VERGELTUNG

Der 15. März 1989 ist der dramatische Tiefpunkt im Leben von Maria Mießner, ein Leben zwischen Liebe und Hass, Vergebung und Vergeltung. An diesem Tag wird die 55-jährige Frau in Cottbus zur Mörderin.

Als Maria Mießner in Lübtheen in der Nähe von Hagenow im heutigen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern geboren wird, haben Adolf Hitler und seine Nazipartei in Deutschland gerade die Macht an sich gerissen. Das fünfte von sechs Kindern lernt früh die Not einer kinderreichen Familie kennen, die durch den Krieg von Tag zu Tag größer wird. Sie ist erst fünf Jahre alt, als sie 1938 in die Volksschule des Ortes eingeschult wird. Zehn Jahre braucht sie für die acht Klassenstufen. Nicht etwa, weil sie Schwierigkeit mit dem Lernen hat. Ganz das Gegenteil ist der Fall, denn das aufgeweckte Mädchen ist wissbegierig und verfügt über eine gute Auffassungsgabe. Doch der Krieg verhindert einen regelmäßigen Schulbetrieb, so dass die Mädchen und Jungen ihres Jahrganges erst 1948 die Schulbank verlassen können. Maria schafft den Abschluss mit der Note »gut« und nimmt eine Lehre an einer Kaufmannsschule auf. Der Vater hat sich nach Kriegsende als Zimmerer einen Handwerksbetrieb aufgebaut, in dem die Tochter nach Abschluss der Ausbildung die Bücher führen soll. Weil der Vater 1949 stirbt, wird nichts aus dem Plan. Maria bricht die Kaufmannslehre ohne Abschluss ab.

Die inzwischen 16-Jährige weiß danach nicht Rechtes mit sich anzufangen. 1951, Maria ist gerade 18 Jahre geworden, entschließt sie sich, Heimerzieherin zu werden. Praktische Arbeit mit nicht immer leicht zu führenden Heimkindern und die theoretische Ausbildung überfordern die junge Frau. Der Stress ist größer als ihre psychische Belastbarkeit. Wieder schmeißt Maria Mießner Job und Ausbildung hin. Sie wechselt als Säuglingspflegerin in eine Wochenkrippe, in der die Babys berufstätiger und in Schichten arbeitender Eltern rund um die Uhr betreut werden, und geht später als Erzieherin in eine Tageskinderkrippe. Sie lernt in dieser Zeit einen jungen Mann kennen, an den sie ihr Herz und ihre Unschuld verliert. Er verspricht ihr die große Liebe, und sie glaubt daran. Doch als im Dezember 1955 Sohn Gerhard geboren wird, ist es vorbei. Der Vater des Kindes verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Maria wird davon völlig aus der Bahn geworfen und schwankt hin und her wie das Korn im Nordwind. Die junge Frau verlässt im Juli 1957 nicht nur ihre mecklenburgische Heimat, sondern kehrt der DDR ganz den Rücken. Das zwei Jahre alte Kind lässt sie bei ihrer Mutter. Doch auch in der Nähe von Wuppertal findet sie nicht das erhoffte Glück, weder in der Liebe noch im Beruf als Stationshilfe in einem evangelischen Krankenhaus. Ein Jahr später zieht es sie nach Lübtheen zurück. Hier nun scheint endlich alles gut zu werden. Die Arbeit als Stationshilfe im örtlichen Krankenhaus macht ihr Spaß, und Manfred, ein gut aussehender Mann aus einem Dorf in der Nähe von Schwerin, wird der Partner an ihrer Seite. Im Dezember 1961 kommt Marias zweiter Sohn Frank-Michael zur Welt. Trotz oder wegen des Kindes zerbricht auch diese Beziehung. Wieder steht Maria unverhofft allein da, nun als Mutter von zwei unehelichen Kindern.

