LEICHENFUND IM KABELGRABEN
Max Gärtner ist ein verurteilter Mörder. Das Bezirksgericht Cottbus hat ihn im Februar 1983 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, nicht zuletzt aufgrund des Geständnisses des Angeklagten in der Hauptverhandlung. Fünf Jahre später wird die Strafe im Zuge eine Amnestie auf 15 Jahre Gefängnis reduziert. Seit März 1995 befindet sich Max Gärtner wieder auf freiem Fuß und lebt zurückgezogen in Cottbus. Die vierjährige Bewährungszeit, die mit der Strafaussetzung verbunden war, hat er ohne Fehl und Tadel bestanden.
Im Frühjahr 2005 wird der Mann ins Polizeipräsidium Cottbus bestellt. Er soll eine DNA-Probe abgeben, damit sein genetischer Fingerabdruck in die bundesweite Datenbank aufgenommen werden kann, in der die menschlichen Codes von Schwerverbrechern erfasst sind.
Max Gärtner folgt dieser Aufforderung widerspruchslos. Nachdem ein Kriminalkommissar den Abstrich im Mund vorgenommen hat, verabschiedet sich Gärtner höflich. Fast beiläufig äußert er beim Hinausgehen ruhig und emotionslos: »Ich bin unschuldig verurteilt worden, die Tat habe ich nicht begangen. Trotzdem habe ich kein Interesse an einer Wiederaufnahme des Falls. Für mich ist die Sache abgeschlossen.« Der Kriminalkommissar, ein erfahrener Mordermittler, schreibt dennoch einen Vermerk und gibt ihn zu den Akten. Ist Max Gärtner damals fälschlicherweise beschuldigt und als Mörder verurteilt worden?
Ereignet hat sich das Verbrechen im Jahr 1982 in Cottbus. Es ist März, also der Monat, in dem Frauenkollektive aus Betrieben, Genossenschaften und gesellschaftlichen Organisationen den Internationalen Frauentag feiern. Die Gaststätten sind in jenen Tagen gut ausgelastet. Wer nicht rechtzeitig Plätze bestellt, hat schlechte Karten.
Ganz auf Frauentagsfeiern eingestellt ist auch die HO-Gaststätte »Zur Post« im Cottbuser Stadtteil Madlow. Nicht weit vom Restaurant entfernt befindet sich auf der rechten Seite in Richtung Stadtmitte der Südfriedhof. Zum Friedhof gehört ein sowjetisches Ehrenmal, das zwischen Straßenbahngleisen und Friedhofsgrenze liegt. Es erinnert an die russischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg bei der Befreiung von Cottbus gefallen und auf einem extra Grabfeld innerhalb des Friedhofes bestattet sind. Gegenüber erstreckt sich das Areal einer großen Kaserne der Nationalen Volksarmee und die Gaststätte »Zum Postkutscher«. Eine Straßenbahn verbindet das Zentrum mit dem südlich gelegenen, vorstädtischen Madlow.
Am 4. März 1982 sitzen seit dem späten Nachmittag Frauen einer Brigade vom Rechenzentrum der Reichsbahn in Cottbus in der »Post« zusammen. Zunächst lassen sich die Damen Kaffee und Kuchen schmecken und am Abend dann Schnitzel mit Kartoffeln und Gemüse. Natürlich wird auch das eine oder andere Glas Wein getrunken, doch übermäßig fließt der Alkohol nicht. Mit am Tisch der Frauentagsfeier Platz genommen hat auch die 40 Jahre alte Monika Gräfe. Wie immer ist die schwarzhaarige Frau mit der Brille eher zurückhaltend. Sie sieht nicht besonders gut aus, und wegen ihrer nervlichen Verfassung musste sie schon mehrfach Ärzte konsultieren.
Zum Publikum der »Post« gehören an diesem Abend auch Gäste, die nichts mit der Frauentagsfeier zu tun haben. Der Friedhofsarbeiter Heinrich Bärmann hat sich an diesem Tag hier mit seiner Freundin Hilde Karschunke »auf ein Bier« verabredet. Beide trennen sich später, weil der Durst von Hilde eher gestillt ist als der ihres Freundes Heinrich.
Gegen 20 Uhr verlässt die Frauentagsgesellschaft das Restaurant. Die Straßenbahn hat Verspätung. Die lustige Runde wartet und fährt dann gemeinsam Richtung Stadtmitte. Nur Monika Gräfe geht zu Fuß. Sie fühlt sich nicht wohl, hat Kopfschmerzen und braucht frische Luft. Seit Jahren leidet die alleinstehende Frau an Schizophrenie, die von Zeit zu Zeit in akute Schübe mündet. Auch ihr Heimweg führt sie in die Stadt. Die
Kolleginnen sehen sie jedoch nicht mehr, obwohl die Bahn an ihr vorbeifahren müsste.
An besagtem 4. März 1982 ist für den 25-jährigen Max Gärtner um 5.45 Uhr die Nacht vorbei. Die Eltern, bei denen das Einzelkind noch immer wohnt, schlafen weiter. Die Mutter arbeitet als Angestellte in der Verwaltung des Bezirksgerichtes Cottbus. Der Vater war viele Jahre Kraftfahrer im VEB Textilreinigung. Aus gesundheitlichen Gründen musste er aus diesem Beruf ausscheiden. Er kam als Laborgehilfe bei der Bezirksdirektion Straßenwesen unter.
