»DU KOMMST AUCH NOCH DRAN ...«
Am 10. April 1978 gegen 17.30 Uhr klingelt bei Familie Vorwand in Hoyerswerda das Telefon. Vorwands wohnen in einem der neuen Wohnkomplexe der Stadt in einem fünfgeschossigen Plattenbau. Pro Hauseingang leben immer zehn Familien in den Drei- und Vierraumwohnungen. Die wenigsten von ihnen besitzen so wie die Vorwands Telefon.
Monika Vorwand meldet sich nach dem dritten Klingeln. Am Ende vernimmt sie eine etwas gedämpft klingende, jugendliche Stimme. »Bitte holen Sie Herrn Bangelang ans Telefon«, hört sie. Bangelangs wohnen zwei Stockwerke höher und sind telefonisch nicht erreichbar. »Was soll ich ausrichten?«
Es handelt sich um Dirk Bangelang, den Sohn. »Machen Sie schnell«, fordert der Teilnehmer am anderen Ende eindringlich und ungeduldig. »Einen Moment, ich sehe nach, ob jemand zu Hause ist. Bleiben Sie dran«, sagt sie und läuft zwei Treppen höher. »Detlev, du sollst schnell ans Telefon kommen. Es geht um deinen Sohn«, sagt Monika Vorwand aufgeregt. Hoffentlich ist dem Jungen nichts passiert. Sie kennt den 15-Jährigen. Schließlich wohnt man schon ein paar Jahre lang zusammen in dem Haus im Wohnkomplex IX. Dirk ist der jüngste Spross der drei Bangelang-Kinder. Er ist stets höflich, grüßt freundlich, ist überhaupt gut erzogen und hilft den berufstätigen Eltern viel im Haushalt, weiß sie.
Detlev Bangelang macht sich Sorgen, da Dirk nicht, wie von ihm verlangt, zu Hause war, als er von Arbeit gekommen ist. »Hier Bangelang, was ist mit meinem Sohn?«, will der Mittvierziger wissen.
»Wir haben Ihren Sohn entführt. Wenn Sie ihn lebend wiedersehen wollen, kommen Sie um 19 Uhr zu dem kleinen Wald am Abzweig Seidewinkel. Und bringen sie 1000 Mark mit. Dann passiert Ihrem Sohn nichts«, antwortet der Erpresser am anderen Ende der Leitung mit offensichtlich verstellter Stimme. Er muss von einer Telefonzelle aus anrufen. Das lässt zumindest der Straßenlärm im Hintergrund vermuten. »Was soll das? Ich rufe die Polizei«, reagiert Bangelang nach einem Moment der Sprachlosigkeit. »Ich warne Sie: Keine Polizei! Denken Sie an Ihren Sohn«, nuschelt der andere und legt auf.
Natürlich kennt Detlev Bangelang den Abzweig nach Seidewinkel. Von der Fernverkehrsstraße 97 Richtung Schwarze Pumpe geht es links ab in das kleine Dorf vor den Toren der Kreisstadt Hoyerswerda. Es ist nicht weit bis dorthin.
Eine Viertelstunde mit dem Auto, länger braucht man von der Wohnung aus nicht. Detlev Bangelang will die Geschichte nicht glauben. »Entführung in der DDR, das gibt es doch nicht«, denkt der Mann, der sich nicht vorstellen kann, dass Verbrechen dieser Art in der sozialistischen Gesellschaft stattfinden. »Detlev, du musst die Polizei verständigen«, drängt ihn die Nachbarin. Nach kurzem Nachdenken stimmt er ihr zu und wählt den Polizeinotruf 110. Dann geht er und berichtet seiner Frau Marlies von dem merkwürdigen Anruf.
