DIE RAUBZÜGE DES FALK GRUNDE

Carola Bellmann und Falk Grunde kennen sich gut. Sie wohnen in Hoyerswerda im Wohnkomplex IX im selben Hauseingang und besuchen die gleiche Polytechnische Oberschule. Allerdings lernt das Mädchen bereits in der neunten Klasse, der Junge hat erst Klassenstufe sieben erreicht. Ihr fällt das Lernen leicht, Falk dagegen hat Mühe, die Klassenziele zu erreichen. Zweimal, im zweiten und siebten Schuljahr, hat er es nicht geschafft. Die Wurzeln für das Zurückbleiben hinter den anderen liegen vor allem in der Familie. Die Mutter trägt die Hauptlast bei der Erziehung von Falk und seiner jüngeren Schwester. Sie ist eher nachsichtig, wo Konsequenz angebracht wäre, verwöhnt die Kinder, ohne ihnen auch häusliche Pflichten aufzuerlegen. Der Vater hält sich zurück, nimmt kaum Einfluss auf die Entwicklung von Falk. Der Sohn ist vier Jahre alt, als der Vater seinen Alkoholkonsum nicht mehr steuern kann, immer öfter und immer mehr trinkt. Die Spannungen zwischen den Eltern bleiben den Kindern nicht verborgen. Falk fühlt sich hin-und hergerissen. Er liebt seine Mutter, hat aber auch zum Vater ein gutes Verhältnis, obwohl der, wenn er sich in die Kindererziehung einmischt, autoritär auftritt und von Falk nicht viel hält. Der ist ihm als Junge viel zu weich, nicht fleißig genug und ohne Durchhaltevermögen. Mit elf Jahren versucht Falk, sich mit Stadtgas das Leben zu nehmen. Es ist eine Panikreaktion, nachdem er seinen Vater entdeckt hatte, der betrunken vor dem Gasherd lag.

Schon im Kindergarten merken die Erzieherinnen, dass es Falk schwerer hat als die gleichaltrigen Mädchen und Jungen in seiner Gruppe. Er ist nervös und fahrig und leistet in der vorschulischen Ausbildung viel weniger als die anderen Kinder. In der Schule verstärken sich die Symptome. Falk lässt sich leicht ablenken. Lesen und Schreiben fallen ihm schwer, im Kopfrechnen sind die Klassenkameraden immer schneller als er, sich Gedichte oder Liedtexte zu merken, überfordert ihn. Oft wirkt der Junge abwesend, ist in Gedanken ganz woanders. Hausaufgaben erledigt er nur widerstrebend und unvollständig, schlechte Noten sind ihm egal. Impulse zum Lernen, die er so dringend benötigt, bekommt er von den Eltern nicht. Ermah nungen der Lehrer nerven ihn, er reagiert entweder gar nicht oder ist beleidigt. Aufmerksamkeit und Anerkennung im Klassenkollektiv versucht er durch extremes Verhalten zu erlangen. Er verlässt einfach den Unterricht, beschimpft Lehrer, verhält sich undiszipliniert. Hobbys hat Falk nicht. Er gehört keiner Sportgemeinschaft an, beteiligt sich auch nicht an außerschulischen Arbeitsgemeinschaften. Matchboxautos sind seine einzige Leidenschaft, doch die kosten Geld, das ihm fehlt. Nachmittags »vergammelt« Falk seine Freizeit in einer Clique von Jungs. Viele von ihnen sind jünger als Falk, ein paar gleichaltrig. Sie beschmieren Fahrstühle in den Hochhäusern, randalieren auf Spielplätzen, rauchen und belästigen Mädchen. In der Clique fühlt sich Falk anerkannt, obwohl er klein und schmächtig ist. In der Gruppe gibt er sich stark, ohne sie ist er ein eher ängstlicher Typ. Gerät der Junge in unbekannte Situationen, schlottern ihm die Knie und die Hände zittern. Er fürchtet sich im Dunkeln, vor dem Arzt, vor dem Tod, träumt, dass er von Verbrechern verfolgt wird, dass die Mutter stirbt, dass er aus großer Höhe herabstürzt. Dann betet der streng christlich erzogene Junge und bittet Gott um Beistand für Mutti, Vati, für sich und seine Schwester, zu der er im Alltag kein besonders inniges Verhältnis pflegt. Viel lieber hätte er einen großen Bruder, zu dem er aufblicken kann und der ihn beschützt.

