FREIWILD
Franziska Becker aus Lübbenau ist alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen im Alter von fünf und acht Jahren. Die junge Frau ist geschieden, und sie findet es an der Zeit, dass wieder ein Mann ins Haus kommt, sie wärmt und an sich drückt und der ihre zwei Kinder mag. Sie beschließt, sich mal unters Volk zu mischen und Männerschau zu halten. Franziska macht sich chic und zieht los. Die Gaststätte »Turbine« ist nicht weit, und dort ist die Stimmung gut.
Der 6. November 1987 bringt ihr Glück. In der »Turbine« fällt ihr ein athletisch gebauter, schwarzhaariger Mann auf, der allein an seinem Tisch sitzt. Ihre Blicke treffen sich. Sie tanzen ein paar Runden, und die einsamen Herzen beginnen schneller zu schlagen. Der Mann erzählt, dass er gegenwärtig bei seinen Eltern in Boblitz wohne, darüber aber nicht sehr glücklich sei. Die würden ihn wie einen kleinen Jungen behandeln und ihn andauern erziehen wollen, nur weil er mal kurze Zeit im Gefängnis gesessen hat. Wenn er über seine Arbeit in der Boblit-zer Meliorationsgenossenschaft spricht, kommt er regelrecht ins Schwärmen. Vor allem gefällt ihm die Betreuung von Schülern aus Lübbenauer Oberschulen, die bei den Meliorationsbauern den polytechnischen Unterricht absolvieren. Bei ihnen lernen die Mädchen und Jungen den Arbeitsalltag im Betrieb kennen, werden in einfachen handwerklichen Tätigkeiten geschult, können erfahrenen Arbeitern auf die Finger schauen.
Die Begeisterung, mit der ihre neue Bekanntschaft über seinen Betrieb berichtet, gefällt Franziska Becker. Auch sonst hat das Mannsbild eine Menge zu bieten. Kein Wunder, dass es schon beim ersten Treffen zwischen den beiden funkt. Franziska gibt sich ihm mit allen Fasern ihres Körpers hin und erlebt eine Nacht, wie sie sie schon lange vermisst hat. Am nächsten Morgen beim gemeinsamen Frühstück bietet Franziska ihrer Eroberung an: »Du kannst bei mir wohnen.« Der Liebhaber ist Feuer und Flamme, fährt nach Boblitz, holt persönliche Sachen, später sogar einige Möbel, und es beginnen traumhafte Tage. Rührend kümmert er sich um die Mädchen, die sich mit dem »Onkel«, den Mutti mitgebracht hat, auf Anhieb verstehen. Die Familie ist zweimal zu Gast bei dessen Eltern im Spreewaldort Boblitz. Die sind von der Frau und den Kindern sehr angetan und vor allem glücklich, dass ihr inzwischen 41 Jahre alter Sohn nach vielen herben Enttäuschungen nun endlich seinen Ankerplatz gefunden hat. Das Ehepaar beschließt, alles zu tun, damit der Sohn endlich dauerhaft Halt hat.
Gut vier Wochen hält die Harmonie an, dann wird sie durch erste Misstöne gestört. Das Vergnügen, das Franziska Beckers Betrieb für seine Belegschaft organisiert hat, ist nicht so ganz nach dem Geschmack des Paares. Es macht sich schnell auf und davon. »Komm, lass uns nach Hause gehen. Dort trinken wir noch ein Gläschen Wein und machen es uns gemütlich«, schlägt der Freund vor und malt sich bereits aus, wie er sich von Franziska verwöhnen lässt. Es gefällt ihm, wenn Frauen aktiv sind in intimer Zweisamkeit. Das genießt der Mann, dann kommt er auf Touren und beweist Stehvermögen.
Franziska ist aber eher nach Party als nach paaren. Widerwillig stimmt der Mann an ihrer Seite zu, noch mal auf einen Sprung in der »Turbine« vorbeizuschauen. Dort treffen sie auf Gregor, Franziskas Bruder. Die Geschwister machen richtig einen drauf, tanzen nahezu ohne Pause und löschen gemeinsam den Durst, der nach dem ausgelassenen Treiben auf dem Parkett die Kehle l rocken macht. Je beschwipster Franziska wird, umso wütender wird der Partner, der die ganze Zeit allein am Tisch verbleibt. Zu Hause kommt es zu einem lautstarken Krach, bei dem der Freund deutlich macht, dass er der Herr im Hause ist.