Eberhard Mießner stört das nicht. Er kennt Maria, die quasi um die Ecke wohnt, schon seit der Sandkastenzeit. Sie ist zwar sechs Jahre älter, doch deshalb für ihn nicht minder begehrenswert. Und Maria, die unter dem Trennungsschmerz leidet, kann einen Freund gut gebrauchen. Mehr als Freundschaft ist zunächst nicht zwischen den beiden jungen Leuten aus Lübtheen. Doch dann kommt die Nacht, in der aus dieser Freundschaft eine Zuneigung erwächst, die stark genug scheint für den Bund des Lebens. Im Juli 1963 heiraten sie. Knapp drei Jahre später wird die gemeinsame Tochter Cordula geboren. Als dann auch noch Gerhard, der all die Jahre bei der Oma gelebt hat, von der Mutter in die Obhut genommen wird, ist die nun fünfköpfige Familie Mießner komplett.

Die ersehnte Geborgenheit aber stellt sich nicht ein. Eberhard beginnt zu trinken, und immer öfter kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der Ehemann zum Schläger wird. Wieder nüchtern schenkt er Maria Blumen, bittet um Verzeihung, verwöhnt sie. Doch es kommt die Zeit, da ist der Spielraum zwischen Liebe und Hass erschöpft. Maria kann die Beleidigungen und Schläge nicht mehr ertragen und lässt sich scheiden. Eberhard scheint sich schnell mit der Trennung abgefunden zu haben, denn schon bald zieht er ein paar Dörfer weiter zu einer neuen Frau.

Ein halbes Jahr später steht der Verstoßene wieder vor der Tür seiner Maria, mit Blumen in der Hand und mit Worten von Reue und Bitte um Vergebung auf den Lippen. Maria wird schwach, das Herz siegt über den Verstand.

Anfang 1971 erreicht die Werbekampagne der Lausitzer Tagebaue, Brikettfabriken und Kraftwerke rund um Cottbus, dem Kohle- und Energiezentrum der DDR, auch das beschauliche Städtchen Lübtheen im Südwesten von Mecklenburg. Im landschaftlich schönen Elbtal hat sich unter den gut 4000 Einwohnern inzwischen wie in allen anderen Ecken der Republik herumgesprochen, dass es dort in der Kohle gutes Geld zu verdienen gibt und dass es mit der Versorgung besser klappt als im industriell weniger entwickelten Bezirk Schwerin. Eberhard Mießner macht sich auf nach Cottbus, nimmt im Tagebau Greifenhain Arbeit auf und kümmert sich in der größten Stadt der Lausitz um eine Wohnung. Die ist für ein verheiratetes Paar leichter zu bekommen als für eine Familie ohne Trauschein. Zudem hat sich das Verhältnis zwischen Maria und Eberhard mit der Zeit deutlich verbessert. Statt böser Worte liebe Taten, das ist inzwischen zum Credo von Eberhard Mießner geworden. Die geschiedenen Eheleute treten im Januar 1972 zum zweiten Mal gemeinsam vor die Standesbeamtin und geben sich das Ja-Wort.

Kaum unter der Haube, vergisst Mießner erneut alle guten Vorsätze. Seine Aggressivität steigt in dem Maße, wie die Pegel in Schnaps- und Bierflaschen sinken. »Du Hure, du Schlampe, du hast mir nur Bastarde ins Haus gebracht«, sind Beschimpfungen, die Maria wieder und immer wieder über sich ergehen lassen muss. Er droht sogar, sie umzubringen und fuchtelt mit dem Brotmesser herum, um ihr Angst einzuflößen. Hinzu kommen die Schläge. Bald schon erkennen die Arbeitskollegen im Tagebau Cottbus-Nord, wo Maria inzwischen mit ihrem Mann in einer Schicht arbeitet, dass blutunterlaufene Augen und blaue Flecke an Armen und Beinen nicht von Stößen an Schrank- und Tischecken oder von Stürzen auf der Treppe herrühren. »Wie lange willst du das noch ertragen«, wird sie gefragt. »Lass dich scheiden«, raten ihr die Frauen und Männer ihres Arbeitskollektivs. Sie stehen zu ihrer Kollegin, nehmen sich auch den Ehemann zur Brust. Doch wirklich helfen können weder sie noch die Polizisten, die des öfteren von Mitbewohnern gerufen werden, wenn der Streit zwischen den Eheleuten eskaliert. Treffen die Uniformierten ein, werden sie von Maria beschwichtigt.