Viel Zeit benötigt Max Gärtner nicht für seine Morgentoilette. Das leicht gewellte Haar reicht über die Ohren bis zum Nacken und ein kleiner Oberlippenbart soll ihm etwas mehr Männlichkeit verleihen. Wie üblich trinkt er zum Frühstück zwei Tassen Bohnenkaffee. Dabei hört er sich im Radio die Nachrichten und den Wetterbericht an und raucht eine Zigarette seiner Lieblingsmarke »Cabinet«. Gegen 6.15 Uhr verlässt er das Haus.
Es ist der übliche Tagesbeginn für den 25-Jährigen, wenn er Frühschicht hat im VEB Cottbusverkehr. Seit dem erfolgreichen Abschluss der zehnten Klasse ist er dort beschäftigt. Max Gärtner hat Schienenfahrzeugschlosser gelernt. Eigentlich wollte er Chemiefacharbeiter werden oder Elektriker. Beide Berufswünsche konnte er nicht verwirklichen. Vielleicht lag es daran, dass er seine Lehre nur mit der Note befriedigend abgeschlossen hat, obwohl er die Abschlussprüfungen der zehnten Klasse an der 12. Oberschule mit der Note »gut« bewältigt hatte und die Lehrer durchaus von ihm angetan waren. Sie schätzten ihn als einen »befähigten, interessierten, verantwortungsbewußten und gewissenhaften, kritisch denkenden und urteilenden Schüler« ein.
Die Schlosserarbeiten im Betrieb gehen ihm auch nach der Lehre nicht richtig von der Hand. Erst nachdem er die Fahrerlaubnis zum Führen von Straßenbahnen erworben hat und im Gleisbau Arbeitswagen chauffieren darf, fühlt er sich wohler.
Schon während der Schulzeit fällt auf, dass der Junge sich schwertut, Kontakte zu knüpfen. Er verbringt viel Zeit zu
Hause bei den Eltern. Er begleitet sie in die Gartengaststätte, fährt mit ihnen gemeinsam in den Urlaub oder zu Verwandten. Daheim hört Max gern Schlagermusik, liest viel, vor allem Indianer-, Kriminal- und Abenteuerbücher. Intensiv kümmert sich der Heranwachsende um seinen Wellensittich und kurvt in der Freizeit mit dem Moped durch die Gegend, meistens jedoch allein. Zwar spielt Max Gärtner bei der BSG »Fortschritt« Fußball, doch seine spielerischen Fähigkeiten sind bescheiden. Dass er kleine Dienste wie das Schleppen des Mannschaftskoffers oder die Versorgung seiner Mitspieler mit Halbzeitgetränken bereitwillig erledigt, ändert nichts daran, dass der schmächtig wirkende Junge von seinen Mitspielern als Versager abgestempelt und verspottet wird, zumal er sich schämt, mit den anderen nackt zu duschen. Nur einmal, zum Ende der Schulzeit und zu Beginn der Lehre, hat er einen richtigen Freund. Beide haben sich während des Englischunterrichts kennengelernt. Stundenlang spielen sie Schach miteinander und hören gemeinsam Musik.
Als sich der Freund das Leben nimmt, bricht für Max Gärtner eine Welt zusammen. Fast ein halbes Jahr lang spricht er kaum mit jemandem, auch nicht mit den Eltern, antwortet selbst auf Fragen nur kurz und mürrisch. Seine Kontaktschwierigkeiten verstärken sich. Im Wohngebiet wirkt der inzwischen 24 Jahre alte Mann ehrenamtlich im Aktiv für Ordnung und Sicherheit mit. Auch dort fällt auf, dass Gärtner sehr an seiner Mutter hängt und wohl noch nie eine Freundin hatte. Im Betrieb ist er als Einzelgänger bekannt. Zwar nimmt er schon mal an Betriebsvergnügen teil, hat auch im Umgang mit Kolleginnen keine Probleme, doch viel lieber ist er allein. Das Arbeitskollektiv bedeutet ihm nichts.
Genau diese Distanz und Abneigung anderen gegenüber nagen an diesem Morgen an ihm. Am Vormittag muss sich Max Gärtner vor einem Kollektiv, den Mitgliedern der betrieblichen Konfliktkommission, verantworten. Im Dezember 1982 war er mit seinem Arbeitswagen auf ein anderes Fahrzeug geprallt. Ein Schaden von 1000 Mark ist dabei entstanden. Ihm wird die
Schuld gegeben, und weil er das nicht einsieht, wird er vor die Kommission zitiert. Außerdem muss er nach der Frühschicht und der Rechtfertigung vor dem betrieblichen Gremium am Abend noch eine Schicht zur Reinigung der Gleisanlagen schieben. Er ist alles andere als gut gelaunt.