Eine halbe Stunde vergeht. Die Polizei lässt sich nicht blicken, obwohl der Diensthabende versprochen hat, einen Streifenwagen zu schicken. Dirk ist auch noch nicht da. »Der kann was erleben«, kündigt der Gatte seiner Frau mit einer Stimme an, in der Ärger über den Sohn, aber auch Sorge um ihn mitschwingen. Es ist kurz nach halb sieben. »Ich gehe rüber zu Fritz, bitte ihn, mitzukommen«, zeigt er sich entschlossen, der ganzen Sache auf den Grund zu gehen. »Du bleibst hier und wartest auf Dirk«, weist er seine Ehefrau an, die sich große Sorgen um ihr Kind macht. Der Mann klingelt beim Nachbarn, der gleichzeitig sein Arbeitskollege ist. Der zieht sich sofort die Schuhe an und streift die Jacke über. Die Männer gehen die Treppe hinunter und steigen in das Betriebsauto B 1000, das vor der Tür steht. Detlev Bangelang sitzt am Steuer, Arbeitskollege Fritz nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Beide haben vereinbart, zunächst die Gegend um den Abzweig nach Seidewinkel vom Auto aus zu erkunden.
In dem kleinen Wäldchen hocken zwei Jugendliche. Sie haben sich hinter Büschen versteckt und beobachten angespannt die Straße. Die Mopeds der Jungs stehen abseits auf einem kleinen Waldweg, bereit zur Flucht, falls etwas schiefgeht. Sie sind Freunde, haben voreinander keine Geheimnisse, gehen durch dick und dünn. Der eine wirkt etwas kindlich, der andere macht einen robusten Eindruck. Zwischen ihnen liegt eine Tasche. Darin befinden sich ein Hammer, ein sogenanntes Fäustel, ein schwerer Schraubenschlüssel, unter Fachleuten als »Franzose« bekannt, zwei Flaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit und Lappen. Die Burschen besprechen nochmals ihr Vorhaben. Beim Schmächtigeren der beiden handelt es sich um den Anrufer, der vorgegeben hat, Dirk in seiner Gewalt zu haben. Der andere hatte vor der Telefonzelle gewartet. Nach dem Telefonat waren beide in den Wald aufgebrochen in der Gewissheit, dass niemand von ihnen Notiz genommen hat.
Die Jungs gehen davon aus, dass Marlies und Detlev Bangelang gemeinsam zum verabredeten Treffpunkt kommen und in Sorge um ihr Kind das Geld bei sich haben. Sie wollen das Ehepaar töten und verbrennen. Das ist der Plan, der im Kopf des Schmalgesichts entstanden ist. Sein Freund Hans Motte soll ihm helfen, die Erwachsenen zu beseitigen, und dafür die 1000 Mark als Gaunerlohn erhalten. »Du nimmst dir mit dem Fäustel den Alten vor, ich erschlage die Frau mit dem >Franzosen<«, gibt das Bubigesicht letzte Anweisungen. »Wenn sie tot sind, schütten wir die Flaschen aus und verbrennen sie. Dann sofort die Tücher um die Schuhe wickeln und ab.«
Kurz vor 19 Uhr erblickt das Duo im Wald den B 1000. Langsam kommt der Kleinbus die Straße entlang, fährt Richtung Dorf, dreht um, kehrt zurück, wendet erneut. »Da ist ja ein anderer Mann mit drin«, flüstert Hans Motte überrascht. »Lass uns abhauen. Die haben uns bestimmt schon entdeckt«, drängt er seinen Kumpel. Der sieht sein Vorhaben ebenfalls gescheitert. Motte schnappt sich die Tasche mit den Mordwerkzeugen, und auf Umwegen brausen sie auf ihren Mopeds ungesehen nach Hoyerswerda zurück. Die Männer im B 1000 fahren mehrmals die Straße rauf und runter, warten noch einige Zeit und begeben sich schließlich nach Hause. »Es war wohl alles nur ein dummer Scherz«, hoffen sie.
So scheint es zu sein. Als Bangelang an der Wohnungstür klingelt, öffnet ihm Ehefrau Marlies sichtlich erleichtert: »Dirk ist da«, teilt sie ihrem Mann erfreut mit. Der aber ist alles andere als froh gestimmt. »Wo warst du«, herrscht der Vater seinen Sohn an. »Draußen, bin noch ein bisschen durch die Gegend gefahren«, antwortet der leise und schuldbewusst. »Du sollst dich nicht rumtreiben, sondern deine Hausaufgaben machen und lernen. So kommst du nie von deinen Scheißnoten runter«, braust der Vater auf. Auf dem Halbjahreszeugnis vor zwei Monaten standen drei Vieren. Das ist dem Jungen noch lange nicht vergessen. »Eine Woche Fernsehverbot, und jetzt mach dich in dein Zimmer«, weist Detlev Bangelang an. Mutter Marlies nickt, und der Junge trollt sich. Er knallt sich auf die Liege, schaltet den Kassettenrekorder an und hört Musik.