Einer der Gründe für das Ausharren an der Seite von Eberhard ist Enkeltochter Riccarda, die Tochter Cordula mit erst 17 Jahren auf die Welt gebracht hat. Um die Kleine kümmert sich Maria, wenn Cordula durch die Kneipen zieht oder sich von Männern aushalten lässt. Sie führt ein Leben, das in der DDR als asozial gilt und unter Strafe steht. Zweimal wird sie von Gerichten verurteilt. Riccarda kommt ins Heim oder wird von der Großmutter betreut. Inzwischen greift aber auch Maria zum Alkohol, um die körperlichen und seelischen Schmerzen zu betäuben, die ihr der Ehemann zufügt.

Es kommt der Zeitpunkt, an dem Maria Mießner merkt: So geht es nicht weiter. Sie reicht zum zweiten Mal die Scheidung ein. »Diesmal«, so nimmt sie sich vor, »löse ich mich endgültig von Eberhard.« Sie peilt eine Rückkehr nach Mecklenburg an. Dort könnte sie im Kartoffelveredelungswerk Hagenow anfangen, das ist ihr zugesichert worden. Nach der Auflösung des Arbeitsverhältnisses im Tagebau Cottbus-Nord sitzt die Aufbruchswillige gewissermaßen auf gepackten Koffern. Die Reise in eine Zukunft ohne Schläge und Demütigungen aber tritt sie nicht an. In Hagenow ist keine Wohnung zu haben, und in Cottbus nehmen die Sorgen um das Schicksal der kleinen Riccarda zu. Das Kind wird zur Adoption freigegeben, nachdem Cordula das Sorgerecht wegen Vernachlässigung der Erziehungspflicht entzogen wurde. Maria will die Enkelin zu sich nehmen und stellt den Antrag, ihr das Sorgerecht zu übertragen.

Plötzlich ist auch Eberhard, mit dem sie nach der Scheidung weiter in einem gemeinsamen Haushalt lebt, wieder wie verwandelt. Er bestärkt sie anfangs im Kampf um das Sorgerecht für Riccarda, den sie mit der Jugendfürsorge in Cottbus austragen muss. Ihr geschiedener Gatte hört mit dem Trinken auf und beköstigt sie in den Wochen und Monaten, in denen sie ohne Arbeit und damit ohne Einkommen ist. Er begleitet die Exgattin später sogar zum Einstellungsgespräch in den Tagebau Greifenhain, wo sie im November 1988 eine neue Tätigkeit als Bandmaschinistin antritt. Maria und Eberhard Mießner leben zusammen wie ein Ehepaar.

Wieder zerbricht die Gemeinsamkeit. Eberhard kann dem Alkohol nicht wiederstehen, er beschimpft und beleidigt seine geschiedene Frau, zertrümmert im Alkoholrausch Teile der Wohnungseinrichtung, fuchtelt der Frau mit dem Brotmesser vor der Nase herum und droht: »Riccarda bekommst du nicht. Dafür werde ich sorgen.«

Es kommt der Tag, an dem es keine Vergebung, sondern nur noch Vergeltung gibt, der 15. März 1989.