Daheim eskalieren die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern, die Ehe wird im April 1984 geschieden. Dass der Vater aufgrund des Wohnraummangels nach wie vor im Haushalt lebt, freut Falk. Dennoch werfen ihn die Konflikte vollends aus der Bahn.

Im August 1983 lauert der damals 14-Jährige in einem Wald zwischen Hoyerswerda und Seidewinkel einem 16-jährigem

Mädchen auf. Er will es vergewaltigen, so, wie er es Tage zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Horror- und Gewaltfilme gefallen dem Jugendlichen, die sind spannend und aufregend. Falk ver-folgt das Mädchen und schlägt ihm mit einem dicken Knüppel auf den Hinterkopf. Durch den Schlag, so sein Tatplan, fällt es bewusstlos vom Fahrrad, und er kann dann an der Wehrlosen Geschlechtsverkehr durchführen. Wie das geht, hat er sich auf Pornobildern angeschaut. Intimen Kontakt zu einem Mädchen hatte er noch nie, doch zum Sex fühlt sich das schmächtig wirkende Bürschchen in der Lage.

Das Mädchen reagiert anders, als von Falk Grunde erwartet. Bs schnauzt den verdutzten Jungen an: »Spinnst du, hau ab, sonst knall ich dir eine«, steigt auf ihr Rad und fährt von dan-nen. Falk kommt ungestraft davon.

Wochen später lässt das Kindsgesicht seine Wut am helllichten Tag an einem Mädchen aus, das zur Mittagszeit auf dem Weg von der Schule nach Hause ist. Mit einer starken Kette schlägt er ihr ohne Grund in die Kniekehlen. Kurz danach wird die 13-Jährige erneut sein Opfer. Diesmal ist die Clique bei ihm. Die Jungs umringen die Schülerin auf der Wiese hinter einem Wohnblock und zerren sie zu Boden. Falk ist das noch nicht genug. Er springt ihr mit beiden Knien auf den Rücken. Grölend verfolgt die Horde das Mädchen, das sich befreien konnte und voller Angst flieht. Sie wird eingeholt, und Falk tritt ihr aus vollem Lauf heraus mit den Beinen in die Rippen.

Immer tiefer versinkt Falk Grunde im Strudel der Kriminalität. Fr braucht Geld, um mit den anderen in der Clique mithalten zu können. Von den Eltern hat er nichts zu erwarten. Die Alkoholsucht des Vaters kostet viel Geld und lässt in der Familienkasse kaum genügend zum täglichen Leben. Falk stiehlt von Mitschülern die Schlüssel zu deren Wohnungen und sucht dort nach Geld. In einem Fall lässt er 100 Mark sowie einige Matchboxautos mitgehen, in einer anderen Wohnung findet er 100 Mark Bargeld und Forumschecks im Wert von 70 Westmark. Im Intershop kauft er sich dafür Zigaretten, Süßigkeiten und vier Matchbox-Autos.

Die Beschaffung von Geld treibt Falk Grunde um. Die erfolg reich verlaufenen Einbrüche in fremden Wohnungen haben ihn mutiger werden lassen. Niemand ist ihm bisher auf die Schliche gekommen.

