Motiv der verbrecherischen Handlungen des Beschuldigten ist von krassem Egoismus und beispielloser Rücksichtslosigkeit geprägt. Weil die Geschädigten sich nicht den egoistischen Wünschen und Vorstellungen des Beschuldigten unterordneten, wurden sie von ihm kaltblütig beseitigt.«
Der Lebensweg von Harry Wegmann war bereits vor den Morden alles andere als geradlinig und konfliktfrei. Mit sexuellen Entgleisungen hatte er, wie bereits erwähnt, mehrfach die Grenzen des Gesetzes überschritten. Bereits 1966 muss-te sich Wegmann als 18-Jähriger vor der Konfliktkommission seines damaligen Betriebs wegen Verbreitung pornografischer Bilder verantworten. Er kam mit einer Verwarnung der ehrenamtlich tätigen Kommissionsmitglieder davon. In Guben war er als Großkotz bekannt. Gern gab er sich als Mitarbeiter der Staatssicherheit aus oder als Fahrlehrer. Er belästigte mehrfach Mädchen und Frauen sexuell. Sie waren für ihn nur Objekte zur Befriedigung seiner Bedürfinisse. Mit 17 Jahren hatte er nach eigenen Angaben das erste Mal sexuellen Kontakt mit einem Mädchen. In der Folgezeit will er etwa 20 Sexualpartnerinnen gehabt haben. Zudem war Alkohol sein ständiger Feierabend-Begleiter.
1968 wurde Wegmann zur Nationalen Volksarmee der DDR eingezogen. Er gehörte zunächst einem Unteroffiziers-Ausbildungsregiment in Weißkeißel an, einem Armeestützpunkt unweit der deutsch-polnischen Grenze. Später war er dann im Panzerregiment in Cottbus stationiert. Seine Vorgesetzten hatten mehr Ärger als Freude mit ihm. Er war labil, starrsinnig, überheblich und von sich eingenommen, schrieben sie ihm in die Akte. Allein von Juli bis Dezember 1968 wurde Wegmann vier Mal bestraft, belobigt aber nie. Während eines Ausgangs vergewaltigt er das erste Mal eine Frau. Die Strafe von zwei Jahren und neun Monaten musste er nicht voll verbüßen. Ein knappes Jahr wurde ihm zur Bewährung erlassen.
In der Strafvollzugseinrichtung Bautzen hatte er sich gut den Gegebenheiten angepasst. Er trat nach Einschätzung der Anstaltsleitung politisch korrekt auf, spielte in der Gemeinschaft eine positive Rolle und arbeitete hart an sich. Er ordnete sich ein und war diszipliniert.
Wegmann konnte die Freiheit jedoch nur kurz genießen. Es gelang ihm nicht, Sexualtrieb und Alkoholgenuss zu steuern. Wegen versuchter Vergewaltigung wurde er im März 1971 zu 42 Monaten Gefängnis und zur Verbüßung der auf Bewährung ausgesetzten Reststrafe aus dem ersten Prozess verurteilt. Am 24. Juli 1975 ist die Strafe verbüßt. Von einer therapeutischen Behandlung findet sich in den Akten nichts.
Trotzdem scheint es, dass er endlich Lehren aus seinem bisherigen Leben gezogen hat. Im Wohnungsbaukombinat Cottbus, in dem er seit August 1975 beschäftigt ist, entwickelt er sich zu einem guten Arbeiter mit handwerklichen Fähigkeiten. Er meistert schwierige Situationen und ordnet sich gut in seine Brigade ein. Die Kollegen schätzen seine Hilfsbereitschaft. Alkohol trinkt er auch nicht mehr. Als er den Brief von Juliane Ragow erhält, greift er wieder zur Flasche.
Bei der medizinischen Untersuchung in der Psychiatrie der Strafvollzugseinrichtung Waldheim, die seine Schuldfähigkeit für die Morde an den Ragows feststellen soll, macht Harry Wegmann zu seinen inneren Konflikten bemerkenswerte Angaben. Bereits während der letzten Inhaftierung hätte er sich vor der Entlassung regelrecht gefürchtet, weil er glaubte, zu einem Gewaltverbrechen fähig zu sein. Der Umgang mit Räubern und Mördern im Gefängnis hätte ihn in seinen Befürchtungen bestärkt. Deshalb wollte er in der Haft auch einem Nervenarzt vorgestellt werden, gibt er an. »Ich habe mich in meiner Haut ganz und gar nicht wohl gefühlt. Ich war einfach noch nicht so weit, dass ich entlassen werden konnte«, sagt er den Ärzten in Waldheim.