Schon am Abend zuvor hat es mächtig gezündelt zwischen dem Paar. Eberhard hatte versprochen, pünktlich von der Spätschicht nach Hause zu kommen. Doch just an diesem Abend verpassen er und sein Stiefsohn Frank-Michael, der mit ihm in der gleichen Schicht im Tagebau vor Cottbus arbeitet, den Schichtbus. Die Männer brechen zu Fuß nach Cottbus auf, können auch per Anhalter mal ein Stück mitfahren. Als sie zu Hause ankommen, bricht ein Gewitter über die Spätankömmlinge herein. Maria ist fest davon überzeugt, dass sie die Busgeschichte erfunden und statt dessen in der Kneipe gesessen haben. Dass sie sich selbst ein paar Schnäpse genehmigt hat, spielt für sie keine Rolle.

»Weck mich morgen, ich muss zur Frühschicht«, grollt Maria mit Eberhard. »Du weißt, ich höre den Wecker nicht«, erinnert sie ihn an sein Versprechen, dafür zu sorgen, dass sie nicht verschläft, wenn sie früh um halb fünf raus muss zur Frühschicht. Dann verschwindet die Erzürnte im Schlafzimmer.

Vater und Stiefsohn setzen sich ins Wohnzimmer und klönen bei Alkohol und Zigaretten. Frank-Michael, der inzwischen wie Gerhard eine eigene Wohnung gemietet hat, schläft ausnahmsweise im Kinderzimmer der elterlichen Wohnung. Eberhard legt sich ins Ehebett.

Am Morgen des 15. März wacht Maria kurz nach 6 Uhr auf. Der Schichtbus nach Greifenhain ist längst weg. Sie hat verschlafen. Eberhard, dieser Suffkopf, ist daran schuld, kocht es innerlich in ihr. Es wird laut im Schlafzimmer, so laut, dass Frank-Michael davon wach wird und sich schnell aus dem Staub macht, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.

Da der Bus sowieso weg ist, kann ich auch weiterschlafen, denkt sich Maria. Gegen halb zehn wird die Frau munter, steht auf, trinkt einen Kaffee und bereitet in der Küche das Mittagessen vor. Eberhard, der an diesem Tag frei hat und nicht zur Arbeit muss, quält sich gegen Mittag aus dem Bett. Gegen 14 Uhr unterbricht Maria das Kochen in der Küche. Sie zieht sich an und geht in die nahegelegene Kaufhalle. Neben Margarine, Brot und Wurst wandert auch eine große Flasche Schnaps der Marke »Hohnsteiner Trinkbranntwein« in den Einkaufswagen. Der ist zwar nicht von der besten Sorte, dafür allerdings nicht so teuer wie anderer Hochprozentiger.

Als sie nach Hause kommt, sitzt Eberhard, nur mit einem weiß-blauen Slip bekleidet, im Wohnzimmer auf der Couch, vor sich eine Flasche braunen Fusel der Marke »Goldbrand«. In der ist schon eine Menge Luft. Übel gelaunt zieht sich Maria erneut in die Küche zurück, um den Eintopf fertig zu kochen. Dabei fällt ihr auf, dass die drei Halbliterflaschen Bergmannsschnaps aus dem Schrank verschwunden sind. Einen Liter pro Monat von dem »Trinkbranntwein für Bergleute« erhalten die Kumpel in der Kohle kostenlos als Deputat. Das weiße Gebräu mit den 30 Volumenprozenten Alkohol ist unter der Bevölkerung nur als »Kumpeltod« bekannt und vor allem als Grundlage für die Herstellung von Eierlikör geschätzt. Auch Maria hatte die Flaschen dafür beiseite gestellt, und nun entdeckt sie diese nur noch als Leergut auf dem Wohnzimmertisch. Der ganze Tag, der früh mit dem Verschlafen und den Nörgeleien des Mannes schon so verkorkst begonnen hat, entwickelt sich zur Katastrophe. Maria genehmigt sich zur Beruhigung ebenfalls den einen oder anderen »Doppelten« vom mitgebrachten »Hohnsteiner«.