Am 15. Juni 1984 ergibt sich erneut eine Chance, sich schnell und leicht die Taschen zu füllen. Er sieht Carola Bellmann, die im Speiseraum der Schule gemeinsam mit Freundinnen am Tisch sitzt. Die Mädchen lassen sich das Essen schmecken und achten nicht auf die Taschen, die im Vorraum stehen. Falk kennt die Schulmappe von Carola und weiß, dass im vorderen Fach der Wohnungsschlüssel liegt. Er stiehlt ihn aus der Mappe, fährt mit dem Rad schnell zu ihr nach Hause und schließt die Wohnung der Bellmanns auf. Die Tür lässt er angelehnt, rast zur Schule zurück und steckt den Schlüssel zurück in Carolas Schulmappe. Die hat nichts bemerkt, sondern hockt noch immer mit den Mädchen am Essenstisch. Falk geht davon aus, dass die neunte Klasse noch eine weitere Stunde Unterricht hat. So bleibt ausreichend Zeit, in der Wohnung der Nachbarn nach Geld und anderen wertvollen Dingen zu suchen, die man verkaufen oder tauschen kann. Ohne Hast inspiziert Falk Küche, Schlaf- und Wohnraum, ohne etwas zu finden, was ihm gefällt. Im Zimmer von Karsten Bellmann, dem älteren Bruder von Carola, hat er schließlich Glück. Auf dem Tisch liegt eine Lohntüte mit 130 Mark. »Dafür kann ich mir die Jeanshose kaufen«, frohlockt er und steckt sich die Tüte in die Tasche. Die Hose im Exquisitgeschäft hat es ihm schon lange angetan. Im Exquisit gibt es tolle Klamotten, doch die sind in den Edelgeschäften richtig teuer. Mit solchen und ähnlichen Gedanken im Kopf und der Hoffnung auf weitere Beute widmet er sich dem Reich von Carola. Als er die Schrankwand durchsucht, geht die Wohnungstür auf. Carola ist nach Hause gekommen. Die letzte Schulstunde ist ausgefallen, und sie freut sich über die gewonnene Zeit. Sie will nur schnell die Schultasche abstellen und sich später mit Klassenkameradinnen treffen. Carola bemerkt den Dieb zunächst nicht. Als sie ahnungslos ihr Zimmer betritt, schlägt Falk ihr mit einer kunstgewerbliche Schnapsflasche, die er vom Schrank genommen hat, auf den Kopf. Durch die Wucht des Schlages fällt der Boden der Flasche ab. Carola flüchtet benommen ins Zimmer ihres Bruders. Mit dem Flaschenhals in der Hand rennt

Falk dem Mädchen nach und trifft es erneut am Kopf. Doch auch durch diese Attacke wird Carola nicht wie erhofft bewusstlos. Im Gegenteil. Sie dreht sich um, erkennt den Nachbarsjungen und schreit ihn voller Wut und Schmerz an: »Bist du verrückt geworden, hör auf, lass das sein!« Falk versetzt seinem Opfer mit dem Handballen einen Schlag gegen das Kinn, nimmt es in den »Schwitzkasten« und reißt es zu Boden. Spätestens jetzt Ist ihm klar, dass er als Dieb und Einbrecher entlarvt ist. Carola wehrt sich und versucht, den Täter von sich zu stoßen. Sie ist zu schwach. Falk greift ihr in die Haare, schlägt den Kopf mehrmals auf den Boden und würgt sein Opfer danach so lange, bis es leblos zusammensackt. Gleich darauf versucht er die roten Flecken, die das Würgen am Hals hinterlassen hat, wegzureiben. In diesem Moment stößt Carola einen Seufzer aus und röchelt. Mit aller Kraft drückt er nun den Kehlkopf zu. Er schleppt sein Opfer ins Badezimmer, um mit Wasser alle Spuren am Körper und der Bekleidung beseitigen.

Carola Bellmann ist noch nicht tot. Sie atmet, wenn auch nur schwach. Falk beschließt, sie zu ertränken. Er bugsiert das Mädchen so in die Badewanne, dass es mit dem Gesicht nach unten auf dem Abfluss liegt, und dreht beide Wasserhähne voll auf. Das Wasser steigt schnell an. Deutlich hört der Täter, wie Carola schluckt und ertrinkt.

Falk verlässt nach der Tat die Wohnung. Ihm wird langsam bewusst, was er getan, dass er Carola getötet hat. Er geht die Treppen hoch und will durch die Luke auf das Dach des Hochhauses steigen, um sich auf die Straße zu stürzen. Die Luke klemmt und lässt sich keinen Zentimeter öffnen. Er gibt auf und geht hinunter in die elterliche Wohnung. Der Mutter, die gerade beim Wäschewaschen ist, fällt auf, dass ihr Junge ungewöhnlich blass ist. »Ist dir nicht gut? Willst du dich hinlegen«, fragt sie besorgt. Falk wiegelt ab: »Wieso blass? Mit mir ist nichts.« Die Mutter verlangt nach seinen Sachen, um sie mit in die Waschmaschine zu stecken. Beim Ausziehen bemerkt Falk die Lohntüte mit den 130 Mark in der Gesäßtasche. Die hatte er glatt vergessen. Heimlich nimmt er sie heraus und wirft der Mutter Hose und Hemd zu. Das Geld versteckt er in einem Lüftungsschacht des Hauses, die Lohntüte wandert in den Müllcontainer.

