DER SIMULANT

» März 1980, kurz vor 8 Uhr, Bezirksgericht Cottbus. Der Transportarbeiter Helfried Tutschinski wird in Handschellen aus der Untersuchungshaftanstalt in den Verhandlungssaal 52 gebracht. Hier findet vor dem ersten Strafsenat der Prozess gegen den 23 Jahre alten Mann aus Karwesee, einem kleinen Dorf im Kreis Neuruppin, statt. Helfried Tutschinski soll am 22. April 1979 die 17 Jahre alte Liane Kaiser aus Lübbenau nach einer Tanzveranstaltung in der Gaststätte »Turbine« vergewaltigt und ermordet haben.

Sein Geständnis vier Tage nach der Tat ist eindeutig. Hand-schriftlich hat er Folgendes zu Papier gebracht:

»Nach Tanzschluß der Gaststätte hielt ich mich mit mereren Jugendlichen vor der Gaststätte auf. Auf dem Geländer vor der Gaststätte saßen weibliche sowie Männliche Jugendliche zu denen ich mich durch die Aufforderung des Mädchens setzte. Wir unterhielten uns über Private Dinge (wo ich herkam und was ich hier wollte). Als sich lugendliche Pärchenweise auf den Weg nach Hause machten, bat sie mich, sie nach Hause zu bringen was ich auch tat. Wirfassten uns an die Hand und gingen von der Kneipe über einen Waldweg zu ihrem Wohnungseingang wo vor dem Eingang eine Bank stand. Dieser Weg nahm Zeitmäßig etwa eine Stunde in Anspruch. Wir setzten uns auf dieser Bank und Unterhielten uns über Sie und mich. In dieser Zeit kam eine Frau ins oder aus dem Haus, was ich nicht genau sagen kann.

Sie bemerkte, das sie in der Magengegend schmerzen hatte worauf ich ihr fragte wovon? Sie es mir aber nicht sagen konnte. Wärend Sie feststellte wo die Schmerzen herkamen hob sie ihren Polover hoch so das ich ihren BH sehen konnte. Ich merkte an meinem Körper wie ich anfing zu Zittern und ein steifes Glied bekam. Dieses Zittern löste folgende Handlung aus. Ich sah nur noch die Reitzwäsche, und schlug mit der Faust das Mädel ins Gesicht so dass sie zu Boden viel. Ob sie blutete konnte ich nicht feststellen. Eine kurze Zeit nach dem schlag fasste ich das Mädchen unter den Axeln und zog sie über eine kleine Straße zu den Mülltonnen die mit einer kleinen Mauer umgeben waren. Wärend des Ziehens von der Bank bis zu den Mülltonnen verlor sie ihre Schuhe, noch in der nähe der Bank. An der Mauer Richtete sich das Mädchen auf und stützte sich auf sie. Ich umfasste das Mädchen vonforn und drückte Sie zu boden. Ich weiß nicht was mich dazu trieb nach ihren Schuhen zu sehen. Ich frage Sie ob Sie diese nicht anziehen wolle, was verneinte. Ich ging zu den Schuhen stellte Sie vor den Eingang des Hauses. Ich verspürte einen derartig großen sexuellen drang, so dass ich nicht wusste was ich tat. Ich habe mich dagegen gewärt, habe versucht diesen drang zu unterbinden. Ich ging zur Haustür und klingelte 2 oder 3 mal was ich nicht genau weiß. Ich hielt es nicht mehr aus und ging zurück zum Mädchen die dort gelegen hat und weinte. Ich legte mich von vorn auf Sie, fasste ihr über die Hose ans Geschlechtst.