Eberhard Mießner ist zu dieser Zeit schon stark betrunken. Nur mit der Unterhose bekleidet, unrasiert und mit glasigen Augen gibt er ein bedauernswertes Bild ab, das Ärger, Enttäuschung und Unmut bei Maria verstärken. Zudem nehmen seine verbalen, mit schwerer Zunge ausgestoßenen Attacken gegen seine Frau, die weiter in der Küche werkelt, von Minute zu Minute zu. Durch die Durchreiche, die in den Plattenbau-wohnungen vom Typ P2 Wohnzimmer und Küche trennt, giftet sich das Paar an. »Du wirst noch viel öfter verschlafen, ich mach dir die Arbeit kaputt«, reizt er sie. »Du Schlampe, du bist schuld, dass aus Cordula nichts geworden ist, dass sie sich nur rumtreibt. Du weißt alles besser und nimmst ihr das Kind weg«, prasselt es auf Maria herab, »dabei bist du die Hure, hast nur Bastarde als Kinder. Wer weiß, ob ich der Vater von Cordula bin, wo du doch mit jedem Mann bumst«, lallt er eine Beleidigung nach der anderen heraus und kippt Schnaps um Schnaps die Kehle runter. Maria gibt nicht klein bei, schiebt ihm und seiner Sauferei die Schuld zu an der missratenen Erziehung von Cordula, an den Scheidungen, am Zerbrechen ihrer Beziehung. Auf dem Höhepunkt des Streits droht Eberhard: »Morgen gehe ich zur Jugendfürsorge. Du bekommst Riccarda nicht. Dafür werde ich sorgen, da kannst du Gift drauf nehmen.«

Maria verstummt, will endlich Ruhe haben. Sie setzt sich ins Wohnzimmer und schläft, ebenfalls nicht mehr nüchtern, im Sessel ein. Zweieinhalb Stunden später, inzwischen ist es 8 Uhr abends, wacht sie auf. Auf der Couch schnarcht Eberhard. Sie geht in die Küche, macht sich Abendbrot, isst und bekommt mit, wie ihr Mann zur Toilette wankt und dort lautstark seine

Notdurft verrichtet. Wieder zurück im Wohnzimmer hagelt es von Eberhard neue Beschimpfungen und Drohungen. »Ich bring dich um, ich bring dich um«, krakeelt er und macht dabei Bewegungen mit der Hand, als steche er auf die Frau ein. Maria bekommt es mit der Angst zu tun, versteckt das Brotmesser, mit dem ihr Eberhard schon mehrfach einen Schreck eingejagt hat.

In der 55-Jährigen reift in dieser Situation der Entschluss, Eberhard zu töten. Der liegt inzwischen wieder auf der Couch und schläft. Zunächst erwägt sie, ihn mit dem Brotmesser zu erstechen, mit dem er sie immer bedroht hat. Dann wird ihr klar: »Nein, mit einem Messer kannst du keinen Menschen töten, das schaffst du nicht.« Sie erinnert sich an die Paketschnur, die im Flurschrank liegen muss. Tatsächlich befindet sich die Rolle im zweiten Fach von oben. Die Schnur ist zwar nur etwa drei Millimeter stark, doch reißfest, weiß die Hausfrau. »Damit müsste es gehen«, fällt ihr Urteil nach einer nochmaligen Prüfung der Haltbarkeit aus. »Wenn ich die um den Hals wickle und zuziehe, bekommt er keine Luft mehr.«