Zwei Tage später finden die Bangelangs ein anonymes Schreiben in ihrem Briefkasten.
Fam...
Die Erpressung am 10. April war nur eine Überprüfung.
Sie waren an dem angegebenen Ort mit einem Mann.
Sie wurden von unserem Mitglied beobachtet.
Bc«
Die Buchstaben sind aus Zeitungen ausgeschnitten, offensichtlich aus der »Jungen Welt«, der Tageszeitung der FDJ. Der Absender hat sie mit rotem Nagellack auf das Stück Papier geklebt. Die Bangelangs legen »den Wisch«, wie das Familienoberhaupt den Brief bewertet, achtlos beiseite.
Knapp drei Wochen später, am 28. April 1978. Dirk Bangelang kommt kurz vor 14 Uhr nach Hause. Er war nach der Schule noch bei seinem Freund. Der Junge geht in sein Zimmer, stellt die Schultasche neben den Schreibtisch. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern ist geschlossen. Dirk klinkt sie auf und sieht seine Mutter auf dem Bett liegen. Alles um sie herum ist voller Blut. Der Junge rennt aus der Wohnung und trifft im Haus Andrea Biedermeier. »Frau Biedermeier, mit meiner Mutter ist etwas passiert, rufen Sie einen Arzt«, bittet er sichtlich erregt. Kurz nach 14 Uhr trifft die Notärztin ein. Helfen kann sie nicht mehr. Marlies Bangelang wurde erstochen und ist schon seit Stunden tot. Um 14.25 Uhr informiert die Ärztin über den Notruf 110 die Polizei. Sie teilt den unnatürlichen Tod der Frau mit. Funkstreifenwagen rasen zu den Bangelangs. Wohnung und Haus werden abgesperrt. Polizeiposten halten Neugierige fern. Niemand darf mehr hinein oder hinaus. Eine Stunde später trifft aus Cottbus die MUK mit ihrem Chef an der Spitze vor Ort in Hoyerswerda ein. Spurensicherung und Auswertung beginnen.
Marlies Bangelang ist mit einem lilafarbenen Flanellhemd bekleidet, das vorn mit Rüschen besetzt ist. Sie trägt einen weißen Schlüpfer. Alles ist voller Blut. Der Kopf ist mit dem Schlafanzug ihres Mannes bedeckt. Sie liegt auf der linken Seite. Gesicht, Hals und Brustkorb weisen mehrere Stichwunden auf. Die Gerichtsmediziner an der Medizinischen Akademie in Dresden zählen später bei der Obduktion der Leiche fünf Stichverletzungen im Kopf-Hals-Bereich, darunter einen Mundstich, dessen Wundkanal nach unten bis an das Brustfell reicht. Auch die Verletzungen am Hals und im Brustkorb sind dramatisch. Rippenknorpel und selbst Knochen sind durchtrennt. Die Stiche müssen mit einem spitzen, scharfen Werkzeug, wahrscheinlich einem Messer von mindestens zehn Zentimeter Klingenlänge mit erheblicher Wucht ausgeführt worden sein. Der Täter hat dem Opfer zuerst in den Mund und in den Hals und später in den Brustkorb gestochen, stellen die Ärzte fest.
Gründlich durchsuchen die Kriminalisten Wohnung und Keller der Familie. Im Korridor finden sie ein Stück Papier, das auffällig offen daliegt. In ausgeschnittenen und aufgeklebten Buchstaben steht darauf nur ein Satz:
Du kommst auch noch dran
Der Zettel ist von gleicher Machart wie das anonyme Schreiben, das bei den Bangelangs zwei Tage nach der angeblichen Entführung von Dirk im Briefkasten lag und das der Ehemann, der von der Tat sichtlich geschockt ist, der Polizei jetzt übergeben hat.