Ich bemerkte dass das Mädchen gewillt war mit mir den GV auszuüben. Sie machte ihre Hose auf und zog sie ein Stück runter. Durch meinen nötiegen Drang und dieser Vorstellung fasste ich in ihr Hosenbund und riß sie mit gewallt nach unten, so dass Sie an den Hosenbeinen zeriß. In dem Augenblick begann Sie sich zu währen was mich wahnsinnig reitzte so das ich ihre Schlüpfer packte und nach unten riß. Ich merkte wie Sie mit beim Einführen des Gliedes half indem Sie ihre Beine spreitzte. Unmittelbar nach einfuhren des Gliedes schob ich ihren Polover und den BH nach oben, und die Bemerkung machte das Sie sich währen sollte was Sie auch tat. Ab Sie meiner Genugtuhung nachkam ging ich mit der rechten Hand an ihren Hals und drückte zu, bis ich merkte das Sie ruhiger wurde. In dieser Zeit hatte ich meinen ersten Orgasmus bekommen. Ich stand auf und stellte mich vor das Mädchen das dort lag und bekam sofort ein steifes Glied. Wieder kam in mir der Drang, als ich hörte wie sie stönte und spielte an ihrer Reitzwäsche (Schlüpfer - BH) und gleichzeitig an Brust und Geschlechtsteil. Nach einer gewissen Zeit kam Sie etwas zu sich was mich fast rasend machte. Ich zitterte am ganzen Körper, mein Kopf schmerzte. Ich suchte nach einem Gegenstand, und fand eine Latteähnliches Gehölz was in unmittelbarer Nähe lag. Mich reitzte das Mädchen wie sie dort lag die Beine auseinander Rieb sich versuchte ihre Schlüpfer hoch zu ziehen. Dadurch kam ein immer größerer Drang. Ich merkte wie mein Kopf schmertzte und ich auf das Mäd-chen mit der Latte ein schlug etwa 2 mal. Sie spreitzte die Beine und Ich ging mit dem Gesicht über ihren ganzen Körper und übte den GV aus. Nach ausüben des GVs stellte ich mich an die Mauer und hielt mein Kopf vor schmerzen. In dieser Zeit zog ich mich an und ging taumelnd nach Hause. Auf dem nach Hauseweg traf ich ein Mäd-chen die mir den Weg beschrieb wie ich nach hause komme.

Ich beschwöre diese Angaben ehrlich und wahrheitsgetreu gemacht zu haben.«

Ist das Geständnis in all seiner Fehlerhaftigkeit das eines Mannes, der zur Tatzeit unzurechnungsfähig war und in die Psychatrie gehört? Oder simuliert er eine angebliche sexuelle Abnormität, um sich als Sex-Kranker der drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe zu entziehen? In der Medizinischen Akademie »Carl Gustav Carus« in Dresden wird Helfried Tutschinski im Verlauf des Ermittlungsverfahrens vom Direktor der Neurologisch-Psychi-atrischen Klinik und Poliklinik, Obermedizinalrat Prof. Dr. sc. med. Ehrig Lange, einen Monat lang umfassend untersucht. Es ist eine Prozedur, die Helfried Tutschinski bereits kennt.

Doch der Reihe nach: Schon in der Kindheit entwickelt sich Helfried auffällig. Als sich seine Eltern scheiden lassen, ist er noch zu klein, um das zu verstehen. Bis zum siebenten Lebensjahr wächst er bei den Großeltern auf, dann holt ihn die Mutter, die wieder geheiratet hat, zu sich. Das missfällt ihm. Er lehnt sich gegen die strengen Erziehungsmethoden der Mutter und des Stiefvaters auf. Nur sein Wille soll geschehen, sagt sich Helfried und verhält sich entsprechend bockig. In der Schule ist das nicht anders. Eigentlich ist er intelligent genug, um in allen Schulfächern zu bestehen. Fleiß und Ausdauer gehören jedoch nicht zu den Charaktereigenschaften des Jungen. In der vierten

Klasse bleibt er sitzen. Schließlich entlässt die Schule ihn mit dem Abschluss der siebten Klasse.

Helfried beginnt eine Lehre als Rinderzüchter, schmeißt sie nach einem halben Jahr hin und lebt fortan, wie es ihm gefällt. Der inzwischen 16-jährige Jugendliche benutzt ohne Berechtigung Kraftfahrzeuge, fälscht Urkunden und klaut. Zweimal wird er zwischen 1972 und 1976 in Jugendhäuser eingewiesen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten scheint die Erziehung Früchte zu tragen. Er lernt ein Mädchen kennen, mit dem er ein knappes Jahr zusammenbleibt.

