VERHÄNGNISVOLLE BEGEGNUNG

Michaela Moritz will schnell nach Hause. Es ist winterlich kalt Anfang Februar 1976. Außerdem wird es kurz vor 18 Uhr bereits dunkel. Das neunjährige Mädchen tritt in die Pedalen, um den Weg durch den Wald, der Maukendorf und Knappenrode verbindet, schnell hinter sich zu bringen. Gut eine halbe Stunde ist es her, seit sie von daheim aufgebrochen ist, um im Konsum der Nachbargemeinde Knappenrode Milch zu kaufen. Die Orte liegen an einem See in der Nähe von Hoyerswerda. Früher wurde hier Braunkohle gefördert. Doch inzwischen ist die Grube geflutet, und im Sommer ist viel Betrieb an den Stränden.

Um diese Jahreszeit begegnet man in dieser Gegend kaum Fremden. Angst hat Michaela nicht, schließlich kennt sie diesen Waldweg gut, es ist ihr Schulweg. Es ist auch nicht mehr weit bis nach Hause. In der Ferne sieht sie einen Mann mit einem Fahrrad. Beim Näherkommen bemerkt sie, dass der seinen Drahtesel mitten auf den Weg gelegt hat und ihr damit das Vorbeikommen fast unmöglich macht. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm ist, pöbelt er das Kind plötzlich an: »He, willst du mit mir ficken?« Provokativ schiebt er dabei seinen Unterleib vor, wodurch die Wölbung in seiner Hose deutlich hervortritt. »Mach Platz, du Blödmann«, antwortet das Mädchen und weicht ihm ohne anzuhalten aus. Sie kennt ihn flüchtig und nimmt seine Protzerei nicht ernst.

Der Radfahrer folgt dem Mädchen und hat es nach wenigen Metern erreicht. »Halt doch mal an«, ruft er ihr zu. Michaela steigt vom Fahrrad, ohne sich Gedanken zu machen. »Lässt du mich nun ficken«, lässt der Kerl nicht ab von seinem perversen Vorhaben. Nun bekommt es das Kind doch mit der Angst zu tun, will wieder aufsteigen und flüchten. Doch der so viel Stärkere hält ihr Fahrrad am Gepäckträger fest. Michaela läuft in den Wald hinein, nur weg von dem Verrückten, der etwas mit ihr vorhat, das sie nicht begreift und vor dem sie sich fürchtet. Nach wenigen Schritten holt ihr Verfolger sie ein, greift ihren Hals und stellt ihr ein Bein, so dass sie auf den Rücken fallt. Sofort kniet sich der Täter auf ihre Arme. Mit der linken behandschuhten Hand drückt er dem Opfer Mund und Nase zu, mit der rechten würgt er es. Dabei schaut er auf seine Armbanduhr. Es ist 17.38 Uhr. Michaela, ein kleines schmächtiges Mädchen, hat keine Chance. Sie verliert das Bewusstsein. Als sie nicht mehr atmet, kontrolliert der Täter wieder die Zeit. Die Uhr zeigt 17.43 an. Er reißt dem reglosen Mädchen Hose und Schlüpfer herunter, packt sein Glied aus, und versucht, dem Opfer seinen erigierten Penis in die Scheide zu stecken. Das misslingt bei dem kindlichen Geschlecht. Wütend zieht er sich an, ohne sein Ziel, das Mädchen bis zum Samenerguss zu missbrauchen, erreicht zu haben.

Der Mörder schnappt sich mit der linken Hand Michaelas Fahrrad, den leblosen Körper wirft er sich über die rechte Schulter. Er läuft quer durch den Wald zu einem Wassergraben, über den eine Bahnlinie führt. Dort lässt er zunächst das Rad fallen, um das Kind beiseite zu schaffen. Aus Angst, dass die Tote im Rohr, das das Wasser durch den Bahndamm leitet, stecken bleiben könnte, geht er ein Stück über die Gleise und lässt das Bündel auf der anderen Seite von der Schulter die Böschung hinabgleiten, in der Hoffnung, dass es in den Graben rutscht. Doch das Mädchen bleibt am Ufer liegen und er muss nun doch durch den Schnee waten, der an dieser geschützten Stelle liegt, um die Tote zu versenken. Er beobachtet, wie die Leiche abtreibt und untergeht. Mit einem Ast verwischt er die Spuren auf der Böschung.