Dieser Streit setzt sich am folgenden Abend fort. Wieder will Franziska nach einem Besuch bei Bekannten den Tag in der »Turbine« ausklingen lassen. Diesmal aber stellt sich der Mann stur. "Dann musst du eben allein gehen.« Als Franziska sich tatsächlich auf den Weg machen will, packt sie der Freund im Korridor mit aller Kraft an den Armen, schleudert sie durch die geöffnete Schlafzimmertür aufs Bett, kniet sich über sie und schlägt zu. blaue Flecken an Armen und Beinen sind später deutliche Male der Misshandlung. Franziska wehrt sich mit aller Kraft und schreit ihren Kurzzeit-Lebenspartner an: »Hau ab, ich will dich nicht mehr haben, geh dahin, wo du hergekommen bist.« Sie Informiert telefonisch das Polizeirevier in Lübbenau, bekommt aber lediglich zur Antwort: »Das müssen sie mit Ihrem Freund schon alleine klären.«
Doch da ist nichts mehr zu klären und zu kitten. Auch die verzweifelten Versuche von dessen Eltern, Franziska zum Einlenken zu bewegen, misslingen. Sie lässt sich weder von ihnen noch von dem bittenden, bettelnden und fordernden Freund dazu überreden, ihm nicht die Sachen vor die Tür zu stellen. »Sonnabend holst du alles ab, und dann ist es vorbei«, bleibt sie hart. Die unglaublich schnelle Wandlung des Mannes vom liebevollen Geliebten zum herrschsüchtigen Pascha und die Informationen ihres Ex-Mannes, eines Polizisten, über ihren Mitbewohner, verbieten ihr jegliches Nachgeben.
Leicht angetrunken erscheint der Mann wie verabredet am Samstag gegen 17 Uhr. Ernsthaft gewillt, seine Habseligkeiten zu nehmen und die Trennung zu akzeptieren, ist er nicht. Er hat kein Fahrzeug zum Abtransport der Sachen mitgebracht, und den Wohnungsschlüssel rückt er auch nicht heraus. Zwischen den ehemals Verliebten entbrennt im Treppenhaus lautstarkes
Gezänk. Zeugen hören, wie der Mann Franziska der »Hurerei« bezichtigt und die ihn als »Knastologen« beschimpft, der zudem im Bett eine »taube Nuss« und viel schlechter als ihr Ex-Mann sei.
Wütend stampft der Verstoßene davon. Eine halbe Stunde später steht er wieder vor ihrer Tür. Sie ahnt nicht, welch teuflischen Plan er verfolgt. Unter der Strickjacke hat er ein Küchenmesser verborgen, das er in Boblitz bei den Eltern aus dem Schubfach genommen hat. Vor zwei Tagen schon hat der 41-Jährige den Entschluss gefasst: »Eine Trennung gibt es nur für beide und dann für immer.« Weil der Ex-Partner jetzt beherrschter wirkt, lässt Franziska ihn in die Wohnung. Sie setzen sich in die Küche, rauchen jeder eine Zigarette. »Alle anderen Zimmer sind für dich tabu. Wenn wir mit dem Rauchen fertig sind, gibst du mir den Schlüssel, schnappst deinen Krempel und verschwindest«, schneidet sie jegliches Wort zu einem Versöhnungsversuch ohne Wenn und Aber ab. »Lass mich wenigstens noch mal zur Toilette gehen. Ich muss pinkeln«, versucht der Exfreund dennoch, Zeit zu gewinnen. Doch Franziska Becker ist konsequent. Sie versperrt ihm die Badtür. Als er sie beiseite schieben will, fährt sie ihm mit den Fingernägeln ins Gesicht. Mehr als die paar Kratzer schmerzt ihn die Endgültigkeit der Romanze, die so bequem für ihn war. Er holt das Messer hervor und will es Franziska frontal in den Leib stechen. Die kann sich im letzten Moment abdrehen. Das Messer trifft die Wand neben der Tür, die Klinge bricht zur Hälfte ab. Das verbliebene Stück reicht ihm, um seinem Opfer mehrfach den Hals aufzuschneiden. Dabei zertrennt er die Hauptschlagader. Franziska Becker verblutet. Der Täter, der sich auf Socken aus dem Haus schleicht, wird von Bewohnern gesehen. Wenig später verhaftet ihn die Polizei.
In der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Cottbus, die Anfang August 1988 stattfindet, gesteht der Angeklagte das Verbrechen. Er wird zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. In der Urteilsbegründung heißt es: »Wer zu erkennen gab, dass eine hohe zeitige Freiheitsstrafe nicht ausreichte, um ihn zu einer konsequenten Achtung der Würde und des Lebens von Frauen zu erziehen und der sie erneut als Freiwild für sich betrachtete, wenn sie ihm einmal zugetan gewesen waren, musste IM seiner Überlegung vor der Tat mit der Höchststrafe bei erneutem Mord rechnen. Als schulderschwerend sieht der Senat des Weiteren an, dass der Angeklagte, der sich seine Kinderliebe zugute hält, nicht davor zurückschreckte, zwei noch recht jungen Kindern für immer die Mutter zu nehmen. Er ließ vom Vorhaben ihrer bestialischen Tötung nicht einmal ab, als sie bereits bewusst- und hilflos verletzt am Boden lag.«
Der Mörder von Franziska Becker heißt Wilfried Stänzer. Fast genau ein Jahr nach der Haftentlassung auf Bewährung wegen des versuchten Mordes an Elvira Funkel zeigt er wieder, zu welch brutaler Gewalt er fähig ist. Er tötet eine Frau, als sie ihm nicht mehr hörig sein will.