Was davon ist Wegmann zu glauben? Bei der Untersuchung in der Psychiatrie gibt er sich kooperativ und ist ausgesprochen höflich. Er will offensichtlich bei Ärzten und Pflegepersonal einen guten Eindruck hinterlassen. Die Untersuchungen und Unterhaltungen mit ihnen aber bewertete er als sinnlos. »Für mich gibt es ohnehin nur den Tod. Sofern das nicht im Urteil geschieht, muss ich Selbstmord begehen«, bekommen die Gutachter mehrfach zu hören.
Im Widerspruch dazu steht allerdings ein ganz anderes Verhalten des Harry Wegmann in dieser Zeit. Massiv versucht er, Verbindung mit weiblichen Strafgefangenen aufzunehmen, wie abgefangene Briefe belegten. Nahezu glorifizierend beschreibt er darin die Gründe seiner Inhaftierung. Mal nennt er fahrlässige Tötung als Grund für seinen Gefängnisaufenthalt, bei einer anderen Gelegenheit von der Verletzung der Aufsichtspflicht als verantwortlicher Bauingenieur. Er schwärmt gegenüber seinen Angebeteten vom zukünftigen gemeinsamen Glück und droht umgehend mit dem Abbruch der »sowieso illegalen Verbindungen«, wenn ihm deren Antworten nicht behagen. Als er bemerkt, dass die Briefe den Ärzten bekannt sind, spielt er den unangenehm Berührten. Demonstrativ fügt er sich mit einem stumpfen Plastikmesser einen Schnitt in der rechten Ellebogen-Beuge zu. Ernstlich verletzen wollte er sich nach Einschätzung der Ärzte damit nicht.
Harry Wegmann sieht sich auch nach den brutalen Morden an den Ragows als Opfer. Dieses Befinden zieht sich durch sein ganzes Leben. Aufgewachsen mit vier Geschwistern fühlt er sich schon in der Schule falsch verstanden. Die sechste Klasse muss er wiederholen. Nicht anders empfindet er zu Hause. »Schon als Kind hatte ich immer an allem Schuld«, sagt er den Psychiatern. Von der Mutter habe er »sehr viel Senge« bekommen. Sie wäre genauso jähzornig wie er. Zum Vater sei das Verhältnis besser gewesen. Doch auch der habe hin und wieder geäußert: »Dich schlage ich noch tot.« Letztlich stellen die Ärzte fest: »Die Beziehung zu den Eltern ist ausgesprochen hassgefärbt.« Wegmann bestätigt diese Erkenntnis. »Ich hasse jetzt alles, was es gibt, auch meine Eltern, weil alles schief gegangen ist.« Er habe bei jedem Unfug und bei allen Jugendstreichen mitgemacht. Deshalb sei damals sogar das Jugendamt auf ihn aufmerksam geworden. Die Eltern hätten sich jedoch immer wieder herausreden können. »In dieser Zeit ist mir klar geworden, wie man sich der Verantwortung entzieht«, so Harry Wegmann bei der Begutachtung.
Im August 1976 findet der Prozess gegen den gelernten Maurer aus Guben vor dem ersten Strafsenat des Bezirksgerichtes Cottbus statt. Wie schon im polizeilichen Ermittlungsverfahren gesteht Harry Wegmann die Taten. Wegen zweifachen Mordes an Hertha und Kurt Ragow, versuchten Mordes sowie vorsätzlicher Körperverletzung an deren Tochter Juliane wird er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
»Der Angeklagte hat sein verbrecherisches Ziel, Menschen zu töten, mit Hartnäckigkeit verfolgt und schließlich auch brutal, intensiv und hemmungslos verwirklicht«, so die Richter. »Die schweren Straftaten des Angeklagten weisen aus, dass es ihm an der Achtung vor dem Leben anderer Menschen, einer Grundvoraussetzung des menschlichen Zusammenlebens, fehlt«, heißt es in der Urteilsbegründung. Trotz der Konfliktsituation, in der sich der Angeklagte befunden habe, und einem Blutalkoholwert von 0,7 Promille habe eine erhebliche Beeinträchtigung bei ihm während der Tataus-führung nicht vorgelegen, stellt das Gericht im Ergebnis der dreitägigen Verhandlung fest.
Das Oberste Gericht der DDR bestätigt die Strafe und verwirft damit die Berufung der Verteidigung Wegmanns. Diese war der Meinung, dass die Taten nur als Körperverletzung mit Todesfolge zu bewerten seien. Schließlich habe der Angeklagte Hilfe herbeigerufen, sei von der Tötungsabsicht zurückgetreteil, so die Begründung.
Im Fall von Juliane Ragow stimmt das, aber für die Eltern kam jede Hilfe zu spät. »Der Angeklagte hatte sich bewusst zur Tötung dieser beiden Personen entschieden«, steht dazu in der Urteilsbegründung der obersten Richter.
Mitte August 1991 wird Harry Wegmann mit fünfjähriger Bewährungszeit aus dem Gefängnis entlassen.