Einen Tag später, am 5. März um 6.45 Uhr. Im Sozialgebäude des Südfriedhofs sind die Friedhofsarbeiter versammelt. Der Chef, Gottfried Werker, hat eine Arbeitsberatung angesetzt. Mit dabei ist auch Heinrich Bärmann. Der sitzt auf seinem Holzstuhl wie auf Kohlen. Gleich nach der Beratung meldet er sich bei Werker ab. Er müsse dringend zur Kripo. Am Abend hätten ihn eine Frau und drei Männer in der Gaststätte »Zur Post« angequatscht, ihm die Brieftasche gestohlen und wären geflüchtet. Werker stimmt der Anzeige bei der Kripo während der Arbeitszeit zu, und Bärmann geht. Es ist inzwischen etwa 8 Uhr morgens. Der Leiter des Südfriedhofes blickt gewohnheitsmäßig aus dem Fenster und sieht, wie der Kollege auf der anderen Straßenseite etwas sucht unter den Robinienbüschen und dem Kabelgraben, der dort ausgeschachtet ist. Offensichtlich hofft er, die gestohlene Brieftasche zu finden, denkt sich der Chef. Plötzlich hört Werker, wie sein Friedhofsarbeiter schreit: »Hier liegt eine Tote!« Er eilt zu Bärmann, der auf einen Frauenkörper im Kabelgraben zeigt. Es handelt sich um eine leblose Frau mit sichtbar schweren Kopfverletzungen. Ihre Kleidung ist bis zur Brust hochgeschoben, der Unterkörper ist entblößt. Strumpfhose, Schlüpfer und Stiefel liegen neben der Leiche im Graben. Werker verständigt die Polizei und wenig später treffen die Spezialisten der Morduntersuchungskommission am Tatort ein. Der wird wie üblich in solchen Fällen weiträumig abgesperrt, um keine Spuren zu vernichten. Die Tote wird fotografiert, Tatortskizzen entstehen. Der herbeigerufene Gerichtsmediziner nennt als wahrscheinliche Todesursache mehrfache Schläge mit einem harten Gegenstand auf den Kopf des Opfers. Tatwerkzeug könnte eine Stange gewesen sein, gibt er vorsichtig einen ersten Tipp. Ob die Frau vergewaltigt wurde, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher gesagt werden, obwohl der nackte Unterkörper darauf hindeutet. Spermaspuren finden die Gerichtsmediziner später bei der Obduktion allerdings nicht.
Die Tote ist zunächst nicht zu identifizieren. Eine Handtasche ist trotz intensiver und weiträumiger Suche nirgendwo zu finden. Einige Stunden später wird klar, dass es sich um Monika Gräfe handelt. Eine Kollegin ruft gegen 10 Uhr bei der Polizei an, weil diese nicht zur Arbeit erschienen ist und sich auch zu Hause nicht meldet.
Ins Visier der Ermittler gerät zunächst Friedhofsarbeiter Bärmann. Seine Aussagen sind widersprüchlich. Mal spricht er von einer Frau und drei Männern, die ihm die Brieftasche gestohlen haben, mal von einer Frau und zwei Männern, schließlich von drei Jugendlichen. Auch die Zeitangaben sind unscharf . Der Friedhofsarbeiter will um 22.20 Uhr die »Post« verlassen haben und zehn Minuten später bei der Freundin eingetroffen sein. Die wiederum gibt zu Protokoll, dass es eine Stunde früher gewesen sei. Das deckt sich mit den Angaben des Gaststättenpersonals, wonach das Lokal um 21.30 Uhr geschlossen hat.
In der »Lausitzer Rundschau«, der örtlichen Tageszeitung, die in fast jedem Haushalt der Region gelesen wird, erscheinen Fahndungsmitteilungen der Polizei. Es werden Zeugen gesucht, die sich am Abend und in den Nachtstunden im Bereich der Gaststätte, des Friedhofs und der NVA-Kaserne aufgehalten haben. Gefahndet wird außerdem nach der Handtasche des Opfers samt Inhalt. Die Tasche wird jedoch nie gefunden. Die Brieftasche, die sich darin befunden hat, entdecken Spaziergänger Wochen später weit entfernt vom Tatort im Stadtteil Klein-Ströbitz.
Der Verdacht gegen Bärmann erhärtet sich nicht. Dafür rückt Max Gärtner in den Kreis der Verdächtigen. Bei der Überprüfung der Fahrpläne der Straßenbahn fällt auf, dass Gärtner und sein Kollege Klaus Handrick in der fraglichen Zeit zwischen 21 und 22 Uhr mit einem Werkstattwagen vom Stadtzentrum Richtung Cottbus-Madlow unterwegs waren, mit dem Auftrag, Wasserkästen im Gleiskörper zu reinigen. Diese müssen regelmäßig von angespültem Sand gesäubert werden, um einen störungsfreien Bahnbetrieb zu gewährleisten. Dazu wird der Deckel mit Hilfe von Hammer und Weichenstelleisen entfernt und der Kasten mit einem starken Wasserstrahl ausgespritzt. Hartnäckiger Schmutz, der dem Wasser trotzt, muss mit dem Weichenstelleisen oder anderem geeigneten Werkzeug beseitigt werden. Ist alles sauber und wieder ordnungsgemäß abgedeckt, kommt der Schlauch auf den Wagen und der nächste Wasserkasten wird angefahren. Wie lange die Reinigung dauert, ist schwer abzuschätzen. Je nach Verschmutzungsgrad benötigen die Gleisarbeiter manchmal nur wenige Minuten oder aber Stunden.