Dann nötigt Helfried im April, Juni und September 1977 junge Mädchen zwischen 15 und 16 Jahren zu sexuellen Handlungen. Er fasst sie an Brüste und Geschlechtsteil und interessiert sich auffällig für die Unterwäsche, die sie tragen. Sobald sich die Mädchen gegen seine Übergriffe wehren, schlägt er zu. Das Kreisgericht Wittstock verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Danach muss er laut Gerichtsbeschluss für unbestimmte Zeit in einer Klinik für psychisch Kranke untergebracht werden. Dem Beschluss des Gerichtes liegt ein Gutachten der Charite Berlin zugrunde. Den Charite-Ärzten hat Helffied von sexuellen Bedürfnissen schon während der Kindheit berichtet. Die Scham- und Achselhaare sind ihm demnach bereits mit sieben bis acht Jahren gewachsen, den ersten Samenerguss will er mit sieben Jahren erlebt haben. Schon als Kind hätte ihn Mädchenunterwäsche interessiert, und auch seine erste Intim-Freundin habe beim Geschlechtsverkehr stets Reizwäsche, vorzugsweise Unterröcke, getragen, weil ihn das besonders erregte. Im Jugendhaus habe er sich mit Jungs befriedigt und ständig onaniert.

Die Psychologen, die ihn behandeln, haben erhebliche Zweifel an der Darstellung seiner frühkindlichen Sexualentwicklung, schließen jedoch Fetischismus mit Damenunterwäsche und einen Hang zum Sadismus in Sexualfantasien und beim Geschlechtsverkehr nicht aus. Sie empfehlen nach der Strafver-büßung die Einweisung in die Nervenklinik Brandenburg-Gör-den. Dort sollen mit Medikamenten Libido und Potenz einge-schränkt werden. Tutschinski stimmt dieser Behandlung zu, die auf freiwilliger Basis erfolgt.

Nach der Haftverbüßung im September 1978 wird er zunächst in die Bezirksnervenklinik nach Neuruppin eingewiesen. Als zwei Monate später der Patient wie abgesprochen nach Brandenburg verlegt werden soll, rebelliert Tutschinski und zieht seine Zustimmung zur Behandlung zurück. Er wolle auf keinen Fall auf »seinen Orgasmus« verzichten. Von den meisten im Charite-Gutachten festgehaltenen Selbstbezichtigungen dis-tanziert er sich. »Die habe ich doch nur gemacht, um mildernde Umstände zu bekommen«, erklärt er den Ärzten unmissver-ständlich. An den behandelnden Arzt in Neuruppin schreibt er In einem Brief:

»Ich lehne von vornherein diese Überweisung in die Nervenklinik Brandenburg-Görden ab, weil ich der Meinung bin, dass ich es ohne Psychologen schaffe. Ich habe hier in der Klinik eine feste Freundin, und ich habe sie sehr gern. Des Weiteren bin ich nicht gewillt, unter diesen Umständen untätig meine kostbare Zeit zu verschwenden. Ich will Ihnen noch Folgendes mitteilen. Ich habe Klage erhoben gegen meine gerichtliche Einweisung, die völlig unbegründet ist...«

Einen Monat nach der Entlassung aus der Haft und der Einweisung in die Neuruppiner Klinik lernt er dort die Wirtschaftsgehilfin Christina Celinski kennen. Hartnäckig wirbt er um die junge Frau. Täglich besucht er sie auf ihrem Zimmer auf dem Klinikgelände. Sie spielen Karten miteinander, trinken gemeinsam Kaffee und unterhalten sich. Sexuell bleibt Helfried zurückhaltend. Drei Wochen später, während eines Wochenendurlaubs, lieben sich die beiden zum ersten Mal.

Über einen Anwalt betreibt Helfried Tutschinski seine Entlassung aus der Nervenklinik. Christina Celinski hilft ihm dabei. Im Januar 1979 hebt das Kreisgericht Neuruppin die unbefristete Unterbringung auf. Die Ärzte der Neuruppiner Klinik sehen bei ihrem Patienten keinen sexuellen Leidensdruck mehr.