Der Ermittlungsapparat kommt auf Touren. Vornan stehen Vernehmungen der unmittelbaren Angehörigen, von Ehemann Detlev, Tochter Ilona und Sohn Dirk. Bewohner des Hauses werden befragt, ob sie verdächtige Personen vor dem Haus oder darin gesehen oder etwas in der Tatwohnung gehört haben.
Der wichtigste Zeuge ist zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen der 15-jährige Dirk. Er hat das Opfer als letzter lebend gesehen, und er hat es tot gefunden.
Um 16 Uhr beginnt seine Vernehmung. Behutsam gehen die Kriminalisten vor. Der Junge soll zunächst den Tagesablauf schildern. Ruhig und mit leiser Stimme berichtet er, dass seine Mutter noch schlief, weil sie zum Friseur gehen wollte und deshalb nicht so früh zur Arbeit musste. Er habe sich in der Küche seine Schulbrote geschmiert und sei wie immer um 6.45 Uhr aus dem Haus gegangen. Nach Unterrichtsschluss um 13 Uhr habe er noch einen Freund besucht. Die Kriminalisten fragen nach dessen Namen und Anschrift. Sofort macht sich ein Polizist auf den Weg. Unterdessen erzählt Dirk weiter. Daheim angekommen habe er seine Mutter im Schlafzimmer erstochen aufgefunden und dann Frau Biedermeier gebeten, den Notarzt zu rufen.
Der Jugendliche spricht in kurzen Sätzen und verzichtet auf Details im Tagesablauf. Die Vernehmer haken nach, wollen wissen, welchen Weg er zur Schule genommen hat, ob er Klassenkameraden begegnet ist, ob es Zwischenfälle in der Schule gab. Sie erkundigen sich, woher die Kratzwunden in seinem Gesicht und auf dem rechten Unterarm stammen, die deutlich zu sehen und offensichtlich noch frisch sind. Dirk beantwortet die zielgerichteten Fragen mit knappen Worten. Er macht angesichts des Todes der Mutter einen erstaunlich gefassten Eindruck. Die erfahrenen Kriminalisten der MUK erkennen, dass der Junge etwas verbirgt. Mehrfach wischt er sich die schweißnassen Handflächen an der Hose ab.
Eine Stunde ist seit Beginn der Befragung vergangen. Dirk spürt die Skepsis bei den Polizisten in Zivil. Er berichtet nun, was sich wirklich zugetragen hat und schreibt es auf Verlangen der Kriminalisten auf. Er betitelt seinen Bericht mit:
Wahrheit über Tod meiner Mutter
Ich wurde durch Klingeln aus dem Schlaf gerissen! Um die Tür zu öffnen, musste ich erst meinen Schlüssel aus meiner Jacke holen, die bei mir im Zimmer hing! Ich öffnete die Tür und vor dieser standen zwei junge Männer im Alter von 18 bis 20 Jahren. Es kann sein, dass der jüngere dieser beiden derjenige war, der mich am 27.4. vor zwei Wochen angehalten hatte und mich verfolgte (ich musste rennen)! Der ältere kam herein und hielt meinen Mund zu. Er hatte Handschuhe an. Der andere machte die Tür zu und schloss einmal mit dem Schlüssel herum. Sie brachten mich in mein Zimmer, und der jüngere blieb bei mir. Der andere machte beide Kinderzimmertüren zu. Nach einer Weile kam er wieder ins Zimmer, verband mir die Augen und führte mich vorsieh hin. Die Kratzer auf Gesicht und Händen sind entweder von ihnen, oder sie haben mich mit den Nägeln meiner Mutter verletzt. Als sie mir die Augenbinde abnahmen, stand ich mit ihnen im Flur, ich sollte die Tür wieder zuschließen, und falls ich etwas »ausquatschen« sollte, ginge es mir genauso wie meiner Mutter! Beim Schließen der Tür sah ich noch, wie sie sich bückten und schwarzweiß bzw. grau-weiß gestreifte Tücher von den Schuhen entfernten. Sie sagten noch, ich sollte »es« erst am Nachmittag melden. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, und ich sah meine Mutter dort im Bett meines Vaters liegen. Ich war voller Blut an Gesicht und Armen. Ich wusch es mit meinem Lappen und kaltem Wasser ab.