In diesem Moment ist für die so oft gequälte Frau der Entschluss, Eberhards Leben auszulöschen, unumkehrbar. Sie geht mit der Paketschnur in der Hand ins Wohnzimmer, stellt sich ans Kopfende des Sofas und legt die Schnur unter den Schlafenden. Dieser wird nicht einmal munter, als sie den Kopf mehrmals anhebt und ihm die Schnur eng um den Hals wickelt. Dann zieht sie das Schnurknäuel fest an sich und hält den Strick gespannt. Sie nimmt das gurgelnde Geräusch eines Menschen war, dem die Luft ausgeht. Angstvoll blickt sie auf den Mann vor sich und lässt die Schnur erst los, als sich der Brustkorb nicht mehr bewegt und er keinerlei Atemgeräusche mehr von sich gibt. Fünf bis sechs Minuten mögen vergangen sein, bis Maria überzeugt ist, dass Eberhard nicht mehr lebt. Sie holt ein Messer aus der Küche, trennt damit die Schnurrolle ab und legt das Knäuel zurück in den Flurschrank in das zweite Fach von oben. Sie schaltet den Fernseher aus, der die ganze Zeit vor sich hingeflimmert hat, kippt im Wohnzimmer ein Fenster an, löscht das Licht und legt sich im Schlafzimmer links in ihr Bett. Gedanken darüber, was mit der Leiche geschehen soll, macht sie sich nicht.

Als Maria am nächsten Morgen aufwacht und den toten Lebenspartner auf dem Sofa liegen sieht, wird ihr die Tragweite der Tat Stück für Stück bewusst. Sie wundert sich, dass der Tote mit einer Decke zugedeckt und die Schnur vom Hals verschwunden ist. Trotz aller Grübelei kann sie sich das nur bruchstückhaft erklären. Nicht zuletzt wegen des Alkoholkonsums vom Vortag ist der Kopf schwer und leer. »Ich muss nachts aufgestanden sein, die Schnur abgeschnitten und sie in die Toilette gespült haben«, glaubt sie sich dunkel zu erinnern. Danach wird sie die Decke über den Leichnam ausgebreitet haben. Genau weiß sie es nicht. Die Schnur jedenfalls wird trotz gründlicher Suche in der Wohnung und in den Müllcontainern vor dem Haus von den Kriminalisten später nicht gefunden.

Die nächsten Stunden verbringt die Frau wie in Trance. Sie setzt sich an den Wohnzimmertisch und schreibt zwei Briefe. Der erste ist an die Jugendfürsorge der Stadt gerichtet. Darin teilt sie mit, dass das Sorgerecht für das Enkelkind Riccarda von ihr nicht mehr beansprucht wird, weil sie einen Mord begangen habe. Der zweite Brief ist an Tochter Cordula adressiert: »Ich habe Deinen Vater umgebracht. Er wollte nicht, dass Riccarda wieder nach Hause kommt«, schreibt sie. In einer Art Testament vererbt sie der Tochter die Wohnung, an der sie Anteile bei der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft besitzt. »Gehe mit allem gut um und suche dir einen anständigen Mann, dann weiß ich, für was ich es getan habe. Vergiss mich nicht, ich musste so handeln, damit ich endlich Ruhe habe. Lebewohl und verzeih mir. Deine todunglückliche Mutter«, heißt es in dem Brief weiter. Maria läuft zum Briefkasten am Ende der Straße, steckt die Post hinein und kehrt in die Wohnung zurück. Dort packt sie ein paar Sachen zusammen, die sie mitnehmen will, wenn die Polizei kommt und sie verhaftet. Dann nimmt die Frau im Sessel am Couchtisch Platz und leert die Flasche Schnaps vom Vortage bis zum letzten Tropfen. Sie betrinkt sich, um zu vergessen, was sie getan hat.