Pfleger der Einrichtung sind anderer Meinung. Krankenpfleger Hans-Jürgen Behnert gehört zu ihnen. In einer Vernehmung erklärt er, dass sich Tutschinski mehrfach als Fetischist ausgegeben habe, weil er sich beim Anblick weiblicher Unterwäsche sexuell errege. Er habe sogar befürchtet, dass der Patient einen Menschen töten könnte. Tutschinski sei schlau und tue nichts ohne Überlegung. Völlig anders als gegenüber dem aus seiner Sicht niederen Personal sei sein Verhalten in Gegenwart von Ärzten gewesen. Durch kluge Reden habe er sich immer ins richtige Licht rücken können.

Christina Celinski und Helfried Tutschinski stören derartige Einschätzungen nicht. Sie haben sich verlobt und wollen heiraten. Ein Kind ist unterwegs. Christinas Zimmer auf dem Klinikgelände in Neuruppin oder die Wohnung in Karwesee sind allerdings alles andere als ideal für die Familiengründung. Helfried beschließt, sich in der Umgebung von Cottbus nach Arbeit und Wohnung umzusehen. Möglicherweise kann ihm eine Tante helfen, die im Spreewald wohnt. Wo genau, weiß er nicht.

Der 23-jährige angehende Vater macht sich am 20. April 1979, einem Freitag, auf den Weg nach Lübbenau. »Am Montag bin ich wieder zurück«, verspricht er seiner Verlobten.

Auf der Suche nach einer Unterkunft lernt er einen Mann kennen, der mit zwei weiteren Freunden in einer Wohngemeinschaft etwas außerhalb von Lübbenau im Ortsteil Stennewitz wohnt. Dort könne er ein Bett bekommen. Helfried nimmt das Angebot an, die Männer verstehen sich auf Anhieb.

Einer seiner neuen Freunden schleppt ihn am nächsten Tag zum Tanz in die »Turbine« in Lübbenau. Der »Schuppen« gefällt ihm. Helfried ist ein guter Tänzer, und an Partnerinnen gibt es keinen Mangel. Der Boxsport, den Helfried betreibt, zahlt sich aus. Sein Körper ist muskulös, kein Mädchen gibt ihm einen Korb.

Gegen 0.30 Uhr ist Schluss im Tanzsaal. Als Helfried die Gaststätte verlässt, stehen draußen bereits Grüppchen von jungen Leuten. Ein paar Mädchen sitzen auf einem Treppengeländer und rauchen. Liane Kaiser gehört zu ihnen. Sie ist mit Freunden von einem Klassentreffen herübergekommen zur »Turbine« in der Hoffnung, dass noch etwas los ist. Die Türsteher waren unerbittlich und haben sie nicht mehr in den Saal gelassen.

"He, wo kommst denn du her«, fragt sie den jungen Mann, den sie hier noch nie gesehen hat. »Kannst dich ruhig zu mir setzen, ich beiße nicht«, fordert sie ihn auf. Helfried lässt sich nicht zweimal bitten, erst recht nicht, als ihn Liane fragt, ob er sie nach Hause bringt. Er nimmt sie an die Hand, und das Paar für eine Nacht zieht einträchtig von dannen.

Gut eine Stunde später stehen sie vor Lianes Haus. Die zeigt Ihm auf dem Klingelschild, in welcher Etage sie mit ihrer Mutter wohnt. Helfried ist guter Hoffnung, dass sich der Weg hierher für ihn noch lohnt. Schließlich hat Liane offensichtlich keine Lust, nach oben zu gehen. Eine Hausbewohnerin, die gegen 1.45 Uhr nach Hause kommt, sieht Liane und einen ihr unbekannten Mann. Der ermahnt die Frau freundlich, sie möge ihr gutes Fahrrad anschließen. Etwa fünf Minuten später wird Lianes Mutter aus dem Schlaf geklingelt. »Bestimmt hat das Mädel wieder ihren Schlüssel vergessen«, denkt sie sich und geht zur Wohnungstür. Doch da ist niemand. Auch vom Fenster aus ist keine Menschenseele zu sehen. Die Mutter legt sich wieder ins Bett. Drei Stunden später wird sie erneut wach. Liane ist noch nicht in ihrem Zimmer. Die Mutter schaut aus dem Fenster und bemerkt vor der Haustür ein Paar Schuhe. Es ist sind die von Liane. Sie rennt, von panischer Angst gepackt, zur Haustür und findet ihre Tochter tot hinter der gegenüberliegenden Müllbox. Völlig verstört ruft sie die Polizei.