Gärtner und Handrick werden in den nächsten Tagen mehrmals als Zeugen vernommen. Während Handrick glaubhaft machen kann, dass er mit den Arbeiten im Gleis beschäftig war, fällt auf, dass Gärtner längere Zeit allein im Werkstattwagen war, was nicht ungewöhnlich ist. Ihm oblag es hauptsächlich, den Wagen zu fahren und darüber hinaus sicherzustellen, dass der Straßenbahn-Personentransport nicht gestört wird. Das erforderte, den Werkstattwagen auf der eingleisigen Strecke gegebenenfalls in Ausweichbuchten zu steuern. Handrick räumt gegenüber den Ermittlern ein, dass Gärtner ihm hin und wieder, aber nicht durchgängig beim Reinigen der Wasserkästen zur Hand ging.
Max Gärtner gibt schließlich zu, dass er Monika Gräfe gegen 21.30 gesehen hat. Wo diese sich zwischen 20 Uhr, als sie die Gaststätte verließ und ihren Fußmarsch antrat, und 21.30 Uhr aufgehalten hat, ist nicht eindeutig geklärt. Ärzte erklärten, dass das Verhalten von Schizophrenie-Kranken in der Schubphase unkontrolliert ist und das Handeln völlig unlogisch sein kann. Wahrscheinlich ist das Opfer links in eine Seitenstraße eingebogen und später auf die Hauptstraße zurückgekehrt.
Die Kriminalisten belehren den Zeugen Gärtner, dass er von nun an als Beschuldigter vernommen wird. Der gesteht den Ermittlern 20 Tage nach dem Mord an Monika Gräfe, dass er das spätere Opfer angesprochen habe, sexuellen Kontakt mit der Frau wollte und als die ablehnte, auf sie eingeschlagen habe. Einen Tag später erlässt das Kreisgericht Cottbus-Stadt Haftbefehl. Zur Tat äußert sich Gärtner gegenüber dem Haftrichter nicht. Er sei am Tag vorher von früh an zu den strafrechtlichen Vorwürfen vernommen worden und könne sich jetzt nicht mehr konzentrieren, so seine Begründung. Gärtner räumt jedoch ein, dass die Geschädigte jene Frau ist, die er aus sexueller Lust heraus angemacht habe, gegen die er gewalttätig geworden war und die dann getötet aufgefunden wurde. »Ich fühle mich aber nicht schuldig, sie vorsätzlich getötet zu haben«, sagt er.
Es folgen in den nächsten Wochen intensive Vernehmungen, manchmal täglich. Die Kriminalisten finden nur schwer Kontakt zum Beschuldigten. Er ist verschlossen und misstrauisch. Fragen beantwortet er nur bruchstückhaft. Zusammenhängende Sätze kommen ihm nicht über die Lippen. Stundenlang sitzt Gärtner den Vernehmern gegenüber, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Man sieht förmlich, wie es in seinem Kopf rumort. Auf Fragen zur Sexualität reagiert der junge Mann schamhaft und bekommt einen roten Kopf. Ist er erregt, tritt ihm Schweiß aus allen Poren. Die Bekleidung wird förmlich durchtränkt und er verströmt einen unangenehmen, penetranten Körpergeruch. Auffällig sind seine Erinnerungslücken, wenn es um Details des Tatablaufs geht. »Man muss bei ihm ständig abwägen, was Lüge ist und was Wahrheit«, schreiben die Kriminalisten in einer Zwischeneinschätzung auf. Vieles gibt er erst zu, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Seine Mutter fleht in einem Brief an ihren Sohn:
»Ich bitte dich, sage die Wahrheit und erspare uns bitte weiteren Ärger. Wir möchten mal zur Ruhe kommen und nicht laufend zu Vernehmungen geholt werden. Denk an meinen Gesundheitszustand. Du ersparst uns und anderen viel Ärger. Deine Mutti«
Die vielen Aussagen von Max Gärtner im Ermittlungsverfahren inhaltlich auf einen Nenner zu bringen, ist schwer. Aus der Vernehmung am 24. März 1982, die Grundlage des Haftbefehls ist, sowie aus dem schriftlichen Geständnis, das er knapp einen Monat später erstellt, ergibt sich folgendes Bild:
Am Tatabend befinden sich Gärtner und sein Kollege Handrick mit ihrem Arbeitswagen gegen 21.30 Uhr an einer Haltestelle kurz vor dem Friedhof, als Gärtner die später Geschädigte kommen sieht. Diese läuft auf den Gleisen Richtung Stadtmitte und kommt direkt auf ihn zu. Sein Nervenkostüm ist arg strapaziert. Noch immer ärgert er sich darüber, dass ihn die Konfliktkommission wegen des Unfalls zur 300 Mark Schadenersatz verdonnert hat. Außerdem ist er sexuell erregt. Auf der Fahrt mit dem Arbeitswagen vom Depot hinaus Richtung Madlow erblickt er Mädchen, die seine Fantasie anregen. »Die müsste man mal bumsen«, denkt Gärtner, der trotz seiner 25 Jahre noch männlich unberührt ist. Einmal erst war er kurz davor, seine Unschuld zu verlieren. Während des Armee-Dienstes hatte er Kontakt zu einer Frau, doch die war ihm in seiner Verklemmtheit zu schnell in ihrer Annäherung und zu direkt in ihrer Lust. »Das war eine Nutte, die sofort nackt mit mir ins Bett gehen wollte«, beichtet er seinem Vater, als der ihn einmal auf sexuelle Kontakte anspricht. Der Wunsch danach beherrscht ihn, doch noch nie ist er einer Frau so nahegekommen, dass daraus intime Wirklichkeit geworden wäre.