An dieser Stelle wird die Vernehmung von Dirk Bangelang unterbrochen. Die Mitglieder der MUK tragen die Ergebnisse der bisherigen Spurensicherung und der Befragungen zusammen. Stammt der Zettel von den beiden Männern, die nach Angaben des Sohnes seine Mutter getötet haben? Welches Motiv gibt es? Haben Hausbewohner Verdächtiges bemerkt? Hat Familie Bangelang Feinde? Warum wurde nur die Frau getötet? Existiert ein Geliebter? Was hat die Hausdurchsuchung ans Licht befördert?
Interessant ist ein Schulheft, auf das die Polizei im Zimmer von Dirk gestoßen ist. Darin ist eine »Aufstellung von Sachen und Gegenständen enthalten, die man benötigt, um in der heutigen Zeit rowdyhafte Handlungen zu begehen«. Unter anderem ist von einem Banküberfall mit einer größeren Gruppe die Rede, für die man Tücher und Masken benötigt und Benzin, um nach dem Muster des Films »Petroleum Miezen« die Spuren des Überfalls zu vertuschen. Im Keller werden in einer Tasche zwei Flaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit, zwei Hämmer, ein Beil, ein schwerer Schraubenschlüssel und ein gelber Lappen sichergestellt. Auch das Ergebnis der Befragung des Freundes von Dirk liegt vor. Es ist Hans Motte. Was er berichtet, ist brisant.
Um 22.30 Uhr des Tattages wird die Vernehmung von Dirk Bangelang fortgesetzt. Erneut soll er den Tagesablauf schildern, was er voller Gelassenheit macht. Auch bei der Wiedergabe der Umstände des Mordes durch die beiden Unbekannten gibt es nicht einen Moment, in dem er um die tote Mutter weint. Das Heft mit der merkwürdigen Auflistung bezeichnet er als »Quatsch«, den er sich zusammengesponnen habe. Als ihm die Kriminalisten schließlich vorhalten, dass sein schriftliches Geständnis nicht stimmt, wird der Junge fahl im Gesicht, und es sind Ansätze von Schluchzen zu vernehmen. Dirk Bangelang verschränkt die Arme auf dem Schreibtisch, vor dem er sitzt, und verbirgt seinen Kopf darin. Zwei bis drei Minuten verharrt er so, dann gesteht der Sohn: »Ich habe Mutti getötet!«
Stockend und immer wieder mitten im Satz abbrechend, schildert er, was sich am frühen Morgen vor Beginn der Schule abgespielt hat: Wie an jedem Schultag, klingelt auch an diesem Freitag der Wecker bei Dirk kurz vor 6 Uhr. Er geht ins Schlafzimmer, weckt seine Mutter und fragt: »Mutti, kann ich 40 Mark bekommen?« Die will wissen, wofür. »Ich möchte zwei
Kassetten kaufen für neue Musik«, antwortet Dirk. Marlies Bangelang schlägt ihrem Sohn den Wunsch unmissverständlich ab. »Du hast genug Kassetten. Lösch die alten, dann kannst du sie wieder bespielen. Du hast kaum erst 20 Mark von mir bekommen. Jetzt ist Schluss. Das ist mein letztes Wort«, sagt sie, und dreht sich auf die Seite.
Erstmals seit Jahren begehrt der Junge ihr gegenüber energisch auf. Bislang hat Dirk sich immer den Meinungen und Weisungen seiner Eltern gefügt, hat alles widerspruchslos hingenommen und in sich hineingefressen. Doch jetzt ist er wütend. »Nie darf ich machen, was ich will. Ihr verbietet mir alles, immer soll ich nur an die Schule denken«, bricht die ganze Empörung aus dem Jugendlichen heraus. Er fühlt sich von den Eltern grundsätzlich missverstanden, ist überzeugt davon, dass er viel weniger darf und sich leisten kann als andere Jugendliche in seinem Alter. Dirk verlässt schimpfend das Schlafgemach der Eltern und legt sich in seinem Zimmer auf die Liege, um sich abzureagieren. Bisher ist ihm das noch immer gelungen. Diesmal nicht. Zu sicher war er sich, dass die Mutter das Geld rausrücken würde, wenn der Vater nicht zu Hause ist. Ihm schießt alles durch den Kopf, was er in letzter Zeit an vermeintlichen Ungerechtigkeiten ertragen musste: »Ich darf nicht mehr mit dem Moped fahren. Fernsehverbot habe ich auch schon wieder von Vati bekommen. Alles dreht sich immer nur um die blöde Schule«, wirbeln ihm die Gedanken herum.