Der Täter eilt zum Fahrrad des Opfers zurück, an dem eine Einkaufstasche hängt. Er durchsucht sie nach Geld, findet zwei Mark und steckt sie ein. Das Fahrrad wirft er, wie zuvor das Mädchen, in den Graben. Beim ersten Versuch ragt es noch weit aus dem Wasser. Er holt es heraus und wiederholt den Vorgang. Nun versinkt es vollständig.

Zu Hause in Maukendorf wird Michaelas Vater Werner Moritz unruhig, als seine Tochter um 18 Uhr noch nicht zurück ist. Sie sollte doch nur zum Konsum fahren, um Milch zu holen, mehr nicht. Kurz nach 17 Uhr hatte er sie losgeschickt. Das Kind ist stolz, dass sie das schon darf und Papa helfen kann. Und der hat keine Bedenken. Immer war auf das Mädchen Verlass gewesen. »Das kann doch nicht so lange dauern«, sagt er sich, als die Zeit verrinnt. Nun macht er sich doch Vorwürfe. »Hoffentlich ist nichts passiert.« Werner Moritz setzt sich ins Auto und trifft wenige Minuten später am Konsum im Nachbarort Knappenrode ein. »Ja, deine Michaela war hier«, bestätigt ihm Verkäuferin Sieglinde Schulze. »Die ist aber gleich wieder weg, so kurz vor drei Viertel sechs«, fügt sie hinzu. Werner Moritz fährt die Strecke ab, die seine Tochter auf dem Heimweg genommen haben muss. Er sieht sie nicht. »Bestimmt ist sie inzwischen zu Hause, hat vielleicht unterwegs eine Freundin getroffen«, versucht sich der Vater zu beruhigen. Doch Michaela ist nicht da. Verzweifelt fährt er erneut nach Knappenrode und wieder zurück, sucht eine Straße nach der anderen ab, doch Michaela ist wie vom Erdboden verschluckt. Um 19.50 Uhr alarmiert Werner Moritz die Polizei. Sofort werden alle Streifen verständigt. Es beginnt die Suche nach der Vermissten. Bei Freundinnen und Verwandten ist Michaela nicht. In Krankenhäusern der Umgebung ist kein unbekanntes Kind eingeliefert worden. Auch von einem Verkehrsunfall ist nichts bekannt. Und sie in der Dunkelheit draußen im Wald zu finden, ist aussichtslos.

Kurz nach 17 Uhr ist mit dem Sportunterricht die erste Schulwoche im Februar für die 15-jährigen Harald Kuttzer und Lothar Güttner, Schüler der neunten Klasse der Polytechnischen Oberschule Knappenrode endlich vorbei. Die beiden Jugendlichen beschließen, ihr »Tagwerk« mit einer Zigarette zu beenden. Dass ihnen das Gesetz Rauchen noch nicht gestattet, schert sie nicht. Es passiert ihnen ja nichts, solange sie von Lehrern und Eltern nicht erwischt werden. Harald und Lothar radeln ein Stück in den angrenzenden Wald hinein. Dort fühlen sie sich sicher vor fremden Augen und brennen sich ihre Lunten an. Als die Glimmstengel niedergepafft sind, fahren die Jugendlichen zurück. An der Post verabschieden sie sich voneinander, um nach Hause zu fahren. Harald Kuttzers Weg führt an einem HO-Geschäft vorbei. Nach dem Tabakgenuss steht ihm der Sinn nach Süßem. Er geht in den Laden und kauft sich für eine Mark Pfefferkuchen. Herzhaft beißt er vom Lebkuchengebäck mit dem Schokoladenüberzug ab und bricht dann auf. Auf der Heimfahrt kommt ihm der Gedanke, dass er ja durchaus noch ein paar Züge nehmen könnte. In der Hosentasche stecken eine halbe Zigarre und eine Zigarette, die er vom Vater stibitzt hat.