Als Monika Gräfe auf seiner Höhe ist, spricht Gärtner sie an: »Wollen wir mal ne Nummer machen«, fragt er die Frau, die er auf 35 bis 40 Jahre schätzt, und legt ihr dabei die Hand auf die Schulter. Sie ist keine Schönheit, ziemlich kräftig gebaut und scheint etwas angetrunken zu sein, doch das interessiert ihn nicht. Die Angesprochene reagiert jedoch nicht wie erhofft, sondern schüttelt die lästige Hand ab, geht weiter, dreht sich um und antwortet: »Mit dir doch nicht, kannst du das überhaupt?« Gärtner fühlt sich provoziert und rennt ihr hinterher. »Das wollen wir doch mal sehen«, giftet der Verschmähte und hält sie erneut fest. Das alles passiert in Höhe des sowjetischen Ehrenmals. Energisch reißt sich die Verfolgte los, versetzt ihrem Widersacher mehrere Backpfeifen und wechselt hinüber auf die andere Straßenseite, auf der sich die NVA-Kaserne und die Gaststätte »Zur Postkutsche« befinden. Jetzt brennen bei Gärtner endgültig die Sicherungen durch. Er reißt sein Opfer brutal nieder. Sie schlägt mit dem Kopf auf dem Gehweg auf und bleibt benommen liegen. Durch ein Gebüsch zerrt er sie auf eine kleine Wiese, um mit ihr den Geschlechtsverkehr auch gegen ihren Willen zu vollziehen. Monika kommt wieder zu sich. Als sie um Hilfe schreien will, hält Gärtner ihr den Mund zu. Die Überfallene wehrt sich mit allen Kräften, droht, die Polizei zu holen, versucht, aufzustehen und zu flüchten. Es kommt zu einem heftigen Kampf. Der Peiniger ist stärker. Er würgt sein Opfer und schlägt mehrfach mit dem Stelleisen zu, das er die ganze Zeit in der Ellenbogenbeuge mitgeschleppt hat. Die Waffe in seinen Händen ist ein 85 Zentimeter langes und 20 Millimeter starkes Rundeisen, das an einem Ende abgeflacht ist. Es wiegt zweieinhalb Kilogramm. Mindestens zehn Mal muss er auf den Kopf eingeschlagen haben. Weitere Hiebe tref-len den Oberkörper im Brustbereich, stellen Gerichtsmediziner bei der Obduktion der Leiche fest.
Als die Frau still vor ihm liegt, merkt Max Gärtner, dass er sein eigentliches Ziel, den Geschlechtsverkehr, nicht mehr verwirklichen kann. Samen hat sich in seine Hose ergossen, das Glied ist erschlafft. Er reißt ihr dennoch Strumpfhose, Schlüpfer, Miederhöschen und Stiefel vom Körper. Das Kleid samt Unterrock und Hemd stülpt er über den blutenden Kopf. Dann manipuliert Gärtner mit den Fingern am Geschlechtsteil der nun Wehrlosen. Er greift um sich und steckt dem Opfer vier Steine in die Scheide. Er schleift die Frau näher an das Kasernengelände heran und legt sie in den dort ausgehobenen Kabelgraben, damit sie nicht entdeckt wird. Max Gärtner geht zurück, nimmt die Handtasche an sich, öffnet sie, nimmt aus dem Portemonnaie 100 Mark und steckt die darin befindliche Brieftasche mit dem Personalausweis in seine Hose. Die Kleidungsstücke, die um Tatort verstreut liegen, wirft er in den Kabelgraben neben das Opfer. Dann rennt er zum Arbeitswagen zurück. Sein Kollege Handrick arbeitet noch an den Gleisen und steht nach wie vor mit dem Rücken zur Straße. Später ermitteln die Kriminalisten bei Tatortrekonstruktionen und in einem Weg-Zeit-Dia-gramm, dass die Strecke exakt 174 Meter betrug. Als Handrick mit dem Reinigen des Wasserkastens - es ist der dritte von insgesamt fünf auf der Strecke - fertig ist, setzen beide die Fahrt fort. Zurück im Depot, trinken die Gleisarbeiter noch ein Bier. Als sie gegen 3 Uhr morgens den Betrieb verlassen wollen, laufen sie dem Sicherheitsinspektor in die Arme, der Gärtner zur Alkoholprobe auffordert. Weil sich das Röhrchen färbt, muss er die Fahrerlaubnis abgeben. Dann geht er nach Hause. Die nächsten Tage verbringt Gärtner, als sei nichts gewesen.