Am folgenden Tag, es ist der Freitagvormittag, kommt ihr Sohn Frank-Michael vorbei. Er will sich erkundigen, warum sein Stiefvater tags zuvor ohne Entschuldigung nicht zur Spätschicht gekommen ist. Auf den ersten Blick erkennt er, dass die Mutter erheblich betrunken und total verstört ist. »Vater wird nie wieder auf Arbeit gehen«, nuschelt sie hervor. Frank-Michael geht ins Wohnzimmer und sieht die zugedeckte Gestalt auf dem Sofa. Nackte Füße, die ganz blau aussehen, schauen unter der Molly-Decke hervor. Er hebt die Decke hoch, spricht den Stiefvater an: »He, was hast du, was ist mit dir los?« Der reagiert nicht, liegt bewegungslos da, rührt sich auch nicht, als er angestoßen wird. Frank-Michael rennt aus der Wohnung und ruft von einer Telefonzelle aus den diensthabenden Offizier des Volkspolizei-Kreisamtes in Cottbus an: »Schicken Sie sofort einen Funkstreifenwagen in die ... Meine Mutter hat meinen Vater umgebracht. Er liegt tot auf der Couch, so tot, wie ein Indianer nur sein kann. Er hat keinen eingeschlagenen Kopf, aber blaue Flecken am Hals und im Gesicht«.

Als die Polizei kurze Zeit später mit dem Sohn die Wohnung im ersten Stock betritt, harrt Maria Mießner im Sessel der Dinge, die da kommen. Auf den ersten Blick fällt den Polizisten beim Betreten der Wohnung ein Regal über der Schlafzimmertür auf. Darauf sind Bierdosen gestapelt, die bei Biertrinkern beliebte Sammelobjekte sind, weil es die im Westen gibt und in der DDR nur in Intershop-Läden. Das Wohnzimmer hat die Standardeinrichtung der typisierten Plattenbauten: Schrankwand vom Typ Leipzig IV-1, darin der Fernsehapparat. Gegenüber stehen die ausklappbare Couch, davor ein Tisch und zwei Sessel. Auf den Nachttischen im Schlafzimmer befinden sich Limonaden- und Bierflaschen, ein Flaschenöffner, Zigaretten der Marke F6, Streichhölzer und ein gefüllter Aschenbecher. Die Doppelbett-Seite rechts ist unberührt, die linke hingegen zerwühlt. Im Schrank im Flur stehen Reinigungsgeräte und vor allem jede Menge leere Schnapsflaschen. Darüber in den Fächern liegt allerlei Kram, der im Haushalt benötigt wird, darunter eine Rolle Paketschnur.

Nachdem ein Arzt den »unnatürlichen Tod« des spärlich bekleideten Mannes auf der Couch festgestellt hat, werden der Leichnam zur Obduktion in die Medizinische Akademie nach Dresden und die mutmaßliche Täterin Maria Mießner zum VPKA gebracht. Kriminaltechniker der Morduntersuchungskommission sichern die Spuren in der Wohnung und versiegeln sie nach Erledigung dieses wichtigen Teils der Aufklärungsarbeit. Am Mittag, kurz nach 13 Uhr, beginnt bei der MUK die Vernehmung der Beschuldigten. In der Befragung, die drei Stunden dauert, gesteht Maria Mießner ohne Ausflüchte in allen Einzelheiten und soweit sie sich erinnern kann, wie sie ihren Ex-Mann getötet hat. Auf die Frage, wie sie sich fühlt, antwortet sie den Vernehmern: »Saugemein, weil ich getan habe, was ich nie im Leben getan hätte. Ich konnte nicht mehr. Er hat mich so beleidigt an diesem Abend. Ich hatte es satt, ich war für ihn immer nur der letzte Dreck.«

Maria hat nach eigenen Aussagen ihren Lebenspartner getötet. Doch war sie am Tatabend auch in der Lage, ihr Handeln zu steuern und die volle Tragweite zu erkennen? In der Medizinischen Akademie »Carl Gustav Carus« in Dresden wird die Beschuldigte von Prof. Dr. Ehrig Lange untersucht. Auf seine Frage, warum sie dem Mann trotz aller Erniedrigungen und Repressalien immer wieder die Treue gehalten habe, gibt sie nur eine Begründung: »Wenn er nicht getrunken hat, war er ein sehr angenehmer Partner. Ich habe ihn trotz allem geliebt.« Zur Schuld- und Steuerungsfähigkeit wird festgestellt:

Die Beschuldigte hat weder in krankhafter Störung der Geistestätigkeit noch im Zustand einer krankhaften Bewusstseinsstörung gehandelt, wohl aber in angespannter emotionaler Spannung als auch in alkoholisch gelockerter bis beeinträchtigter Bewusstseinsstabilität. Eine krankheitswertige abnorme Entwicklung der Persönlichkeit ist nicht zu belegen.