Auf dem Hauptweg, der durch den Wald zwischen Maukendorf und Knappenrode führt, sieht er Michaela Moritz kommen. Doch die Kleine interessiert den Jungen zunächst nicht. Er biegt rechts in einen Trampelpfad ein, hält an, setzt sich auf die Querstange seines Herrenfahrrades und zündet sich die Zigarre an. Doch schon nach wenigen Zügen kratzt der Rauch unangenehm im Hals. »Das Kraut ist aber scharf«, stellt Harald Kuttzer für sich fest und wirft den Stummel weg. Die Zigarette schmeckt ihm besser. Wie er so dasteht und in den Tag hineinsinnt, schwillt ihm der Penis. Das geht schon den ganzen Tag so, dabei hat er sich heute früh mit der Hand Erleichterung verschafft. Während er raucht, reibt sich Harald Kuttzer zwischen den Beinen. Eine Zigarettenlänge später begibt er sich zum Hauptweg zurück. Auf dem kommt ein Mann mit einem Motorroller angefahren. Kuttzer lässt ihn vorbei, überquert danach die unbefestigte Waldstraße, wartet und lässt sich ein weiteres Stück Pfefferkuchen schmecken. Minuten später sieht er Michaela Moritz näher kommen. Nur noch wenige Meter trennen das neunjährige Mädchen von dem sexuell erregten, pubertierenden Jüngling. Dann kommt es zu der verhängnisvollen Begegnung. Das furchtbare Geschehen nimmt seinen Lauf.

Während in Maukendorf Werner Moritz voller Unruhe die Straße entlang blickt, auf der seine Tochter vom Einkaufen längst angefahren kommen müsste, dann das Auto aus der Garage holt, zum Konsum nach Maukendorf fährt und später die Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgibt, sitzt Harald seelenruhig daheim im Wohnzimmer. Er lässt sich das Abendbrot schmecken, verfolgt im Fernsehen die »Aktuelle Kamera« und guckt danach den Freitagsfilm. Gegen 21.30 Uhr geht er ins Bett, das wegen der beengten Wohnverhältnisse im Elternschlafzimmer steht. Er denkt nicht nach über das, was er Stunden zuvor Michaela angetan hat.

An den folgenden drei Tagen verfolgt Harald nahezu amüsiert die aufwendige Suche nach der vermissten Michaela Moritz. Mit Lautsprecherwagen bittet die Polizei die Bevölkerung um Mithilfe. Sie selbst durchstreift mit einem Großaufgebot die Wälder rings um den See. »Mann, sind das eine Menge Polizisten, und der ganze Aufwand nur wegen eines kleinen Mordes«, denkt er. Nur eine Sorge treibt ihn um: »Habe ich auch keine Spuren hinterlassen?«

Zwei Tage später wird Michaelas Fahrrad aus dem Wassergraben gezogen. Der Beutel mit dem Einkauf hängt noch am Lenker. Die Hoffnung, das Mädchen lebend zu finden, ist nur noch gering. Kurze Zeit später wird der halb entkleidete Leichnam des Kindes geborgen. Spezialisten fotografieren den Fundort des Fahrrades und der Leiche. Ein Gerichtsmediziner nimmt das tote Kind vor Ort in Augenschein. Danach kommen die Leichenbestatter und transportieren die Tote nach Dresden in die dortige Medizinische Akademie, wo sie Rechtsmediziner obduzieren. Die Ärzte diagnostizieren nach der Leichenschau ein sogenanntes verkürztes Ertrinken als Todesursache. In der Lunge haben sie Wasser und Speisebrei gefunden. Michaela hat noch gelebt und muss erbrochen haben, bevor der Täter sie in den Wassergraben warf. Hautunterblutungen und Hämatome am Hals, den Oberarmen und an den Oberschenkeln sind Zeugnisse der Gewalt, der das Kind ausgesetzt war.