Der Blick des erbosten Jungen bleibt an der Truhe hängen, die neben der Liege steht und in der er verschiedene Dinge aufbewahrt. »Da liegt doch noch das Messer drin, mit dem Vati Kaninchen schlachtet und das ich genommen habe, um Elektrokabel durchzuschneiden«, durchzuckt es ihn. Auch ein paar Lederhandschuhe befinden sich in der Kiste, erinnert sich Dirk. Er steht auf, sucht beides heraus, zieht sich die schwarzen Handschuhe über und greift sich das Messer.
»Mutti hat vor allem Angst, die werde ich jetzt richtig erschrecken«, nimmt er sich vor und hofft, dass die Mutter doch noch wegen der 40 Mark für die Kassetten einlenkt. Er hat vor, mit einem Satz durch die zum Teil geöffnete Schlafzimmertür zu springen und mit dem Messer zu drohen.
Im Zimmer ist es inzwischen hell, die Gardinen vor dem Fenster sind nicht zugezogen. Dirk sieht vom Korridor aus, dass die Mutter wieder eingeschlafen ist, und das nach dem Streit von vorhin! Sein Zorn wächst und wächst. »Ich ärgere mich über die Absage mit dem Geld und die schläft schon wieder, als geht sie das alles nichts an«, empört er sich innerlich. »Jetzt ist das Maß voll. Ich bringe sie um, ich ersteche sie.«
Dirk geht leise zum Doppelbett seiner Eltern, tut vorsichtshalber so, als ob er aus dem Schrank Wäsche herausnehmen will. Die Mutter rührt sich nicht. Sie hat das Deckbett bis über die Schultern gezogen und liegt eingekuschelt auf der rechten Seite. Er springt auf das Bett des Vaters, hält die Schlafende mit dem linken Arm samt Bettdecke fest und stößt ihr das Messer in den Hals. Marlies Bangelang schreckt hoch, dreht sich auf den Rücken und wehrt sich. Dabei rutscht das Federbett herunter bis fast zum Fußende. Mit einer Hand hält sie ihren Sohn am rechten Handgelenk fest, mit der anderen kratzt sie ihm die Wange auf. »Dirk, Dirk«, ruft sie, doch der lässt nicht von ihr ab, sondern sticht wieder und wieder zu, bis sie sich nicht mehr rührt. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ein Anblick, den Dirk nicht ertragen kann. Er deckt ihr Gesicht mit dem Schlafanzug des Vaters zu, geht hinaus, klinkt die Tür ein und läuft, das Messer noch immer in der rechten Hand, ins Bad. Dort legt er es ins Waschbecken, dreht das kalte Wasser auf und reinigt Klinge und Schaft. Beim Blick in den Spiegel zuckt Dirk zusammen. Gesicht, Oberkörper und Arme sowie der Schlafanzug sind voller Blut. Er wäscht sich gründlich und steckt das Messer, die Lederhandschuhe und den Schlafanzug in einen Plastikbeutel. Danach geht er in die Küche, schmiert Pausenbrote für die Schule, isst eine Kleinigkeit und begibt sich wieder ins Bad zum Zähneputzen. Er zieht sich in seinem Zimmer vollständig an, schnappt die Schultasche sowie den Beutel und verlässt um 6.45 Uhr die Wohnung. Auf dem Weg zur Schule verschwinden Beutel samt Inhalt in einem der Müllcontainer hinter den Häusern. Trotz intensiver Suche wird dieser nie gefunden.