Falk besucht einen Freund, mit dem er kurze Zeit an dessen Fahrrad bastelt . Später nimmt er sich das Minirad seiner Mutter und fährt in ein Waldstück am Ortsausgang von Hoyerswerda. Er will einen Strommast erklimmen und sich das Leben nehmen. Aber Falk Grunde ist zu feige.

Als er wieder daheim eintrifft, ist im Haus der Teufel los. Karsten Bellmann hat seine Schwester gefunden und die Polizei verständigt. Kriminaltechniker sichern die Spuren in der Wohnung, die Ermittler der Hoyerswerdaer Kripo und der Cottbuser MUK befragen die Hausbewohner. Auch Falk Grunde muss erklären, wo er in der Zeit zwischen 12 und 13 Uhr war. Denn der Tatzeitraum ist eingegrenzt. Um 12.30 Uhr hatte sich Carola von Freundinnen vor der Haustür verabschiedet, um 12.50 Uhr hat Karsten Bellmann seine Schwester gefunden. »Ich habe Carola im Haus getroffen und bin mit ihr kurz rauf gegangen, weil sie mir ein Bild zeigen sollte. Dann bin ich sofort wieder runter. Mehr weiß ich nicht«, erzählt er den Kriminalisten. Mit der Lüge will er vorbeugen, falls doch Spuren von ihm an Carola oder in der Wohnung gesichert werden. Und in der Tat gibt es solche. In Falks Schuhen entdecken die Kripo-Experten zwei Glaspartikel, die von der verzierten Flasche stammen, mit der Grunde auf sein Opfer eingeschlagen hatte. Das Licht bricht sich in den Splittern auf die gleiche Weise wie im Glas der Flasche. An seiner Jeansjacke finden sich vier Polyesterfasern, die eindeutig von Carolas Blouson stammen.

Falk Grunde wird verhaftet und in die Untersuchungshaftanstalt nach Cottbus gebracht. Sechs Tage nach der Tat legt er ein umfassendes Geständnis ab und gibt auch die zuvor begangenen Straftaten zu, die der Polizei zum Teil unbekannt sind.

Die Staatsanwaltschaft klagt im November 1984 den zur Tatzeit 15-jährigen Schüler wegen Mordes, schwerer Körperverletzung, versuchter Vergewaltigung, Rowdytums und mehrfachen Diebstahls an. Bei der gerichtspsychologischen Untersuchung an der Medizinischen Akademie in Dresden stellen die Gutachter fest, dass Falk Grunde zwar in seiner Persönlichkeit-Entwicklung

zurückgeblieben ist, jedoch mindestens die Reife eines 14-Jährigen besitzt und damit für seine Taten voll verantwortlich ist.

Der erste Strafsenat des Bezirksgerichtes Cottbus verhandelt im Dezember 1984 den Fall. Es verurteilt Falk Grunde wegen Mordes und der weiteren angeklagten Straftaten zu 15 Jahren Freiheitsentzug. Das Gericht sieht keine Möglichkeit, die Höchststrafe abzumildern. Die ungünstigen Bedingungen in der Familie hätten keinerlei Beziehungen zu dem Verbrechen, heißt es dazu in der Urteilsbegründung. »Rohheit und Brutalität hat der Angeklagte im Elternhaus nicht erfahren.«

Diese Auffassung teilt das Oberste Gericht nicht. Es erkennt zwar auch, dass der Angeklagte kaltblütig und brutal das Leben der 14-jährigen Carola Bellmann ausgelöscht und unendliches Leid über die ganze Familie gebracht hat. Carolas Vater beispielsweise ist wochenlang in ärztlicher Behandlung und wegen Arbeitsunfähigkeit krankgeschrieben. Dennoch müsse die schwere Kindheit von Falk Grunde berücksichtigt werden. Das Oberste Gericht reduziert die Strafe um ein Jahr auf 14 Jahre. Bereits Ende Dezember 1990 wird der inzwischen 22 Jahre alte Grunde zur Bewährung aus der Haft entlassen. Grundlage der Entscheidung ist das mildere Jugendstrafrecht der BRD, das gemäß Einigungsvertrag anzuwenden ist.

Fünf Jahre nach der Haftentlassung wird Falk Grundmann erneut straffällig. Im Juni 1995 wird er wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe zieht Grunde in das Bundesland Niedersachsen.