Parallel zur Suche nach Michaela Moritz ermittelt die Kripo in den Anrainergemeinden des Sees, vor allem natürlich in Knappenrode und Maukendorf. Sie macht die Zeugen ausfindig, die das Mädchen zuletzt gesprochen und möglicherweise den Täter gesehen haben. Der entscheidende Hinweis kommt vom Fahrer des Motorrollers, der Harald Kuttzer zur mutmaßlichen Tatzeit in der Nähe des Tatortes beobachtet hat. Akribisch wird die Umgebung abgesucht. Auf dem Trampelpfad abseits des Hauptweges sichern die Kriminaltechniker die Reste einer Zigarre und einer Zigarette. An ihnen werden später im Kriminaltechnischen Institut der Deutschen Volkspolizei in Berlin Spuren nachgewiesen, die eindeutig von Harald Kuttzer stammen. Vier Tage nach dem Tötungsverbrechen an Michaela verhaftet die Polizei den 15-Jährigen. Bei der Hausdurchsuchung wird die Bekleidung sichergestellt, die er am Tattag getragen hat. Darauf sichern die Kriminaltechniker Faserspuren, die zu Kleidungsstücken von Michaela passen. Unter den Fingernägeln des Verdächtigen werden Reste von Schmutz herausgekratzt und im Labor unter die Lupe genommen. Die Erdspuren und Rauchpartikel könnten vom Tatort stammen. Die Mordermittler sind sich sicher, dass Harald Kuttzer derjenige ist, der Michaela Moritz vergewaltigt und getötet hat. Einen Tag nach der Festnahme bestätigt das Kreisgericht Hoyerswerda den Haftbefehl, den die Staatsanwaltschaft des Bezirkes Cottbus beantragt hat. Harald Kuttzer wird in Untersuchungshaft genommen und gesteht den Mord. Er berichtet den Kriminalisten ohne sichtbare Reaktionen oder Schuldgefühle, was sich am 6. Februar 1976 in der halben Stunde zwischen 17.30 Uhr und 18 Uhr ereignet hat. Später schreibt er detailgetreu den Tathergang auf.

In den Vernehmungen und später bei der nervenärztlichen Untersuchung in der Charite der Humboldt-Universität Berlin wird die seelische Kälte des heranwachsenden jungen Mannes auf erschreckende Weise deutlich. Auszüge aus einer Befragung in der Charite zur Tat belegen das:

Frage: Warum hast du auf sie gewartet?

Antwort: Weil ich mich befriedigen wollte.

Frage: Und wie sollte das sein?

Antwort: Ich wollte mein Glied bei ihr reinstecken.

Frage: Dachtest du, die Michaela ist damit einverstanden?

Antwort: Ja

Frage: Warum bei einem so kleinen Mädchen?

Antwort: Weiß ich auch nicht. Vor Maukendorf habe ich gesagt, sie soll mal anhalten. Ich habe mein Fahrrad auf die Seite gelegt und gefragt, ob sie mit mir ficken will.

Frage: Und, was hat sie gesagt?

Antwort: Sie wollte fahren, und da habe ich das Fahrrad festgehalten und dann ist sie in den Wald reingerannt und ich bin nach. Und dann habe ich sie umgebracht und wollte dann den Geschlechtsverkehr, aber das hat nicht geklappt.

Frage: Warum hast du sie gewürgt?

Antwort: Ich wollte, dass es nicht rauskommt.

Frage: Was sollte nicht rauskommen?

Antwort: Dass ich mit ihr gevögelt habe.

Frage: Hast du sie gewürgt, damit sie still ist und du sie vögeln kannst, oder gewürgt, damit sie gleich tot ist und du dann mit ihr vögeln kannst?

Antwort: Ich wollte, dass sie ruhig bleibt, und dann wollte ich mit ihr vögeln.

Frage: Dann hätte sie dich doch angezeigt?

Antwort: Ich wollte sie danach umbringen.

Frage: Du wolltest zuerst nur, dass sie ruhig ist?

Antwort: Ja.

Frage: Und dann umbringen?

Antwort: Ich wollte sie erst erstechen, aber ich hatte ja kein Messer, und da wollte ich sie dann erwürgen.

Frage: Du wolltest sie von vornherein eigentlich tot machen, damit sie dich nicht verrät?

Antwort: Ja.