Dirk nimmt wie immer eher zurückhaltend am Unterricht teil. Nichts ist ihm anzumerken von der Tat. Seiner Banknachbarin Monika fällt lediglich auf, dass er auf der Wange eine frische Kratzspur hat. Auf ihre Frage antwortet Dirk unwirsch: »Das geht dich überhaupt nichts an.«
Um 13.05 Uhr läutet die Schulglocke die letzte Stunde für die neunte Klasse ab. Der 15-Jährige geht aber nicht auf direktem Weg nach Hause, sondern zunächst zu seinem Freund Hans Motte. Ihm gesteht er den Mord an seiner Mutter. Bei der Vernehmung am späten Nachmittag des Tattages sagt Motte laut Protokoll, das von ihm unterzeichnet ist, Folgendes aus:
»Am 28.4. gegen 13.15 Uhr kam ... zu mir in die Wohnung und erzählte mir, dass er seine Mutter umgebracht habe. Sie hätte geschrien wie ein kleines Kind, und er habe seine Unterwäsche unterwegs auf dem Schulweg verloren. Er kann auch gesagt haben, dass er seinen Schlafanzug verloren hat. Seine Mutter wäre noch zu Hause gewesen, weil sie zum Friseur wollte. Dieses sagte er mir in ganz ruhiger Weise. Er war nicht ein bisschen nervös und schilderte diesen Sachverhalt ganz ruhig. Er hatte sich ungefähr eine Viertelstunde bei mir aufgehalten. Er sagte mir auch, dass er seine Mutter mit dem Messer erstochen hat...«
Hans Motte glaubt seinem Freund nicht. »Das hast du nie und nimmer getan«, sagt er und verbannt das Geständnis in das Reich der Spinnerei. Dass Dirk schon länger mit dem Gedanken spielt, seine Eltern zu töten, weiß Hans Motte sehr wohl. Am 10. April 1978 hat er ihn bei der vorgetäuschten Entführung von diesem Vorhaben abbringen können. Dirk war es, der die Idee hatte, seine Eltern in den Wald bei Seidewinkel zu locken, um sie umzubringen, berichtet Motte der Polizei. Er habe nur mitgemacht, um zu verhindern, dass der Kumpel seine Eltern wirklich tötet. Gemeinsam hätten sie auch die beiden anonymen Zettel mit den ausgeschnittenen Buchstaben angefertigt, mit denen Dirk seinen Eltern Angst machen wollte.
Kripo und Staatsanwaltschaft glauben ihm. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass er jemals die Absicht hatte, seinem Freund bei der Verwirklichung von Mordplänen zu helfen. Ermittlungen gegen Hans Motte werden ohne jegliche Zweifel an seiner Unschuld eingestellt.
Was hat sich im Innersten von Dirk Bangelang vollzogen bis zu jener schrecklichen Tat, die ihm niemand zugetraut hätte? In einer Einschätzung seiner Schule ist von einem politisch zuverlässigen Elternhaus die Rede, was sich auch in Standpunkten von Dirk widergespiegelt hat. Er wollte Offizier der Nationalen Volksarmee werden, hat aber den Gesundheitstest nicht bestanden. Ihm werden gute bis befriedigende Leistungen, schnelle und gründliche Auffassungsgabe, gut ausgebildetes und logisches Denkvermögen, handwerkliches Geschick und technisches Wissen und Können bescheinigt. In der Reparaturbrigade der Schule hat er sich als besonders tüchtig erwiesen. Im Klassenkollektiv ist er geachtet und beliebt, ist nie niedergeschlagen oder schüchtern, niemals jähzornig, brutal, unbeherrscht oder gewalttätig aufgefallen. Lehrern gegenüber trat Dirk stets höflich und freundlich gegenüber. Dann aber die Einschränkung: In letzter Zeit ist er mehrfach unpünktlich gewesen und hat nicht mehr so regelmäßig wie früher an außerschulischen Veranstaltungen teilgenommen. Ein Leistungsabfall war unverkennbar.