Damit ist zunächst unter forensisch-psychiatrischen Aspekten auszusagen, dass tatbezogen keine Zumessung aufgehobener oder verminderter Zurechnungsfähigkeit festzustellen ist. Was die alkoholische Handlungsbeeinflussung betrifft, so ist ebenfalls als sicher auszusagen, dass sich weder für einen pathologischen noch für einen pathologisch gefärbten Alkoholrausch eine Begründung ergibt.«

Unter diesem Gesichtspunkt klagt die Staatsanwaltschaft Maria Mießner wegen Mordes an. Eine Affekthandlung wird ausgeschlossen, weil zwischen den Beschimpfungen und der Tatausführung mindestens zweieinhalb Stunden vergangen waren. Sie habe nicht spontan gehandelt, sondern die Tat nach dem einmal gefassten Entschluss planmäßig und zielstrebig umgesetzt.

Am 15. August 1989 verurteilt das Bezirksgericht Cottbus die Angeklagte wegen Mordes gemäß dem Antrag des Staatsanwaltes zu zwölf Jahren Gefängnis. Der Auffassung der Verteidigung, dass Maria Mießner im Affekt, also im Zustand hochgradiger Erregung, gehandelt hat, widerspricht der erste Strafsenat. Die Angeklagte habe als Hauptmotiv für die Tötung ihres geschiedenen Mannes angegeben, dass dieser ihr den Erhalt des Sorgerechts für die Enkeltochter unmöglich machen wollte, heißt es in der Urteilsbegründung. Seine Auffassung habe ihr das Opfer zuvor bereits mehrfach mitgeteilt und dafür zum Teil auch vernünftige Gründe angeführt wie ihr Alter, die falsche Wirkung auf die Tochter, wenn sie ihr die Pflichten dem Kind gegenüber abnimmt oder auch das Trinken von Alkohol in der Wohnung. Die Angeklagte konnte deshalb nicht in eine plötzliche psychische Ausnahme- und Zwangssituation geraten sein, zumal die Tötung des Geschädigten ihre Interessenlage diesbezüglich nicht besserte, sondern den gestellten Antrag endgültig zunichte machte, so die Richter. Also konnte die Tötung nicht eine »Befreiung«, sondern nur eine nicht zu billigende Vergeltung darstellen.

Bei der Strafzumessung berücksichtigt das Gericht dennoch strafmildernde Umstände wie die Beschimpfungen, Bedrohungen und Misshandlungen durch das Opfer, ihre einwandfreien Arbeitsleistungen im Betrieb und das Mitwirken an der Aufklärung des Verbrechens. Mit der Strafe von zwölf Jahren Freiheitsentzug bewegen sich die Richter an der unteren Grenze der Vorgabe des Strafgesetzbuches der DDR, das für die vor-

Nützliche Tötung eines Menschen eine Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bis zu lebenslänglich festlegt.

Im Oktober des gleichen Jahres bestätigt das Oberste Gericht der DDR das Urteil für das tödliche Ende der von Hassliebe geprägten Beziehung von Maria und Eberhard Mießner. Im Zuge eines Gnadenerlasses durch den Minister der Justiz des Landes Brandenburg wird die Strafe später auf acht Jahre herabgesetzt. Im Juni 1994 verfügt das Landgericht Cottbus die Aussetzung der Haft und legt die Bewährungszeit auf vier Jahre fest. Einen Monat später kann Maria Mießner das Gefängnis verlassen. Im Jahre 1999 verstirbt sie im Alter von 66 Jahren.