Rein biologisch gesehen, ist Harald längst ein Mann. In seinem Sozialverhalten aber ist er weit zurückgeblieben. Der 15-Jähige ist das älteste von vier Kindern. Seine drei Schwestern sind zur Tatzeit dreizehn, zehn und sechs Jahre alt. Die Eltern sind beide berufstätig, arbeiten im örtlichen Braunkohlebetrieb. Mutter Margott geht in ihrem Beruf als Expedientin auf, Vater Heinz ist als Heizer beschäftigt. Die Eltern arbeiten wechselseitig dreischichtig, was der gemeinsamen Erziehung der Kinder nicht forderlich ist. Insgesamt aber funktioniert die Ehe selbst in der Enge der kleinen Wohnung, die es mit sich bringt, dass der 15-jährige Harald im Zimmer der Eltern schläft.

Harald fühlt sich früh allein gelassen. Er hat das Gefühl, dass er mehr im Haushalt helfen muss als die Mädchen: Kohle und Holz holen, heizen, Asche rausbringen, die Kaninchen füttern. Mit den Schwestern gibt es häufig Streit, dann kann er seinen Jähzorn kaum bändigen. Er beißt sich in seiner unbändigen Wut selbst schmerzhaft in die Hand, ritzt sich mit Glasscherben die Handgelenke in der Nähe der Pulsadern auf, drückt sich selbst die Luft ab, bis ihm schwindelig wird. Die Mutter merkt nichts davon, und der Vater ist schnell mit Prügel bei der Hand, wenn der Sohn nicht spurt. In solchen Momenten will der Junge am liebsten von zu Hause abhauen, sich im Wald eine Hütte bauen und sich dorthin zurückziehen. Die innigsten Beziehungen hat er zur Oma, die gleichfalls auf dem Grundstück wohnt und den Jungen in den ersten Lebensjahren betreut, ihn erzieht, dem Enkel aber auch manches im Verhalten nachsieht.

Als Harald in den Kindergarten kommt, kann er schlechter sprechen als Gleichaltrige. Er wird gehänselt, zieht sich zurück und spielt viel allein. Passt ihm etwas nicht, rastet der Junge aus, schmeißt mit Stühlen und prügelt sich mit den Kindern seiner Gruppe.

In der Schule ändert sich in den folgenden Jahren am Verhalten des Jungen nichts. Auch mit den Leistungen hinkt er hinterher. Die Drei ist für ihn eine gute Note, Vieren und sogar Fünfen überwiegen im Klassenbuch. Jahr für Jahr schrammt er nur knapp am Sitzenbleiben vorbei. Harald ist nach Einschätzung der Lehrer der leistungsschwächste Schüler der Klasse, der kaum Erfolgserlebnisse hat. Die Klassenkameraden meiden ihn, weil er schmuddelig aussieht, unangenehm riecht, an den Fingernägeln knabbert, schnell reizbar ist und sich bei jeder Gelegenheit prügelt.

Seit dem sechsten Lebensjahr raucht der Junge. Zigaretten besorgt er sich beim Vater und Opa, kauft billige Sorten wie »Karo« und »Salem« in HO und Konsum oder klaut sie einfach aus den Geschäften. Keiner der Erwachsenen scheint die Nikotinsucht zu bemerken oder nimmt erzieherisch Einfluss darauf. Als eine Schwester beim großen Bruder Zigaretten findet und ihn beim Vater verpetzt, setzt es für den Jungen eine Tracht Prügel. Hin und wieder hat er einen Kumpel, einen richtigen Freund aber hat er nie.

In der Sportgemeinschaft Dynamo nimmt Harald regelmäßig am Schießtraining teil. Hier erzielt er Erfolge, ist kameradschaftlich und hilfsbereit. Er genießt Anerkennung, die ihm sonst versagt ist und die er auf andere Art zu erlangen versucht. So kauft er für die Jungs in seiner Klasse »Pariser«. Die schämen sich zwar, die Kondome in der Drogerie selbst zu verlangen, haben dann aber den Mut, diese vor den Mädchen aufzublasen oder mit Wasser zu füllen. Seine »Dienstleistung« lässt sich Harald allerdings mit Trinkgeld belohnen, was unter wirklichen Freunden in diesem Alter und bei dem wenigen Geld, das sie in der Tasche haben, eher unüblich ist.