Die Leiche von Liane Kaiser wird von Gerichtsmedizinern der Medizinischen Akademie Dresden obduziert. Sie stellen eine Reihe von Verletzungen fest, die eindeutig durch Würgen entstanden sind. Der Bruch des Zungenbeines lässt den Schluss zu, dass der Täter den Hals seines Opfers mit erheblicher Kraft zugedrückt hat. Der Mund ist stark geschwollen, der linke Rand der Zunge eingerissen. Wahrscheinlichste Ursache dafür sind nach Ansicht der Ärzte Faustschläge. An der linken Brust des Opfers sind die deutlichen Spuren eines Bisses erkennbar. Der ganze Körper ist übersät mit Verletzungen, die von einer Holzlatte stammen. Als der Täter damit zugeschlagen hat, war Liane Kaiser bereits in eine tiefe Bewusstlosigkeit gefallen. Sie hatte allerdings noch gelebt, wie Blut in den Atemwegen beweist, und hätte zu diesem Zeitpunkt durch sofortige ärztliche Hilfe noch gerettet werden können.

Bereits am nächsten Tag gegen 17 Uhr wird Helfried Tutschinski in seiner vorübergehenden Unterkunft in Stennewitz festgenommen. Zahlreiche Zeugen hatten beobachtet, wie er mit Liane von der Gaststätte aus davongezogen war. Die Polizei macht das Paar ausfindig, bei dem er sich nachts zwischen 2 Uhr und 2.30 Uhr nach dem Heimweg nach Lübbenau-Stennewitz erkundigt und mit dem er den Weg fortan gemeinsam zurücklegt hat.

Bei seiner Festnahme sind frische Kratzspuren im Gesicht, an den Handgelenken und den Unterarmen unübersehbar. Die Ermittler der Cottbuser MUK lassen die Wunden durch einen Gerichtsmediziner untersuchen. Der legt sich fest, dass sie nicht älter als 24 Stunden sind.

Als klar ist, dass sich die Staatsanwaltschaft Cottbus nicht auf zurückliegende psychologische Erkenntnisse der Charite in Berlin und der Nervenklinik Neuruppin verlässt, sondern bei Professor Ehrig Lange in Dresden ein neues, tatbezogenes psychiatrisches Gutachten veranlasst, erkennt Tutschinski die mögliche Tragweite der Entscheidung. Er schreibt an seine Freundin Christina Celinski:

»Ich bin in Cottbus in der UHA wegen Mord inhaftiert... Diese Tat ist auf meine Krankheit zurückzuführen. Wie es nun weitergeht, das kann ich Dir wirklich nicht sagen. Es kommt darauf an, was das Gutachten aussagt. Wenn es positiv ausfällt, kann ich in eine Klinik überwiesen werden, um mich einer Behandlung zu unterziehen. Es kann aber auch anders kommen, was ich aber nicht glaube.«

Auch der Gutachter erhält aus der Untersuchungshaft Post von Helfried Tutschinski. Unter der Überschrift »Lebensgeständnis« legt dieser handschriftlich auf 58 Seiten eine »Beichte« ab. Sie beginnt mit folgender Feststellung: geboren am ...in Dortmund, möchte Ihnen hiermit mein Lebens-geständnis aus folgendem Grund mitteilen, betreff: Ich möchte einen Justizweg mitteilen, der nicht unschuldig ist, dass ich jetzt in Untersu-chungshaft bin und dass man mich eines Mordes anklagt. Ich schreibe ihnen hier keine erfundene Geschichte nieder, um mich eventuell von dieser tat loszusagen oder vielleicht zu simulieren. Ich möchte Ihnen lediglich den Irrtum oder die Vernachlässigung der Justiz mitteilen, die eigentlich die Schuldigen sind ...«

Zusammengefasst beschreibt Tutschinski darin seine abnorme sexuelle Veranlagung, die sein Denken und Handeln seit seinem neunten Lebensjahr bestimmen.