Monika Gräfe, das ergibt die Obduktion, ist an massiven Schädelfrakturen mit Hirnprellungen und an den Folgen des Würgens verstorben. Der Tod muss nach Erkenntnissen der Gerichtsmediziner gegen 2 Uhr morgens eingetreten sein. Spuren im Graben lassen darauf schließen, dass sie lange gegen den Tod gekämpft hat.
Obwohl Polizei und Staatsanwaltschaft zwei umfassende Geständnisse vorliegen haben - eins davon ist auf Verlangen der Ermittler vom Beschuldigten handschriftlich verfasst bleiben ihnen Zweifel. Gärtners Erinnerungslücken, das Zugeben und Abstreiten von Details, machen sie nachdenklich. Mal will er das Stelleisen in die Büsche geworfen, dann wieder zum Arbeitswagen mitgenommen haben. Einerseits gibt er zu, Handtasche, Portemonnaie und Brieftasche an sich genommen zu haben, dann bestreitet er es wieder. Darauf angesprochen, ob er überhaupt der Täter sein könne, reagiert er jedoch energisch. »Ich weiß genau, was ich getan habe«, sagt er mehrfach. Seine zeitweiligen »Filmrisse« erklärt der Tatverdächtige damit, dass ihm »die Sicherungen durchgebrannt« seien und er die Kontrolle über sich verloren habe.
Im Ermittlungsverfahren spielt die sexuelle Entwicklung von Gärtner eine entscheidende Rolle. Die Kriminalisten vermuten darin das Motiv für das Gewaltverbrechen. Die Hemmungen beim Flirten mit Frauen liegen auf der Hand. Das Verlangen nach intimen Kontakten ist übermächtig, doch er resigniert sofort, wenn er bei den gelegentlichen Besuchen von Tanzveranstaltungen von den Angesprochenen abgewiesen wird. Daraus erwachsen Enttäuschung, Ratlosigkeit und Hemmungen gegenüber Frauen, die in Wut und Hass gegen sie und gegen sich selbst umschlagen. Zeiten von Gleichgültigkeit wechseln mit Abschnitten starker Erregung, in denen er sehr leicht reizbar ist. Schließlich entwickeln sich sexuelle Zwangsvorstellungen, die in Ersatzhandlungen münden. Gärtner berichtet stockend von Träumen, die ihn beherrschen. Darin wird er von Frauen bedrängt und vergewaltigt, und er zahlt mit Gleichem zurück. Dabei kommt es im Schlaf zum Samenerguss. Im Traum will er auch schon Frauen umgebracht haben.
Gärtner wird darauf hin ambulant in der gerichtspsychiatrischen Abteilung der Charite Berlin untersucht. Nach dem Gespräch will er erkannt haben, dass er Gewalt braucht, um sich sexuell zu befriedigen, und dass er deshalb am Tatabend Monika Gräfe hinterhergegangen ist. In einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft Cottbus informiert die von der Schweigepflicht entbundene Ärztin der Berliner Charite, die Gärtner begutachtet hat, über eine Begebenheit während der Untersuchung.
»Nach Abschluss des Gesprächs wurde der Proband plötzlich deutlich erregt und gespannt. Er müsse noch etwas sagen, was das Schönste sei, dass man eine Frau auf eine Folterbank spanne und sie am Hals an einem Strick sowie an den Füßen auseinanderziehe. Er kam auf mich zu, bat, das demonstrieren zu dürfen, zitterte am ganzen Körper, fasste mich an den Hals, anschließend an den Füßen, flatterte regelrecht und war auch sichtlich sexuell erregt, ohne allerdings grob zu werden, ein Verhalten, das ich bisher in einer Arzt-Patienten-Situation aus einem neutralen Gesprächsabschluss heraus noch nicht erlebt habe.«
Trotz der Abnormität auf sexuellem Gebiet kommen die Gutachter in Berlin zu der Erkenntnis, dass es keinen Grund gibt, an der Aussage von Gärtner zum Kerngeschehen zu zweifeln. Die Erinnerungslücken ließen darauf schließen, dass der Beschuldigte Informationen bewusst zurückhalte.
Beispielsweise die zum Verbleib der Tatwaffe und der Handtasche, die die Polizei nie sicherstellen konnte. Zwar hat die Kripo beim Verkehrsbetrieb drei Stelleisen beschlagnahmt, die durch die Form des Stangenendes für die Kopfverletzungen infrage kommen, doch mit Sicherheit können die Kriminaltechniker keines als Tatwaffe benennen. Auch blutverdächtige Stellen an zwei von drei Eisen helfen nicht weiter, weil die Menge zu gering ist für weitere Analysen. Dass Gärtner die Handtasche des Opfers an sich genommen hat, liegt nahe. Zu einem Mitgefangenen soll er geäußert haben: »Die Tasche finden die nie.«
Anfang Mai 1982 gibt die Staatsanwaltschaft Cottbus bei der Medizinischen Akademie »Carl Gustav Carus« in Dresden ein forensisch-psychiatrisches Gutachten zu Geisteszustand, Persönlichkeitsentwicklung und tatbezogener Zurechnungsfähigkeit in Auftrag. Über einen Monat lang wird Max Gärtner in der Sonderabteilung für Untersuchungsgefangene der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik der Akademie umfassend untersucht und beobachtet. Dem inzwischen verstorbenen Gutachter, Prof. Dr. sc. med. Ehrig Lange, liegen dazu die Ermittlungsunterlagen der Staatsanwaltschaft Cottbus vor. Der anerkannte Gerichtspsychologe, der die Klinik als Direktor leitet, geht behutsam vor. Zunächst steht die Persönlichkeitsentwicklung von der Kindheit bis zum Tatzeitpunkt im Mittelpunkt. Wie schon bei der Untersuchung an der Charite in Berlin berichtet Gärtner auch Professor Lange von seinen wirren sexuellen Fantasien.