Für die damalige Zeit schon recht zeitig, reift das Kind zum Manne. Mit zwölf, dreizehn Jahren sprießen die ersten Haare auf der Scham, nachts kommt es zum Samenerguss. Er spürt im Schlaf den Drang nach Entleerung, möchte ihm widerstehen und kann den Ausfluss doch nicht verhindern. Früh nach dem Aufwachen schämt er sich, weil er glaubt, dass er eingenässt hat. Das Thema Sex ist in der Familie tabu, dafür ist die Schule zuständig. Die beschränkt sich im Biologieunterricht in den wenigen Stunden Sexualkunde, die der Lehrplan enthält, auf die inneren und äußeren Geschlechtsorgane von Frauen und Männern und wie aus Samen und Eizelle ein Kind entsteht. Als ihn die Mutter einmal morgens im Bett beim Onanieren überrascht, schimpft sie nur: »Lass das. Das macht man nicht.« Der Junge versteht die Schelte nicht, denn er weiß, dass sich auch die anderen Jungs in der Klasse und in der Sportgemeinschaft »einen runter holen«. Die Pornobilder, die heimlich getauscht werden unter den Schülern und von denen die Polizei bei der Hausdurchsuchung bei Harald einige sicherstellt, vermitteln

dem Heranwachsenden nichts über die wirkliche Liebe zwischen Mann und Frau, sondern stellen sie nur als triebhaften Sex dar. Dass sich dabei der Mann nimmt, was ihm sein Verlangen diktiert, ist für den Heranwachsenden die Erkenntnis.

Wie verkümmert die sexuellen Ansichten sind, dass Aufklärung nicht stattgefunden hat, beweist ein Gespräch mit dem Jungen zu diesem Thema während der psychologischen Untersuchung:

Frage: Wenn du onanierst, stellst du dir da was vor?

Antwort: Naja, ein paar Weiber und so, von unserer Klasse.

Frage: Und, was hast du dir vorgestellt?

Antwort: Wie sie mit mir vögeln.

Frage: Was ist dir lieber, wer anfängt?

Antwort: Wenn sie anfängt.

Frage: Und wie stellst du dir das am schönsten vor?

Antwort: So genau habe ich mir das nicht vorgestellt.

Frage: Wie hast du dir den Ablauf vorgestellt?

Antwort: Na, man zieht sich aus und dann den Geschlechtsverkehr. Glied in die Scheide einführen und dann Samenerguss. Wie lange das dauert bis zum Samenerguss, weiß ich nicht.

Frage: Was macht man noch?

Antwort: Das weiß ich nicht.

Frage: Liegt er auf ihr oder umgekehrt?

Antwort: Das weiß ich nicht.

Frage: Hast du kein Bild vor Augen?

Antwort: Ich dachte, einfach rinn und dann Samenerguss.

Frage: Und wie sollte das mit Michaela sein?

Antwort: Na, auch bloß reinstecken.

Er weiß kaum etwas von den Vorgängen, die beim Akt zwischen Frau und Mann vor sich gehen, obwohl das in dieser Altersgruppe allgemein bekannt ist. Er ist noch nicht auf einen Typ Mädchen festgelegt, will eher Blond- als Schwarzhaarige. Die Größe der Brust ist ihm egal, nur die Beine dürfen nicht so dünn sein. Sechs bis sieben Freundinnen will er schon gehabt haben, doch angefasst oder geküsst hat er keines der Mädchen.

Geschlechtsverkehr ist ihm praktisch noch fremd. Anzeichen für pädophilie Neigungen oder gar sexuelle Gewaltfantasien schließen Psychiater bei ihm aus. Michaela ist ihm über den Weg gelaufen, als er sexuell erregt war, und Harald hat sie sich genommen, um sich zu befriedigen und sie zur Verdeckung der Tat getötet.

Bei allen Entwicklungsdefiziten, die Harald ohne Zweifel hat, stellen die Gutachter in der Berliner Charite am Ende der nervenärztlichen Untersuchungen fest, dass er zum Tatzeitpunkt voll schuldfähig war.