Mehr Einblick in das Seelenleben des zur Tatzeit 15-Jährigen gibt eine Zeichnung, die im Zimmer des Beschuldigten gefunden wird. Sie stammt aus der Zeit des sechsten Schuljahres. Entstanden ist sie im Zusammenhang mit dem Thema »Verantwortliche Tätigkeit der Eltern«. Auf dieser Zeichnung hat Dirk überdimensional groß und stark seine Mutter dargestellt. Sie trägt einen Stahlhelm auf dem Kopf, hat ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett in der Hand und gibt einen Befehl. Er selbst ist extrem klein gezeichnet, ein Zwerg eben, der in strammer Haltung seine Meldung macht.
Der psychologische Befund, der nach eingehender Untersuchung in der Medizinischen Akademie in Dresden angefertigt wurde, spricht eine deutliche Sprache. Danach hat dem Sohn in den letzten Jahren die zunehmende Gängelei zu Hause geschadet. Er musste daheim sein, wenn die Eltern von der Arbeit kamen, »um Aufträge anzunehmen«, wie er es gegenüber der Psychologin ausdrückte. Bevor er auf die Straße gehen konnte, musste er Rede und Antwort stehen, ob alles »Befohlene« abgearbeitet war. Er durfte weniger allein entscheiden als Alterskameraden. Ausgesprochenen Strafen wie Fernseh- und Mopedfahrverbot hat er nie widersprochen aus Angst, dass diese dann noch erhöht würden. Je nachdem wie der Arbeitstag des Vaters war, sei seine Laune gewesen. Dirk und seine beiden Schwestern seien meist froh gewesen, wenn der Vater nicht zu Hause war. Dirk habe sich sogar seit etwa einem Jahr gewünscht, dass die Eltern tödlich verunglücken. Zärtlichkeit mit der Mutter oder dem Vater hat es nach Einschätzung des Sohnes nicht gegeben. Er hat sie auch nicht vermisst, mehr Kameradschaft und Zuwendung bei der Lösung familiärer Konflikte dagegen schon. Seit Januar 1978 habe er den Vorsatz gehabt, die Eltern zu töten. Dabei ging er nach Einschätzung der Gutachter ohne große Aufregung an die Planung der verschiedenen Etappen zur Verwirklichung seiner Tötungsabsicht. Hass auf die Eltern hat sich angesichts ihrer teils fragwürdigen Erziehungspraktiken angestaut, die geprägt waren von Inkonsequenz der Mutter und dogmatischorthodoxen Erziehungsmethoden des patriarchalischen Vaters. Die Kühle des Familienlebens in dem nach außen hin gut funktionierenden Verband beschreibt Dirk Bangelang gegenüber den Gutachtern so: »Ich habe meine Eltern nicht geliebt, ich habe auch keine Liebe vonseiten meiner Eltern gespürt.«
Das Bezirksgericht Cottbus verhandelt an zwei Tagen im November 1978 die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Dirk Bangelang wegen Mordes und vorbereiteten Mordes in Tateinheit mit versuchter Erpressung. Es verhängt gemäß dem Antrag des Staatsanwaltes 15 Jahre Freiheitsentzug. Es ist die für Jugendliche im Gesetz festgelegte Höchststrafe.
In der Urteilsbegründung heißt es:
»Sein ganzes Handeln war nur auf Tötung gerichtet. (...)
Der Angeklagte hat in besonders verabscheuungswürdiger Weise mit einer kaum zu überbietenden Brutalität seine Mutter, die ihm das Leben geschenkt und es behütet hat, ausgelöscht. Er hat über seine Familie einen nicht wieder zu erlangenden Verlust und tiefe Trauer gebracht. Sein ganzes Handeln offenbart einen ausgeprägten Vernichtungswillen, wenn er selbst erklärt: >Sie sollte unbedingt tot sein und weil sie noch mit den Beinen zitterte, habe ich noch zweimal in den Bauch gestochen. Ich war beruhigt, als sie sich nicht mehr regte.«<
Das Oberste Gericht der DDR bestätigt im Januar 1979 das Urteil. Die Verteidigung hatte Berufung eingelegt mit der Begründung, die mangelnde sittliche Reife des Angeklagten sei nicht genügend beachtet worden.
Dirk Bangelang wurde Ende September 1990 auf Bewährung aus der Justizvollzugsanstalt Brandenburg entlassen.