Schon beim Anblick von Unterwäsche bei Schulmädchen habe er leuchte Hosen bekommen. Er habe es nahezu täglich mit der sechs Jahre älteren Schwester »getrieben«, sich Mädchensa-chen angezogen und sich in Fantasien in die Lage vergewaltigter Mädchen versetzt, später die junge Sekretärin im Zimmer der Bürgermeisterin sexuell genötigt und im Betrieb kaum Zeit zur Arbeit gehabt, weil er ständig onanieren musste. Das alles schmückt Helfried mit vielen pikanten Details seiner fetischistischen und sadistischen Veranlagung aus. Vom Kennenlernen seiner Verlobten Christina und von den intimen Erfahrungen mit ihr berichtet Tutschinski nur in wenigen und bemerkenswert zurückhaltenden Worten. Es sei schließlich erneut zu abar-tigen Handlungen gekommen, ist der Kern der acht Zeilen, die er in seiner »Lebensbeichte« dieser Beziehung widmet.

Und das aus gutem Grund. Christina hat nämlich wenig Auf-fälliges im Sexualleben mit Helfried gespürt. Sie berichtet zwar von einer starken und selten versiegenden Manneskraft, nicht aber von Gewalt beim Geschlechtsverkehr oder überbordender »Geilheit« beim Anblick von Reizwäsche. Im Gegenteil: Männer, mit denen sie vor der Zeit mit Helfried intime Beziehungen hatten, seien viel weniger zärtlich gewesen als ihr jetziger Verlobter. Drei- bis viermal am Tag Geschlechtsverkehr, wenn möglich noch öfter, seien für ihn normal gewesen. Auch ihr habe diese Intensität Freude bereitet. Wenn sie doch einmal nicht wollte oder konnte, sei Helfried zwar wütend gewesen, doch er habe sie nie mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr gezwungen.

Vom ersten Tag der Begutachtung in der Medizinischen Akademie in Dresden pflegt Helfried Tutschinski seine Rolle als Mann, der sexuell abnorm veranlagt ist. Er klagt über starke Schmerzen in der Genitalgegend und im Unterleib und zuckt schon bei der kleinsten Berührung mit verzerrtem Gesicht zusammen. Als der Arzt nicht reagiert, klingen die Schmerzen urplötzlich ab. Eine solche Wunderheilung scheint bei Helfried öfter stattzufinden. Vor seiner Fahrt nach Lübbenau hatte er sich in Neuruppin von einem Arzt krankschreiben lassen, weil sein einziger Hoden unerträglich schmerzte. Im Spreewald angekommen, musste die gute Luft in der Lausitz die Entzündung am Geschlecht weggeweht haben. Helfried jedenfalls wird durch den schmerzenden Hoden nicht vom Tanzen abgehalten, nicht vom Onanieren auf der Toilette und nicht von der Vergewaltigung und Ermordung von Liane Kaiser.

In den Wochen seines Klinikaufenthalts führt Tutschinski seine fantasievolle Selbstbefriedigung immer wieder öffentlich vor. So nimmt er sich aus einem der Klinkräume heimlich eine Gardine mit und legt sich den Stoff wie ein Tanzröckchen um die Hüfte. Dann lässt er den Gutachter unter dem Vorwand rufen, er müsse ihm dringend etwas mitteilen. Mit erigiertem Penis und dem imitierten Röckchen tanzt er vor dem Arzt herum und lässt ihn wissen, dass er es sogar »hier machen muss«, weil es »so schlimm um ihn steht«. Mitpatienten lädt er zu sich ins Bett ein mit der Bemerkung, dass es miteinander doch viel schöner sei, als allein zu wichsen.

Dass ihm der Gutachter seine Krankheit nicht glaubt und ihn eher für einen Simulanten hält, will er nicht akzeptieren. Die Ärzte an der Charite in Berlin wären wenigstens Experten gewesen und hätten seine abnorme krankhafte Veranlagung erkannt, schimpft er. In der Nervenklinik in Neuruppin habe er das nur bestritten aus Angst, dass er von seiner Freundin Christina getrennt würde, begründet er seine Kehrtwende.