Die Staatsanwaltschaft Cottbus klagt Harald Kuttzer im Juli 1976 an, »die sexuelle Unantastbarkeit eines Kindes verletzt und einen Menschen getötet zu haben«. In der Anklageschrift heißt es:

Der Beschuldigte hat eines der verabscheuungswürdigsten Verbrechen begangen. Er hat sich skrupellos zur Befriedigung persönlicher Begierden über alle Normen des Zusammenlebens und des Schutzes unserer Kinder hinweggesetzt und zur Vertuschung eines Sexualverbrechens ein weiteres - noch schwereres - Verbrechen begangen.«

Einen Monat später findet der Prozess vor dem Bezirksgericht statt. Der erste Strafsenat folgt nach einer zweitägigen Beweisaufnahme der Auffassung der Anklagebehörde und verurteilt Harald Kuttzer wegen Mordes und Vergewaltigung zu 15 Jahren Gefängnis. Es ist nach dem Strafgesetzbuch der DDR die höchstmögliche zeitliche Freiheitsstrafe. Sein kaltblütiges und berechnendes Vorgehen während des gesamten Handlungsablaufs lassen nur dieses harte Urteil zu, so die Richter.

Leid schweißt nicht immer zusammen

33 Jahre nach dem schrecklichen Mord an Michaela Moritz. Die Sonne lacht an diesem Wochenende im Frühherbst 2009. Wir sitzen im Garten der Familie Moritz in Mauckendorf, um darüber zu sprechen, welche Spuren der Tod von Michaela in ihrem Leben hinterlassen hat. Es gibt Kaffee und Pflaumenkuchen. Es ist alles so normal an diesem Samstagnachmittag, doch die Normalität ist zerbrechlich, auch jetzt noch, über drei Jahrzehnte nach dem Trauma im Februar 1976.

Leid schweißt nicht immer zusammen«, sagt Gerda Moritz leise und sachlich. Die Erinnerung steigt wieder hoch an die Zeit, als der Tod der Tochter Gewissheit ist und doch unbegreifbar bleibt. »Wir haben mit meinem Mann nie darüber gesprochen«, sagt Gerda Moritz und fügt hinzu: »Wir haben beide gelitten wie die Hunde und lange gebraucht, um wieder zueinander zu finden.«

Gerda und Werner Moritz mussten bleiben, obwohl sie gern davongelaufen wären angesichts des Unfassbaren, das doch täglich so fassbar war. Der Weg durch den Wald, den die neunjährige Michaela gefahren ist, um etwas Milch aus dem Konsum in Knappenrode zu holen, beginnt vor dem Grundstück der Familie Moritz, und das ist Familienbesitz seit Generationen. Die Stelle an der Bahnlinie und dem Wassergraben, wo der Leichnam der Tochter gefunden wurde, ist nur einen Steinwurf vom Haus entfernt. Und trotzdem musste Michaela sterben. »Wenn sie geschrieen hätte, ich hätte es doch gehört«, ist Werner Moritz noch heute überzeugt. In dem Satz schwingt die Ohnmacht mit, sein Kind so nah am sicheren Zuhause nicht gerettet haben zu können.

Das Ehepaar hat lange überlegt, bevor es sich zu diesem Gespräch durchgerungen hat. Es befürchtet, dass all der Schmerz, der im Innersten begraben ist, wieder aufbrechen könnte. Nicht zu Unrecht. Doch er ist beherrschbar, jetzt, nach der langen Zeit, die verstrichen ist. Der Sohn hat geheiratet, und die Enkelkinder machen Oma und Opa stolz, selbst wenn die Enkeltochter mit ihren 14 Jahren »manchmal eine richtige Zicke ist«, wie Gerda Moritz eher liebevoll als tadelnd sagt. Diese Phase des Hinüberwachsens vom Kind zum Teenager - bei Michaela konnte sie diesen Lebensabschnitt nicht begleiten.

Das Ehepaar Moritz verspürte Hass auf den Täter und hatte Rachegelüste. Beides ist überwunden, obwohl er sie nie um Verzeihung gebeten hat für das, was vielleicht auch nie zu vergeben ist. Er hat es nicht einmal versucht.