Erst zum Ende der Exploration geht es um die Tat. Der Beschuldigte wird Tage vorher auf diese Besprechung vorbereitet, damit er sich darauf einstellen kann. Grundlage soll das im Ermittlungsverfahren von Gärtner abgegebene handschriftliche Geständnis sein, das er auf Verlangen der Kriminalisten angefertigt hatte. Satz für Satz und ganz in Ruhe will Prof. Lange mit dem Mordverdächtigen das Niedergeschriebene durchgehen. Gleich zu Beginn der Unterredung dann die Überraschung: Gärtner erklärt, dass er mit der Tat überhaupt nichts zu tun habe und dass er alle Geständnisse widerrufe. Er sei durch den Druck der Vernehmungen und die sich immer wiederholenden Fragen völlig nervös gemacht worden. Dabei habe er Angaben gemacht, die nicht der Wahrheit entsprächen. Die Vernehmungen hätten ihn in einen geistigen Zustand gebracht, in dem er nicht mehr er selbst gewesen sei.
Lange hält ihm entgegen, dass sein handschriftliches Geständnis von der äußeren Form her völlig korrekt sei und gegen einen Zustand geistiger Verwirrung spräche. Daraus könnte abgeleitet werden, dass er es ohne Druck und nicht in geistiger Verwirrung geschrieben habe. Gärtner beharrt darauf, dass der Inhalt des Geständnisses durch die vorangegangenen Vernehmungen geprägt sei. Erst in der Dresdner Klinik habe er die Kraft gefunden, kritisch mit sich selbst, den Anschuldigungen und den bisherigen Vernehmungsmethoden umzugehen.
Max Gärtner erhält darauf hin drei Tage Zeit, den Ablauf des Tages, an dem die Tat geschehen ist, mit allen ihm eigenen Erinnerungen und in allen Einzelheiten darzulegen. Heraus kommt ein mehrseitiges Papier mit dem Widerruf des einst abgegebenen schriftlichen Geständnisses. Von einer Begegnung mit Monika Gräfe ist darin nicht mehr die Rede. Im Kern läuft es darauf hinaus, dass Handrick und er an diesem Abend die auf der Madlower Straßenbahnstrecke befindlichen fünf Wasserkästen hintereinander ohne Pause gesäubert hätten und dass er seinem Kollegen dabei ohne Unterbrechung geholfen habe. Ergo könne er nicht der Täter sein.
Noch einmal gehen die Kriminalisten an die Rekonstruktion der Abläufe in der fraglichen Zeit. Sie befragen erneut Handrick und zwei weitere Straßenbahnfahrer, die mit ihren Fahrzeugen auf der Strecke unterwegs waren. In einem Experiment wird versucht, in dem durch Fahrpläne und Zeugenaussagen gesicherten Zeitfenster die fünf Wasserkästen hintereinander zu säubern. Es misslingt. Vielmehr bestätigt sich der Ablauf, wie ihn Gärtner in seinem schriftlichen Geständnis geschildert hat. Danach kann der Beschuldigte die Tat nur zwischen 21.30 und 21.50 begangen haben. Ausgehend von allen Umständen standen ihm neun Minuten und 30 Sekunden zur Verfügung, halten die Kriminalisten im Weg-Zeit-Diagramm fest. Für den Weg vom Standort des Arbeitswagens bis zum Tatort und zurück werden jeweils eineinhalb Minuten ermittelt. Für die eigentliche Tathandlung verbleiben sechseinhalb Minuten. Für die Schläge und das Würgen sowie die Manipulationen am Geschlechtsteil des Opfers werden nach mehrfacher Rekonstruktion maximal vier Minuten gestoppt. Gärtner kann demnach problemlos seinen Werkstattwagen für diese Zeit verlassen haben, ohne dass sein Kollege Klaus Handrick davon etwas bemerkt haben muss. Für ihn war wichtig, dass der Wagen von Gärtner nach dem Reinigen des Wasserkastens weitergefahren wurde. Und das ist geschehen.
Gärtner rückt unter der Last der Indizien vom Widerruf des Geständnisses ab und gibt erneut zu, Monika Gräfe getötet zu haben.