Prof. Dr. Ehrig Lange kommt in seiner Expertise zu dem

Schluss, dass bei Tutschinski durchaus eine gestörte und damit schwerwiegende abnorme Sexualentwicklung vorliegt. Allerdings ist diese in den vergangenen zwei bis drei Jahren abge-klungen und Tutschinski zu normalen sexuellen Beziehungen In der Lage. Er sei zu »seinem Orgasmus« gekommen, ohne abartige Fantasien zu benötigen. Er brauchte dazu nicht mehr Unterröcke und Reizwäsche als Fetische, und Gewalt schon gar nicht. Tutschinski, so der Gutachter, ist für seine Tat voll verantwortlich.

Unter dem Eindruck dieses Gutachtens rückt der Angeklagte In der Hauptverhandlung vor dem ersten Strafsenat des Bezirksgerichtes Cottbus von seinem ursprünglichen Geständnis ab. Er gibt zu, Liane Kaiser getötet zu haben, damit sie ihn wegen der Vergewaltigung nicht anzeigen konnte. Obwohl anfänglich durchaus zu Intimität bereit, hatte sich Liane in der Tatnacht nach einer Zigarettenlänge auf der Hausbank doch gegen einen »One-Night-Stand« entschieden und ihm das deutlich zu verstehen gegeben. Helfried aber ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu bremsen. Als er nicht freiwillig bekommt, was er begehrt, schlägt er ohne Vorwarnung zu. Er versetzt Liane einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht, der sie zu Boden streckt. Das Mädchen schlägt mit dem Hinterkopf auf und verliert das Bewusstsein. Tutschinski schleift sein Opfer zu dem nicht weit entfernten Müllplatz und legt es hinter der Mauer am angrenzenden Zaun zum Kindergarten ab. Der Mann lässt seine Hose fallen, reißt Liane Hose und Schlüpfer vom Leib und schiebt Pullover samt Büstenhalter nach oben. Als die 17-Jährige aus der Ohnmacht zu sich kommt, umfasst er mit beiden Händen ihren Hals, stützt sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers darauf und drückt den Kehlkopf zu. Liane wehrt sich, kneift und kratzt den Mann über sich, doch um Hilfe kann sie nicht mehr rufen. Tutschinski vergewaltig das erneut bewusstlos gewordene Opfer und beißt dem Mädchen in die linke Brust. Nach der Ejakulation zieht er sich die Hose hoch, greift nach der Zaunlatte, die ganz in der Nähe liegt, und schlägt mehrmals mit aller Kraft auf Körper und Rumpf ein. Liane stöhnt nach dem ersten Hieb noch einmal auf, der Körper zuckt ein letztes Mal, bevor sie stirbt.

In der Unterkunft in Lübbenau-Stennewitz angekommen, wäscht sich Helfried Tutschinski das Blut von den Armen und legt sich schlafen.

Das Bezirksgericht Cottbus verurteilt den Transportarbeiter Helfried Tutschinski wegen Mordes und Vergewaltigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Rohheit und Intensität der Tat sind kaum zu übertreffen, heißt es in der Urteilsbegründung. Deshalb müsse der Angeklagte für immer von der Gesellschaft isoliert werden.

Anfang 1994 stellt Helfried Tutschinski den Antrag, auf Bewährung aus der Haft entlassen zu werden. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft Cottbus stimmt das Landgericht Potsdam dem zu, obwohl ein Gutachter nicht ausschließt, dass sich beim Häftling erneut sadistische Züge entfalten könnten.

Der Cottbuser Oberstaatsanwalt legt beim Brandenburgischen Oberlandesgericht Beschwerde ein und hat damit Erfolg. Das OLG hebt den Beschluss der Potsdamer Richter auf und verfügt, dass Tutschinski frühestens nach 17 Jahren Haft freikommen darf.

Die sind 1996 verbüßt. Im Oktober wird Helfried Tutschinski mit einer Bewährungszeit von fünf Jahren aus dem Strafvollzug entlassen.