Was an den Eltern von Michaela nagt, auch heute noch, ist die Ungewissheit darüber, was genau mit ihrer Michaela in dem Wald vor ihrer Haustür geschehen und was in dem Kopf des Täters vor sich gegangen ist. Darüber hat niemand mit ihnen gesprochen, auch nicht nach Abschluss des Gerichtsverfahrens. Werner Moritz hat ein paar Blätter Papier herausgesucht. Darunter ist eine Benachrichtigung des Bezirksgerichtes Cottbus darüber, wann der Prozess stattfinden wird, und eine Mitteilung über die Gewährung von Schadenersatz für Trauerkleidung und Grabstätte der Tochter. »4000 Mark, damit war das Leben unserer Tochter abgegolten«, sagt er. »Doch das Geld war uns sowieso nicht wichtig, denn für das Leben von Michaela konnte es keine Entschädigung geben.« Und da ist noch eine Ablichtung aus der Ortschronik mit ein paar Zeilen über den Mord an Michaela Moritz. Ein dunkler Schatten sei auf die Schule gefallen, hat der Chronist dazu aufgeschrieben. Dass die Schule in ein schlechtes Licht geraten könnte, sei damals wirklich die größte Sorge der Schulleitung gewesen, ärgert sich Gerda Moritz noch immer. Die Klassenlehrerin habe Anteil genommen, sonst keiner von der Schule.

Gerda und Werner Moritz mussten schmerzhaft erfahren, dass ihre Mitmenschen nicht wussten, wie sie sich gegenüber den Hinterbliebenen eines Mordopfers verhalten sollten. »Auf dem Friedhof haben die Leute einen Bogen um uns gemacht«, beschreibt Gerda Moritz die Furcht der Mitbewohner vor zu großer Nähe, ihre Angst, neugierig zu wirken oder Schmerz und Leid noch zu vertiefen. Sie selbst haben sich in dieser Zeit auch nicht unter die Leute getraut. Zur Arbeit in die Brikettfabrik Knappenrode wollte sie nicht mehr gehen und in die Betriebskantine zum Mittagessen schon gleich gar nicht, erzählt Gerda Moritz. Zum Glück hat wenigstens ihr Kollektiv sich um sie gekümmert und sie aus der Isolation geholt. »Mein Mann und ich, wir haben nichts mehr gefühlt, waren wie ausgebrannt, haben nur noch funktioniert«, beschreibt die Mutter von Michaela diese Zeit des stumpfen Dahinlebens und der nächtlichen Alpträume vom Tod ihrer Tochter, die beim Aufwachen zur brutalen Realität wurden. Zum Glück gab es den damals siebenjährigen Sohn, der seine Eltern brauchte und sie forderte und sie damit ins Leben zurückführte. Sie wissen nicht, ob ohne diese Verantwortung für den Jungen nicht ihre Ehe und darüber hinaus jeder für sich am Tod der Tochter zerbrochen wäre. Aus dem eigenen Erleben raten Gerda und Werner Moritz Hinterbliebenen von Gewaltopfern, mit Menschen ihres Vertrauens zu sprechen, um zu begreifen und zu verarbeiten, was geschehen ist.

Das Grab von Michaela Moritz gibt es nicht mehr. Die Liegezeit ist abgelaufen. Fotos der Tochter stehen nicht in der Vitrine und hängen nicht an den Wänden. Unerträglich wäre die tägliche Erinnerung. Die Bilder sind aufbewahrt in Alben und im Herzen. Die seelischen Wunden, die der Mörder den Eltern zugefügt hat, sind verheilt. Doch Narben sind geblieben.

Am Tag, als Michaela unterwegs war, um Milch im Konsum zu holen, hatte der Vater die Zeit genutzt, eine Flugente für den Sonntagsbraten zu schlachten. Michaela kam nicht mehr zurück. Seither hat Werner Moritz nie wieder ein Tier geschlachtet, bevor nicht alle aus der Familie vollzählig daheim waren. Und das wird auch in Zukunft so sein.