Die Staatsanwaltschaft Cottbus klagt am 27. Dezember 1982 den inzwischen 26 Jahre alten, nicht vorbestraften Max Gärtner an, »vorsätzlich durch vollendeten Mord das Leben eines Menschen vernichtet und in Tateinheit damit begangener versuchter Vergewaltigung und vollendeten Missbrauch zu sexuellen Handlungen die Freiheit und Würde eines Menschen angegriffen zu haben«. Das Tatgeschehen ergebe sich aus den eigenen Aussagen des Beschuldigten, umfangreichen Spuren sowie kriminaltechnischen und gerichtsmedizinischen Untersuchungen. Der Angeklagte habe in kaltblütiger und brutaler Weise das Leben eines Menschen ausgelöscht, um seine sexuellen Begierden zu befriedigen, heißt es in der Anklageschrift. Zum Beweis benennt Staatsanwalt Horst Helbig 13 Zeugen. Als Sachbeweise werden 36 Gutachten, Tatortskizzen, Fotos, Protokolle von Untersuchungsexperimenten und Tatrekonstruktionen aufgeführt. Hinzu kommen Asservate wie Bekleidungsstücke der Toten, die sichergestellt wurden.
Im Februar 1983 findet vor dem ersten Strafsenat des Bezirksgerichtes Cottbus der Prozess gegen Max Gärtner statt. Wiederum gesteht er die Tat. Das Gericht verurteilt ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Er sei voll schuldfähig gewesen, als er Monika Gräfe am Abend des 4. März 1982 verfolgte, sie schlug und würgte und sexuell missbrauchte. Daran gibt es für Richter und Schöffen nach der Beweisaufnahme keine Zweifel. Zwar hätten sich nach Ansicht des psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. Lange aufgrund normabweichender Entwicklung im Bereich der Sexualität beim Angeklagten Traumvorstellungen mit sadistischem Inhalt entwickelt, doch eine krankhafte Abnormität läge nicht vor, heißt es dazu in der Urteilsbegründung. Das Geständnis des Angeklagten in der gerichtlichen Hauptverhandlung befinde sich in voller Übereinstimmung mit allen anderen Beweismitteln. Das Gericht stellt fest, dass Gärtner in seinen Aussagen eindeutig Täterwissen darlegt. Nur der Täter konnte Tatzeit und Tatwerkzeug benennen. Nur er konnte wissen, dass kein Geschlechtsverkehr durchgeführt wurde und dass es am Opfer keine Spermaspuren gab. Zum Täterwissen gehörten auch Aussagen über die vier Steine in der Scheide des Opfers.
Einen hohen Beweiswert misst das Gericht dem kriminaltechnischen Gutachten der Cottbuser Polizei insbesondere zur Faseruntersuchung bei. An der blauen Arbeitsjacke des Angeklagten stellten die Spezialisten eine Vielzahl von Faserspuren fest. Eine Konzentration dieser Fasern befand sich demnach an den Ärmeln im Bereich der Beugen der Ellenbogen und an der Vorderseite der Jacke. Es wurden 43 karminrote, 29 blaue und 64 schwarze Polyakrylnitrilfasern an der Jacke isoliert, obwohl diese gewaschen worden war. »Diese Fasern stammen mit Sicherheit aus dem Kleid der Getöteten«, ist im Urteil zu lesen. Kriminalisten hatten nämlich herausgefunden, das im örtlichen konsument-Warenhaus nur sechs solcher Kleider verkauft wurden. Blutspuren an der Arbeitsjacke waren dagegen mit den damaligen Untersuchungsmethoden nicht mehr nachweisbar.
Die Tatausführung werten die Richter als Ausdruck äußerster Grausamkeit und Brutalität des Angeklagten. Wörtlich heißt es dazu im Urteil:
»Auf offener Straße überfiel er unter bewusster Ausnutzung der Abendzeit und des geringen Verkehrs sein Opfer. Hinterhältig schlug er es mit einer schweren Eisenstange zu Boden und schleiße es durch ein Gebüsch. Dort setzte er sein brutales Handeln durch starkes Würgen fort und zerstörte die Zungenbeinfortsätze. Den Höhepunkt seiner Grausamkeit fand er in den brutalen Schlägen mit dem Weichen-stelleisen auf das bereits wehrlose Opfer, wobei er das Schädeldach spaltete und das Schläfenbein zertrümmerte. Seine Brutalität setzte er dann am Geschlechtsteil seines Opfers fort. Diese Tatausführung zeigt eine besonders hohe Intensität.«
Zwei Monate später bestätigt das Oberste Gericht der DDR das Urteil.
Damit ist der Fall erledigt, bis Max Gärtner bei der eingangs erwähnten Abgabe der Speichelprobe im Frühjahr 2005 gegenüber der Polizei behauptet, dass er Monika Gräfe nicht ermordet habe. Experten des Landeskriminalamtes Brandenburg nehmen sich daraufhin nochmals die Akten vor und analysieren sie. Sie kommen dabei zu bemerkenswerten Erkenntnissen. Aus ihrer Sicht hat Gärtner kein Täterwissen preisgegeben. Die Tatschilderung folge dem jeweiligen Erkenntnisstand der Ermittler, und wesentliche Details hätte er nicht nennen können. Durch die Praxis sei bekannt, dass ein unreifer und unsicherer Charakter wie Gärtner durch hartnäckige Vernehmungen und moralische Vorhaltungen, wie in diesem Fall durch die Mutter, leicht zu falschen Geständnissen zu führen ist. Zudem schluss-folgert das LKA, dass die äußerst gewalttätige Tat den bis dahin von Gärtner bekannten Verhaltensweisen widerspricht. Es sei äußerst selten, dass ein derartiges Tatverhalten einfach »so vom Himmel« falle.